Belinda war immer noch frustriert, verzweifelt und hoffnungslos. Was sie richtig fertig machte: In dieser Situation fiel ihr nichts ein, was sie tun konnte, damit es ihr besser ging. Es war November und sie war am Ende. Es gab keinen Grund. Nur Abgrund.
Es war Dreamcatcher, die es als nächste merkte und sie darauf ansprach. Die beiden kannten sich seit einigen Monaten aus dem Last Exit, einem Forum für Depression und Suizid, und sie hatten Schnittmengen: Beide fühlten sich suchtartig zu einer Lehrerin hingezogen und nahmen die Herausforderung, sich den Bürden des Lebens zu stellen, unverdrossen an. Sie waren von Anfang an sehr vertrauensvoll miteinander und pflegten eine Art Brieffreundschaft ohne Verpflichtung. Belinda dachte manchmal, dass es schon seltsam sei, sich mit wildfremden Menschen über ihre Traumata auszutauschen. Aber die Anonymität des Forums bot einen Schutz, den sie in realen Begegnungen nicht hatte. Und im Forum war einfach klar: Hier kannten sich alle mit den Tiefen aus. Hier musste sie nicht gutgelaunt spielen, wenn ihr zum Heulen war. Aber dort gab es natürlich auch Leute, mit denen sie lieber nichts zu tun hatte und solche, bei denen ihr der Kontakt angenehm war. Und bei Josephine – wie Dreamcatcher im echten Leben hieß - hatte sie die schöne Erfahrung gemacht, dass sie ihr mit großem Interesse begegnet war, ohne sich von sonst üblichen Vorurteilen davon abbringen zu lassen. Normalerweise hätte sie bei Josephines Art zu schreiben - wie der Schnabel es rauslässt und voller Rechtschreibfehler -, sofort assoziiert: dumm und nachlässig, nicht daran interessiert, ob andere das wirklich lesen und verstehen können. Doch hinter dem intuitiven, ungefilterten Ausdruck steckte ganz viel Kraft und Humor, das hatte sie genossen. Und da Josephine auch noch viele Jahre jünger war als sie selber, empfand sie eine gewisse Hochachtung, dass ein Mensch in diesem Alter trotz aller Widrigkeiten schon so klar mit sich selber war.
Belinda war erleichtert, dass sie ihre Suizidgedanken aussprechen durfte, aber der Gedanke, dass Josephine sich um sie sorgte, machte ihr auch zu schaffen. Und als diese am Telefon weinte, als Belinda schilderte, wie nah dran sie in den letzten Tagen gewesen war, da wachte Belinda zumindest so weit auf, dass sie beide eine Abmachung treffen konnten. Sie machten einen Vertrag: Belinda formulierte, was sie selber tun und lassen wollte, damit es ihr besser ging. Als Erstes schrieb sie Dinge und Menschen auf, die ihr gut taten. Das half ihr im Falle des Falles, sich zu erinnern.
Belindas Listen:
1 Was mich glücklich macht und ich alleine tun kann
2 Was mich glücklich macht und ich nicht alleine tun kann
3 Menschen, die mir guttun
4 Menschen, die mir nicht guttun
Die letzte Liste diente dazu, dass sie sich von Menschen fernhielt, die ihr Energie raubten und dafür nichts hinterließen, das für Belinda von Wert war. Und sie machte einen Erste-Hife-Plan bei akuten Suizidgedanken, der lautete: Ich verlasse den Ort, an dem ich mich momentan befinde und begebe mich an meinen sicheren Ort. Dazu mache ich mir aufbauende Musik an. Als Nächstes bewege ich mich zu der Musik oder mache zwei Yogaübungen. Wenn das alles nichts hilft, dann rufe ich Josephine an und bitte um Hilfe.
Dieser Vertrag brachte ihr große Erleichterung. Josephine würde im Notfall für sie da sein, aber noch wichtiger war die Sicherheit, dass es ganz viel gab, mit dem sie sich selber helfen konnte. Und dasselbe galt natürlich auch umgekehrt. Sie wurde gebraucht. Das war wichtig.
*Aufreibende Pläne*
Kurz darauf schneite eine Einladung in Belindas elektronisches Postfach: Auszeit auf einer italienischen Insel – TaKeTiNa auf Ischia. Ihr erster Gedanke war: Das ist genau das, was ich dringend brauche: eine Zeit in schöner Umgebung, in der ich mich ausschließlich um mein Wohlergehen kümmern kann. Während der Suchtbeziehung zu ihrer Tanzlehrerin hatte sie auf der Suche nach Erleichterung und Entspannung schon Erfahrung mit TaKeTiNa gesammelt und wusste, dass es sie glücklich machte. Sie liebte es, sich im Rhythmus zu bewegen und zu singen. Sie genoss das Gefühl, von der Gruppe getragen zu werden und die Sicherheit, durch sie wieder in den Ablauf aus Schritten, Klatschen und Singen hineinzufinden, wenn sie herausgefallen war. Belinda hatte kürzlich einen Vergleich gelesen, den sie nicht abwegig fand: Beim TaKeTiNa sei es, wie in den Mutterleib zurückzukehren, eingebunden in den Rhythmus des Körpers und ständig würde man wachsen. Sie hatte an mehreren Workshops teilgenommen und hatte sich dabei sehr im Hier und Jetzt aufgehoben gefühlt: schwebend in einer vergangenheits- und zukunftsfreien Zone, unbelastet, frei.
Der zweite Gedanke war der Zweifel, ob sie zu der Zeit Urlaub bekommen würde, da die Mütter in den Ferien Vorrang hatten. Und der dritte Gedanke war, dass der Preis für den Workshop und die Unterkunft eine furchteinflößende vierstellige Zahl betrug. Wo ein Wille ist, werde ich den Weg schon ebnen, dachte sie kämpferisch. Scheiß auf Rücksicht, scheiß aufs Geld. Sie schrieb sofort zurück und meldete sich an. Und da sich eine so weite Reise für eine Woche nicht lohnt, beschloss sie, die Reise auf zwei Wochen zu verlängern und sich ein bisschen in Italien umzuschauen.
Erst später sackte in ihr Bewusstsein, dass es damit nicht getan war: Sie musste ja auch die Reise dorthin organisieren und die Unterkunft für ihre Verlängerungswoche buchen. Als sie merkte, dass ihr der Schweiß zwischen den Schulterblättern den Rücken herunterrann, versuchte sie, sich mit einem tiefen Atemzug zu beruhigen. Seit Pinar und sie sich vor drei Jahren getrennt hatten, war Belinda nicht mehr im Urlaub gewesen. Sie fühlte sich schon mit der Planung immer völlig überfordert. Nicht nur mit der Entscheidung, wohin es gehen sollte, sondern auch mit der Suche nach einer Unterkunft oder nach Fahrgelegenheiten. In ihrer zehn Jahre langen Lebenspartnerschaft hatte immer Pinar alles organisiert und erst jetzt bemerkte Belinda, wie sehr sie das entlastet hatte. Auch während der Reisen hatte Pinar immer die Kommunikation und Navigation übernommen, besonders, wenn andere Sprachen involviert waren. Belinda musste sich um nichts kümmern und konnte sich immer darauf verlassen, dass alles wunderbar in ihrem Sinne geregelt war. Dadurch hatte sich allerdings auch den Eindruck verfestigt, dass sie gar nicht mehr in der Lage sei, so etwas alleine zu organisieren. Vielleicht war das einer der Gründe, warum Pinar sich getrennt hatte: Dass Belinda jetzt erst richtig bewusst wurde, was Pinar alles für sie getan hatte. Sie hatte das alles lange für selbstverständlich gehalten, doch irgendwann wurde es Pinar zu viel, Belindas Geliebte, Freundin, Mutter, Haushaltshilfe, Reiseplanerin und Lebenshelferin zu sein. Was hatte sie damals ganz frustriert gesagt? «Wenn es um deine Tanzerei geht, stellst du dich doch auch nicht so hilflos!» Belinda fand das ungerecht. Sie stellte sich nicht hilflos! Doch sie konnte den Unterschied selber nicht erklären.
Jetzt seufzte sie und beschloss, Pinar trotzdem um Hilfe zu bitten. Erleichtert konnte sie mal wieder feststellen, wie wenig nachtragend Pinar war.
«Geh am besten in das Reisebüro unter den Yorkbrücken, die sind auf Bahnreisen spezialisiert.» Belinda folgte ihrem Rat und ein äußerst geduldiger Mitarbeiter organisierte für sie die komplizierte Zugfahrt sowie die Fähre und buchte auch gleich das Hotel.
*Hoffnung*
Belinda zog ihre Schuhe aus und schlüpfte in ein Paar Hausschuhe, das im Flur für sie bereitstand. Ihr Therapeut wusste nicht, was für ein großes Lob an seiner Arbeit diese Tatsache darstellte: Belinda ertrug dieses demütigende Schuheausziehen, anstatt dem Impuls nachzugeben, der sie schnurstracks wieder aus der Praxis hinausgetrieben hätte.
«Wie geht es Ihnen?», fragte er, nachdem sie auf zwei gegenüberstehenden Sesseln Platz genommen hatten. Belinda hatte – wie bei den Schlappen – eine Weile gebraucht, um ihre Aversion gegen diese Frage abzulegen und sie nicht als Floskel, sondern als ehrliche Einladung zu einem Gespräch über ihre Gefühle zu begreifen.
«Mir geht es sehr viel besser als beim letzten Mal.»
«Sie sagten vor zwei Wochen, Sie hätten Angst, den Jahreswechsel nicht zu überstehen. Wie sehen Sie das jetzt?»
«Die Angst ist wesentlich kleiner geworden. Zum einen habe ich mir ein gutes Erste-Hilfe-Paket zusammengestellt und zum anderen habe ich im nächsten Jahr etwas vor, auf das ich mich freue.» Sie erzählte ihm von der geplanten Reise und den Gefühlen, die die Vorbereitungen begleitet hatten.
«Es ist gut, dass Sie sich an diese Dinge heranwagen und ausprobieren, was möglich ist. Sie wirken auf mich heute sehr unternehmungslustig.»
«Ja, so fühle ich mich auch», lachte Belinda.
«Und was wünschen Sie sich jetzt?»
«Ich wünsche mir, dass mir diese Lust nicht so schnell wieder verloren geht.»
«Was brauchen Sie dafür?»
«Hoffnung», antwortete Belinda.
«Ok, dann gucken wir mal, was es da für Möglichkeiten gibt. Was halten Sie davon, wenn wir gemeinsam einen Ressourcenzustand aufbauen?»
«Und das heißt?»
«Sie suchen in Ihrer Erinnerung etwas, wo Sie sich voller Hoffnung gefühlt haben und machen dieses Gefühl durch verschiedene Anker abrufbar.»
«Sie meinen, dass ich auch Hoffnung empfinden kann, wenn ich momentan gar keine Hoffnung empfinde? Funktioniert denn so ein stellvertretendes Gefühl wirklich?»
«Probieren Sie’s aus.»
Josephine freute sich über die guten Neuigkeiten und steuerte noch eine Idee bei:
«Die Strecke Berlin-Italien führt doch hier vorbei. Möchtest du nicht einen Zwischenstopp einlegen?»
«Hältst du das wirklich für eine gute Idee?», fragte Belinda.
«Du meinst, weil wir so unterschiedlich sind?»
«Ja, zum Beispiel. Und weil wir keine Ahnung haben, worauf wir uns da einlassen.»
«Bis dahin sind es ja noch ein paar Monate. Die können wir nutzen, um uns darauf vorzubereiten.»
«Vielleicht hast du Recht. Das wäre dann Frau Superstruktur trifft Chaosqueen, oder?» In den folgenden Wochen tauschten sie viele Nachrichten zum Thema aus, glichen ihre Vorstellungen ab und schmiedeten Pläne.