Hallo Minuie
Was du schreibst klingt sehr traurig und verzweifelt.
Da es mir lange Zeit ähnlich erging, kann ich gut nach vollziehen was du meinst. Auch ich habe immer wieder hören müssen wie gut es mir doch eigentlich geht und wie unzufrieden ich doch mit dem Leben sei, ich soll doch dankbarer sein. Dies hat mich bewogen jahrelang zu schweigen und niemandem mehr zu zeigen wie es wirklich in mir aussah. Ich habe immerzu den Spaßvogel gespielt und Masken getragen und das war auf Dauer ganz schön anstrengend, denn wenn sich die Haustüre hinter mir geschlossen hat, bin ich meist zusammen gebrochen.
Aber weder in materieller Sicherheit zu leben, noch eine tolle unterstützende Familie, oder einen Partner zu haben der es gut meint, kann wirklich etwas verändern. Trotzdem ist es eine Bereicherung, wenn man Menschen um sich hat die einen verstehen, die im dauerhaften und ehrlichen Dialog mit uns sind, die uns nicht ständig abwerten, die unser Bemühen um Veränderung anerkennen, die uns manchmal schubsen damit das Bett nicht zur Heimat wird und die uns aber auch offen sagen was an unserem Verhalten nicht richtig ist.
Die Veränderung findet zuallererst in unserem Kopf statt, aber das muss ich dir sicher nicht erzählen.
Es sind also weniger die äußeren Einflüsse, sondern die Inneren die etwas in Bewegung bringen.
Manche Menschen schaffen dies einfach nicht, dass müssen wir alle realistisch sehen.
Meine Freundin Karen hatte bei vier verschiedenen Stellen Therapie, nahm Medikamente, hat sich gezwungen in einen Verein zu gehen und da auch aktiv mitgearbeitet. Sie hat sich ihren Ängsten gestellt, gekämpft wie verrückt und alles versucht um auszubrechen. Ihre Therapien haben sich eher als schädlich erwiesen, denn an ihrem eigentlichen Problem, dem Kindheitstrauma wollte keiner rühren und so hat sie irgendwann resigniert.
Erst im Nachhinein habe ich erkannt, dass sie nie für sich selbst gekämpft hatte, sondern nur für uns, mich und ihre Schwester. Sie hat gekämpft um uns nicht weh tun zu müssen. Wie sehr muss sie uns geliebt haben um so lange zu leiden und durch zu halten. Dieser Gedanke tut so unendlich weh.
Keiner der nicht betroffen ist kann die innere Zerrissenheit eines Menschen erahnen, der keine Kraft mehr zum Leben hat. Ich habe es bei meiner Freundin hautnah miterlebt und es hat mich für immer verändert.
**Lohnt es sich zu leben?**
Was für eine Frage.
Darüber musste ich nun lange nachdenken. Vermutlich kann man sie erst befriedigend am Ende des Lebens beantworten. Hat es sich gelohnt weiter zu leben?
In meinem Falle kann ich dies heute schon mit JA beantworten.
Ich habe einige Versuche mein damals "armseliges" Leben zu beenden hinter mir. Als ich jedoch durch einen Gewaltakt tatsächlich an der Schwelle des Todes stand und wie durch ein Wunder überlebte, habe ich zu meinem eigenen Erstaunen erkannt, dass ich im Grunde gar nicht wirklich sterben will, sondern einfach nicht mehr so weiter leben wie bisher. Seit damals sage ich mir, dass ich nicht ohne Grund überlebt habe und dass ich wohl irgendwann in meinem Leben etwas erfüllen muss, was mir bis dato noch verborgen ist.
Diese Erkenntnis hat mein ganzes Sein, das ich immerzu in Frage stellte verändert. Ich gab mir selber eine Chance und habe konsequent Schritt für Schritt mein Leben verändert. Natürlich hatte ich auch danach immer wieder Rückfälle, aber ich habe nicht aufgegeben und ich tat dies nicht mehr für andere, sondern ausschließlich für mich selbst.
Heute geht es mir gut, trotzdem überfällt mich von Zeit zu Zeit ein Anflug von Todessehnsucht. Ich habe gelernt, dass diese wohl ein Teil von mir ist der immer da sein wird. Vor allem wenn geliebte Menschen sterben, zieht mich dies wieder voll hinein. Aber mein Entschluss zu leben, bis ich an Altersschwäche vom Stuhl kippe ist unumstößlich.
Du schreibst, dass dein Freund versucht dich aus dem Abgrund zu ziehen und das er damit grosse Fortschritte macht. Du hast nicht erwähnt was diese Fortschritte genau sind, aber aus diesem Satz lese ich eine Hoffnung. Ich lese daraus, dass du dabei bist.
Der Weg zu einem besseren Wohlbefinden ist steinig und lang, ich selbst habe dazu sieben Jahre gebraucht. Man braucht also viel Geduld (ein Wort das ich hassen gelernt hatte) und Durchhaltevermögen, beides wünsche ich dir von Herzen!
Alles Liebe
Epines