Es gibt Menschen, die gehen in eine Ausstellung (wie z.B. die Nan-Goldin-Ausstellung), in der zu Diashows Musik läuft. Danach suchen sie die gemerkten Textfetzen im Internet, um herauszufinden, von wem die Mucke war, auf welcher Platte das Lied ist und die dann sofort ihren Plattenhändler anrufen und die Scheibe bestellen. Vinyl wohlgemerkt, bloß keine CD. (Wenn die Textstelle gar nicht „You are my assistant“ sondern „You are my sister“ hieß, haben diese Leute ein Problem. Dann gehen sie nochmal in die Ausstellung. Oder fragen jemanden, der besser Englisch versteht.)
In einem Haushalt mit solchen Menschen findet man höchstwahrscheinlich mindestens eine Ausgabe der Rockbibel.(1) Diese Menschen haben Angst, ihren Ruf zu ruinieren, wenn sie gestehen, dass sie eine Platte von Herbert Grönemeyer besitzen und würden niemals zugeben, dass sie zwei Lieder von Dolly Parton großartig finden.
Zu diesen Menschen gehöre auch ich. Ich nehme mit Gleichgesinnten Best-of-Kassetten auf, die wir monatelang systematisch vorbereiten. Wir verwerfen die Konzepte stündlich und schaffen es doch irgendwann. Wenn wir diese Kassetten dann jemandem vorspielen, dann sagen wir: „Das ist aber die Wahl von heute, das kann morgen ganz anders aussehen.“ Oder wir treffen uns, hören unsere Best-of-Kassetten dann gemeinsam an und diskutieren darüber, ob es sinnvoll ist, 20 von 90 Minuten für „You do right“ von Can zu verschwenden bzw. zu investieren und ob man als Musiker seinen Ruf riskiert, wenn man „Coco“ von The Sweet auf seiner Kassette hat. Wir erstellen in Excel Statistiken, welche Bands am häufigsten vertreten sind, welches Lied von diesen Bands das Beste ist (ermittelt durch Abstimmung aller Beteiligten nach einem ausgeklügelten System!) und machen aus diesen Songs Best-of-best-of-Kassetten, die wir kopieren und verteilen.
Ich finde es normal, wenn ich morgens um 7 Uhr vom Freund meiner Mitbewohnerin nach meinen 3 liebsten Platten der 90er gefragt werde. Ich habe eigene Listen der letzten 25 Jahre mit den besten Platten, besten Liedern, besten Bands, besten SängerInnen – säuberlich nach Jahren geordnet. Ich kann dir sagen, wer wo den Bass zupft, wer welches Coverphoto gemacht hat und warum Stevie Wonders „Pasttime Paradies“ um Lichtjahre besser ist als die Coverversion von Coolio. Ich weiß, woran Sandy Denny gestorben ist (2) und habe meine Platten nicht alphabetisch, sondern chronologisch sortiert: nach Anschaffungsdatum.
Ich nehme Kassetten auf, wo im ersten Titel eine „Eins“ (oder „one“ o.ä.), im zweiten eine „Zwei“ usw. vorkommen muss und nenne diese dann „Ich kann zählen“. Ich habe auch Kassetten, wo in jedem Titel ein Getränk vorkommt oder wo in jedem Lied jemand stirbt. Ich mache Kassetten mit Liedern, die keinen Vier-Viertel-Takt haben oder die weder auf deutsch noch auf englisch sind. Oder ich nehme für die A-Seite „This town ain’t big enough for the both of us“ von den Sparks und für die B-Seite „Everybody's got something to hide except me and my monkey“ von den Beatles und dann muss in A1 „This“, in A2 „Town“ bis hin zu B10 „Monkey“ im Titel vorkommen.
Ich erzähle dir völlig begeistert von der „besten Band der Welt“, die du sicher nicht kennst. Ich spiele dir die „beste Scheibe“ der „besten Band der Welt“ vor, die dir sicher nicht gefällt. Und du lässt mich ratlos zurück, wenn du sagst, du möchtest wirklich keine Kassette mit den besten Stücken dieser Band.
Ich habe viele Regeln: so gehe ich niemals mit jemandem ins Bett, der mehr als eine U2-Platte besitzt, ich lade niemanden zum Essen ein, der von den Butthole Surfers sagt, sie wären „zu unmelodisch“, ich misstraue allen, die Tuxedomoon nicht kennen und ich schenke niemals einer Frau eine CD, die Funny van Dannens „Menschenverachtende Untergrundmusik“ als lärmig bezeichnet.
Manchmal treffe ich auf andere Menschen. Und dann verstehe ich nicht, dass diese anderen ihre CDs in Sammelmappen rumtragen und sagen, „die Cover liegen noch bei meinen Eltern, die brauche ich nicht“.
Ich höre bei jemandem zuhause ein Lied, frage nach dem Interpreten und bekomme zur Antwort: „Keine Ahnung, hab ich von xy gebrannt bekommen“. Darüber bin ich sehr irritiert.
Wenn ich jemandem Musik schenke, dann ist das eine ganz persönliche Botschaft. Ich verstehe nicht, wenn diese Person mir trotz penetranter Nachfrage nicht erzählt, was ihr warum gefallen hat und was nicht. Und sich später an Lied 20 nicht erinnert.
Was tue ich selber, wenn ich eine Musik-CD geschenkt bekomme, die noch nicht mal beschriftet ist? Ich ärgere mich über diese Rücksichtslosigkeit, höre die CD einmal beim Abwaschen und werfe sie dann weg. (Vielleicht mag ich aber die Person, von der ich die CD bekommen habe, sehr gerne und es war auch ein Stück dabei, das interessant klang?...)
Ich setze mich aufs Sofa und höre die CD ganz in Ruhe an. Dabei merke ich mir die Nummern von den zwei Stücken, die mir gefallen haben und höre sie manchmal. Als Nächstes mache ich ein provisorisches Cover, auf dem ich die mir bekannten Stücke bzw. Interpreten aufschreibe. In die Lücken kritzele ich ein paar Notizen, um die fünf schönsten Stücke wiederzufinden. Tagelang höre ich dann zum Einschlafen diese fünf Stücke. Später schreibe ich mir beim Hören Textstellen auf, suche im Internet und finde darüber Titel und Interpreten heraus. Dabei lese ich die Texte genau durch und ergründe, ob sie eine Botschaft an mich enthalten. Anschließend mache ich mir ein CD-Cover und vermerke alle Titel und Interpreten sauber darauf und bastle aus den Texten ein Booklet. Zu guter Letzt suche ich die Interpreten der schönsten Lieder im Internet und höre mir andere Sachen von ihnen an.
Anschließend setze ich mich hin und plane eine CD, die ich zurückschenken kann. Ich durchforste meine Plattensammlung und suche möglichst völlig unbekannte Stücke, die im Stil denen auf der anderen CD ähneln und mache ein Konzept…
Doch irgendwann fällt mir etwas auf, das mich in meiner Begeisterung innehalten lässt: Ich sehe plötzlich ganz deutlich, dass „musikisch“ eine Sprache der Missverständnisse ist (3). Und ich sehe, dass ich alle Idioten und Psychopathen in meinem Umfeld auf diesem Weg kennengelernt habe. Der Mensch, dem ich 40% meiner Musiksammlung verdanke, ist ein koksender Zyniker, der mir das zweifelhafte Kompliment gemacht hat: „Du bist die erste Frau mit einem guten Musikgeschmack.“ Meine tiefe King-Crimson-Seelenverwandtschaft zerbrach, weil der Kerl krankhaft eifersüchtig war. Die wirklich guten und wertvollen Menschen um mich herum verhalten sich völlig anders, was Musik betrifft. Mein allerbester Freund findet Mixkassetten total daneben, denn er hört immer die ganze Platte (auch wenn nur ein einziges gutes Stück drauf ist). Meine langjährige Freundin kann zwar alle Texte von Bad Religion auswendig, besitzt aber nicht einen einzigen eigenen Tonträger, sondern hört nur Radio.
Und endlich begreife ich, dass ein Geschenk nur ein Geschenk ist, wenn ich dafür nichts erwarte. Dass die Belohnung schon darin liegt, eine Freude zu bereiten, jemanden zu „bereichern“ und nicht darin, etwas zurückzubekommen. Wenn ich eine Tanz-CD verschenke: Reicht es nicht, wenn sie zu der Musik tanzen? Brauche ich dann wirklich noch einen Extra-Dank und eine Bemerkung zu jedem einzelnen Stück?
Und dann fallen mir auch noch die ganzen Geschenke ein, die ich selber „von Herzen“ bekommen und ignoriert habe: die Bücher, die ich nicht gelesen habe oder doof fand; die Leckereien, die ich eklig fand; die Kinotipps, die ich nicht beachtet habe; alles, was anderen vielleicht so am Herzen liegt wie mir die Musik…
Ich gehe an mein CD-Regal, nehme jede 11. CD und kopiere davon jeweils das 5. Stück, bis die CD voll ist. Ich verschenke diese CD unbeschriftet und erwarte dafür keinen Dank. Kein Feedback. Kein Lob, keine Bemerkung. Ich frage nicht nach. Nein, ich gehe soweit, dass ich nicht mal Interesse erwarte. Nach 14 Tagen habe ich vergessen, dass es diese CD jemals gab.
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1 The Great Rock Discography, M. C. Strong, Zweitausendeins, ca. 1000 Seiten
2 Sie starb an einer Hirnblutung, nachdem sie die Treppe heruntergefallen ist.
3 Was ich eigentlich schon hätten wissen können, seit wir 19-jährig „Nieder mit dem Fascho-Pack“ gröhlten, bis ein WG-Genosse darauf aufmerksam machte, dass „Nieder mit dem Warschauer Pakt“ nicht gut in eine linke Punk-WG passen würde.