Ein verbranntes Kind scheut das Feuer
Das Quäntchen zuviel. Immer ist es dieser eine letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Steht nicht geschrieben, dass Gott dem Menschen gerade so viel an Last und Leid auferlegt, wie er zu tragen in der Lage ist? Warum macht er gerade bei mir die Ausnahmen, die seine goldenen Regel bestätigt? Denn eins ist gewiss: Ich ertrage es nicht.
Stets werde ich über meine Kraft geprüft und versucht. Es ist ungeheuerlich, was ich bis zu diesem Punkt erdulden muss, es kostet mich alle Beherrschung und Selbstüberwindung, die ich aufzubringen willens und fähig bin, bis zum äußersten Punkt bin ich gefordert, angespannt und gequält, mit eisernem Willen bleibe ich stehen, wo ich hingestellt bin und tue alles Erdenkliche, um nicht zu fallen, bezwinge den Kummer, den Schmerz, die Not und die Angst, überwinde mich und alles Menschenmögliche, das es zu überwinden gilt, um endlich jenen Punkt zu erreichen, jenes Ziel, an dem alles erreicht, überstanden und erlöst ist, ja gut wird, friedlich und schön, an dem ich Aufatmen kann, loslassen, seufzen und ausruhen.
Und dann ist es da, das Menetekel, wie ein Fluch, ein unentrinnbares Los, jenes Quäntchen unvorhergesehenes Leid, ein kleines Missgeschick vielleicht, eine unbedeutende Verzögerung, ein Unglück oder einfach nur eine Widrigkeit, die zu besiegen mich am Anfang des Weges ein Augenzwinkern und Achselzucken gekostet hätte, nun aber mit vernichtender Wucht alle bisherigen Kraftanstrengungen und alle Mühsal vergeblich werden lässt und mich zerschmettert, auslöscht, niederstreckt.
Immer dann, wenn jene völlige Erschöpfung eintritt, dieses Ich kann nicht mehr, wie gut, dass es überstanden ist, stellt sich heraus, dass es länger dauern, schwieriger werden, anhalten wird. Und alles was bleibt ist der endgültige Zusammenbruch.
Alle Kräfte sind aufgebraucht, die letzten Reserven verbrannt, der letzte Tropfen Wasser auf meiner Zunge verdampft, zu Tode erschöpft erreiche ich nach entsetzlicher Wanderung durch die Wüste das vermeintliche Ziel. Doch dieses verhöhnt mich mit grinsender Grausamkeit, das Wasserloch ist leer, die rettende Straße fortgespült, das bergende Lager verlassen. Und alles, was mir noch übrigbleibt, ist mich hinzulegen und ergeben auf den Tod zu warten.
Die Behüteten sagen, ich solle dem Leben trauen und wenn nötig auf ein Wunder warten, und weiß Gott das tue ich. Aber das Leben betrügt mich und das Wunder geschieht nicht, bis ich allen Glauben an das Leben verloren habe und alle Hoffnung auf ein Wunder aufgegeben, mich in mein Schicksal füge und aufgebe.
Erst wenn ich endlich gestorben bin, ja tot, zwingen sie mich ins Dasein zurück, mit unerbittlicher Beharrlichkeit nötigen sie mich erneut zu leben. Ein Leben, das ich hassen muss in der Gewissheit, seiner nie mehr froh werden zu können.
So war es immer und oft genug, um mich daran zu gewöhnen. Noch während ich also ums Überleben kämpfte, schloss ich damit ab, noch während ich rang, gab ich bereits auf. Das Wasserloch ist leer, was auch sonst? Die Straße verschwunden, na klar. Das Lager verlassen, logisch. Langsam aber sicher gewöhnte ich mich an die Vergeblichkeit des Seins ebenso wie ans Sterben. Und lebte gut damit.
Doch diesmal war alles anders. Ich war nicht allein. Zum ersten mal in meinem Leben war ich nicht allein. Das Alleinsein war zeitlebens meine einzige Erfahrungstatsache, meine empirische Basis, ich kannte sonst nichts. Ganz gleich mit wem ich zusammenlebte und wie lange meine Tage verbrachte, im Innern meines Herzens war ich stets vollkommen allein, unverstanden und verlassen.
Im Laufe der Zeit war mir die Einsamkeit zum Ort der Sicherheit geworden, zur Stätte der Zuflucht und Ruhe, in der ich in scheinbar trauter Zweisamkeit lebend- mein eigenes verborgenes Leben lebte, im Geheimen und Unerkannten. Denn hätte ich dieses mein wahres Wesen, ja mein Ich, offenbart, es hätte mich dasselbe gekostet.
Nun aber war ein Mensch in dieses mein Refugium eingedrungen, ein Gegenüber, das mich durchschauen konnte, weil ich mich ihm offenbart und geöffnet hatte. Ich war der Liebe begegnet, der einzigen, großen und wahren, deren Erfüllung unendliches Glück bedeutet und deren Nichterfüllung unweigerlich den Tod.
Nicht der Liebe meines Lebens, sondern meinem Leben selbst, dem Menschen, in dem ich mich vollendet wiederfand und erst vollendet und vollständig wurde, der Liebe an sich, die ewig ist und immer und für immer sein will.
Ich war meiner Frau begegnet, die wahrhaftig meine Frau ist, für mich geschaffen und geboren, so wie ich für sie geschaffen und geboren bin. Meiner Frau, ohne die ein Weiterleben nicht undenkbar, sondern schlicht unmöglich ist, weil ich im tiefsten Wesenskern meines Selbst mit ihr verschmolz im ersten Augenblick der Begegnung.
Ich hatte den Glauben an ihre Existenz längst aufgegeben, gründlich und endgültig, als ich dies Wunder erfahren durfte, ja als es mir widerfuhr ohne meinen Willen und wider alle Erwartung und Erfahrung.
Was aber durchfährt den Todgeweihten, wenn er unerwartet das Leben schmeckt? Was kriecht aus seinem vergessenen Winkel hervor, erst leise und raunend, dann murmelnd und flüsternd, zuletzt mit klarer schneidender Sprache und gellenden Schreien? Es ist die Angst, das Gefundene, das nie erahnte und längst nicht mehr erhoffte Glück, das er geschmeckt hat und nun für immer schmecken will, wieder zu verlieren.
Was seinen endgültigen Tod bedeuten würde, nur ist es nunmehr kein gelassenes ruhiges Sterben mehr, sondern ein Verrecken in der unsäglichen Qual nackter und vollkommener Verzweiflung, das ihm bevorsteht, da er den Sinn seines Lebens gefunden und seine Bestimmung erlangt, nur um sie endgültig zu verlieren.
Mächtig ergriff diese Angst Besitz von mir, peinigte mich bis aufs Blut. Schlich sich in meine Gedanken und Gefühle, besetzte mich und trieb mich in den Wahnsinn, Schritt für Schritt und unaufhaltsam.