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Autor Thema: ich lebe. punkt.  (Gelesen 566 mal)

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ruach

  • Gast
ich lebe. punkt.
« am: 31 Oktober 2010, 03:02:30 »

Hallo Euch allen, besonders denen, die mich kennen :)

Ich hab mich von Juli bis Sept nicht mehr blicken lassen im Chat und erst dann erfahren, dass wohl wirklich einige nach mir gefragt und gesucht haben - denjenigen lieben Dank.

Seitdem ich im Chat bin, gings mir nur schlecht, immer schlecht und überhaupt nie anders als schlecht. War aber für mich nichts Neues, das kenn ich, seitdem ich 16 bin - mindestens. Heute bin ich 44. Meine Diagnosen lesen sich gruselig: schwere chronifizierte Depression, gemischte Persönlichkeitsstörung, Sexualstörung, Multitrauma. Das wär so der Kern des Ganzen - und ja, ich bin Opfer - Psychoterror, der Tod meines ersten Freundes (eben als ich 16 war), Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und Gewalt, dazu unschöne chronische körperliche Erkrankungen und noch so dies und das am Rande. Was ich in einem Leben durch habe, reicht bequem für drei.

Ich war nicht mehr hier im Chat, weil es mir zu schlecht ging. Ich war dem Suizid so nah wie nie. Das konnte und wollte ich hier niemandem sagen, niemandem zumuten. Ich hab dafür im Nachgang ein paar Rüffel bekommen - ich danke Euch, wirklich. Auch wenn ich noch immer dazu stehe, dass ich so gehandelt habe - außer, dass ich niemandem Bescheid gesagt hab, dass ich auf 'Tauchstation' gehe, das tut mir ehrlich leid. Ich bin in den Chat zurückgekommen, weil sich zwei Menschen bei mir gemeldet haben, die wussten, wie sie mich erreichen können.
Ja, ich bin wieder da. Allerdings - und darum schreibe ich diesen Forumsbeitrag - anders, als manche mich aus dem Frühjahr kennen. Und um vielleicht dem einen oder der anderen zu beschreiben, dass selbst nach 44 Jahren noch ein Blickwechsel möglich ist. Ich hatte eines Tages nur noch die nackte Alternative: springen oder leben. Und - wie Ihr seht - ich lebe noch. Nein, falsch: Ich lebe. Punkt. Und das ist so, weil ich - und bitte fragt mich nicht wie - einen Entschluss gefasst habe, der da lautet: Ich lebe, ich werde nicht mehr gelebt. Ich entscheide, ich werde nicht mehr entschieden. Und ich stehe zu einem Punkt in meinem Leben, den ich nie zuzugeben, zu denken, geschweige denn zu leben wagte, es ist nicht wichtig, was es ist, wichtig ist nur: Ich lebe "against all odds" und habe den größten Tabubruch meines Lebens begangen, mit dem festen Entschluss: Die Konsequenzen daraus trage ich, ich allein, und die Verantwortung übernehme ich. Opfer bin ich in meinem Leben hinreichend gewesen und werde es mutmaßlich auch immer mal wieder sein. Aber ich richte mich nicht mehr in der Opferrolle ein. Ich lebe. Denn 44 Jahre sind genug, was kommt, soll und darf und will und wird anders werden. Ich habe keine Ahnung, wie es werden wird, aber es wird mein Leben sein. Und ich bin frei genug, mich einzulassen. Auf mich selbst und meine Bedürfnisse. Auf Menschen, die mir immer nahe gewesen wären, hätte ich das denn zulassen können.

Einige haben deutlich gesagt, ich sei 'anders' geworden. Dabei hat sich weder meine Vergangenheit verändert - wie auch, diese Altlasten bleiben lebenslänglich - noch ist in meinem Leben plötzlich alles nur schön. Im Gegenteil - ich stehe vor den Trümmern des zweiten komplett gescheiterten Lebensentwurfs. Wunderheilungen hat es auch nicht gegeben. Alles beim Alten, was das angeht. Aber ich positioniere mich anders dazu. Gut, es sind erst drei Monate, und ich trau mich kaum, den Satz zu sagen "Es geht mir gut", weil sich dieser Satz so fremd anfühlt, so, als ob er besser nicht gesagt würde, weil er sich ja als unwahr herausstellen könnte. Der Satz "Es geht mir schlecht" ist viel einfacher zu sagen, er ist so vertraut und immer und überall mein Begleiter gewesen. Ein treuer, hartnäckiger - und erdrückender - Begleiter. Es geht mir auch heute nicht euphorisch gut, nein, depressive Löcher gibt es nach wie vor, Verlustangst bohrt noch immer, mein Nähe-Distanz-Problem sagt immer wieder höflich und eindringlich Guten Tag. Ich stelle all dem nur mittlerweile ein energisches (na gut, manchmal zögerlich gemurmeltes) Trotzdem entgegen. Ich gebe ein paar unsinnige Hoffnungen auf oder habe es bereits getan - und festgestellt, dass das Platz schafft. Wow!
Ich atme tief durch, bekomme Angst vor meiner eigenen Courage - wie gut, dass ich meine Analyse nach wie vor habe, mittlerweile über 150 Stunden (und 240 sind bereits genehmigt, daran lässt sich ermessen, dass ich nicht übertreibe, wenn ich von 'schweren' Erkrankungen rede). Es gibt nach wie vor grandiose Sch***-Tage, und ob. Ich respektiere, dass ich sie nicht loswerde - ich versuche aber und es gelingt, sie zu überstehen, über sie hinaus zu sehen. Und ich stelle fest: es geht, es geht nicht immer gut, aber es geht.

Ich möchte niemandem auf den Fuß treten, dem es bescheiden geht - ich sage niemandem, wie er oder sie irgendwas hinkriegen soll - das muss man leider letztlich ganz allein herausfinden, und dann auch noch umsetzen. Aber vielleicht, nur vielleicht hilft es dem einen oder der anderen doch, nicht aufzugeben. Mit 44 bin ich am oberen Rand, rein vom Alter her, des noch Therapierbaren, eigentlich fast schon zu alt für grundlegende Veränderungen. Sagen zumindest viele Fachleute. Vielleicht haben sie recht, und ich darf gerade nur ein Zwischenhoch erleben. Aber, wisst Ihr, dann wird es wenigstens das gewesen sein. Das wäre auch schon mehr als nichts. Nur: Bis der Beweis dessen eintritt - und vielleicht geschieht das ja niemals -, bleibe ich bei meinem 'Trotzdem'. Und bei meiner Entscheidung: Ich lebe, ich werde nicht mehr gelebt. Das geht immerhin seit drei Monaten ziemlich gut. Und zwar MIT allem Mist, der nach wie vor stinkt. Hätte mir das irgendwer im Frühsommer prophezeit, den hätte ich für vollkommen schwachsinnig gehalten. Und trotzdem ist es so. Trotzdem - ein cooles Wort.

Ich will niemandem sagen, wie toll ich bin - bin ich nicht. Aber vielleicht, vielleicht lässt sich irgend jemand - und sei es nur ein klein wenig - ermutigen. Dafür hätte es sich gelohnt, das alles hier aufzuschreiben. Ist lang geworden, ich weiß. Aber es war auch ein verflixt langer Weg bis hierher. Und es gibt einige liebe Menschen hier, die haben für ihren Anteil an meinem Weg durch die Wüste - für ein offenes Ohr, für bewundernswert viiiel Geduld mit meinem Klagen, für einen rechtzeitigen Tritt, für ein wohltuendes Stillsein, für einen guten Satz - ein dickes Dankeschön verdient. Das will ich zum Schluss unbedingt noch loswerden, dieses dicke fette DANKE an diejenigen, die mich im Chat beschenkt haben. Ich hoffe, Ihr nehmt das an.

Ich wünsche Euch allen den Mut und die Kraft, die Ihr braucht. Und jede und jeder einzelne hier ist es schlicht wert!

Liebe Grüße

ruach
 



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Mausi

  • Gast
Re: ich lebe. punkt.
« Antwort #1 am: 31 Oktober 2010, 09:38:58 »

Dankeschön, einfach nur Danke für Deine Offenheit und diese ergreifenden, tiefgehenden und persönlichen Worte.

Ich fibnde mich darin wieder, mehr als ich das von Worten die jmd. anderes als ich selbst gescvhrieben hat je für möglich gehalten hätte und so unglaublich viele Dinge doch noch für mich erscheinen, so viel Mut geben sie auch!

Einfach nochmal vielen vielen Dank und ich drücke Dir die Daumen, dass Du diesen Weg, diesen wunderbaren neuen Weg, den Du eingeschlagen hast trotz der tiefen Täler, die sicherlich auch wieder kommen werden, auch beibehalten kannst und wünsche Dir weiterhin sehr viel Kraft!

Mausi  
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ruach

  • Gast
Re: ich lebe. punkt.
« Antwort #2 am: 31 Oktober 2010, 10:44:15 »

Hallo Pudel,
ja und nein ... wie ein jedes Ding seine zwei Seiten hat, so auch die Rückkehr in den Chat :)

Einerseits hast Du sicher Recht, die Gefahr, sich wieder fallen zu lassen ins Depressive, weil es im Chat so präsent ist, besteht.

Andererseits stelle ich fest, dass ich mich - zumindest derzeit - von dem, was mich runterziehen könnte, ganz gut abgrenzen kann, aber deshalb doch nicht verzichten will auf manche Menschen, mit denen mich hier durchaus etwas verbindet. Ich habe in diesem Chat in schlechten Zeiten Stunde um Stunde um Stunde verbracht und bin dabei einigen (wenigen, aber die Masse macht es ja eh nicht) lieben Menschen begegnet, die mir weitergeholfen haben. Mit denen ich mich ausgetauscht habe. Von denen ich gelernt habe, auch das. Die mir einfach 'zugehört' haben. Denen ich einiges anvertraut habe und auch umgekehrt. Darauf mag ich dann auch nicht zwangsweise verzichten...

Außerdem - weißt Du, wie unglaublich gut es mir getan hat, dass mich die eine oder der andere wirklich vermisst hat in der Zeit, in der ich 'abwesend' war? Du, hier haben Menschen tatsächlich   n a c h   m i r   g e f r a g t   - das hat so wohl getan!!

Ich bin mir meiner selbst bewusster im Chat, will heißen, ich passe besser darauf auf, was mir gut tut und was nicht, mit wem ich über welches Thema quatsche oder eben auch nicht - und auch, wann ich mich ausklinke. Und den Chat dafür verantwortlich machen, dass der mich irgendwohin ziehen könnte - nein, das ist nicht so, Pudel, diese Macht hat er nur, wenn ich sie ihm einräume. Aber ich sagte ja: Ich entscheide. Ich verantworte. Auch meine Position im Chat.

Heute muss ich nicht mehr auf 'Tauchstation' gehen, Pudel, und das ist gut so :)

ruach
Gespeichert
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