Liebe Jun,
die Aussage, jede Depression würde irgendwann ganz von allein wieder vergehen, halte ich schlichtweg für falsch und würde ich eher von jemandem erwarten, der noch nie betroffen war, keineswegs aber von einer Psychologiestudentin und angehenden Therapeutin!
Dass niemand über Jahre hinweg unter Depressionen leiden würde, könnte ich noch insofern akzeptieren, dass wohl so ziemlich jeder Betroffene zwischendurch auch mal bessere oder sogar gute Tage oder Phasen hat, in denen es einigermaßen erträglich ist. Das ändert meines Erachtens aber auch nichts daran, dass die Depression weiterhin "da" ist – sie ist ja deshalb nicht gleich komplett verschwunden oder "geheilt"! Mal ist sie "voll da" und hat einen regelrecht im Griff / unter Kontrolle, mal tritt sie ein bisschen weiter in den Hintergrund.
Und ein Depressiver bräuchte im Grunde genommen überhaupt keine Therapien, da die Erkrankung ohnehin mit der Zeit vergeht? Depressionen haben doch eine Ursache, sei es aufgrund eines gestörten Hormonhaushaltes, akuter Belastungen, Erlebnissen aus der Vergangenheit oder was auch immer. Ja, sicher gibt es auch sogenannte depressive Episoden, aber auch die haben ihren Grund! Das richtet sich von allein wieder – die Zeit heilt alle Wunden, oder wie? Solche Annahmen halte ich doch für sehr gewagt... Ohne an sich, seinen Denkweisen, Verhaltensmustern, Einstellungen etc. zu arbeiten (bzw. Erlebtes zu VERarbeiten), wird sich auch nichts Grundlegendes verändern, denke ich.
Es gilt auseinanderzuhalten, was eine depressive Verstimmung und was eine Depression ist – oder anders formuliert: wo der Unterschied zwischen "deprimiert sein" und "depressiv sein" liegt! Jeder Mensch ist mal deprimiert, weil er vielleicht irgendwas Blödes erlebt hat, einfach einen schlechten Tag hatte, Stress auf der Arbeit, mit Freunden oder dem Partner hat – dann ist er auch mal ein paar Tage niedergeschlagen, kann sich zu nichts aufraffen, hat schlechte Laune und möchte sich am liebsten nur verkriechen. DAS vergeht in der Tat nach einiger Zeit und hat meiner Meinung nach nichts mit einer Depression mit Krankheitswert zu tun. Natürlich gibt es unterschiedliche Schweregrade, Formen und Ausprägungen depressiver Erkrankungen, dennoch würde ich sagen, alles in allem ist jede Depression "mehr" als das, was man unter Deprimiertheit versteht. Sie dauert länger und kontinuierlich an, hat meist eine vielfältiger ausgeprägte Symptomatik, kann sich im schlimmsten Falle auf jeden Lebensbereich auswirken und hat Ursachen, die man eben nicht einfach so mal eben vergisst und dann ist alles wieder gut!
Davon abgesehen ist es oftmals ohnehin schwierig, eine ganz klare Diagnose zu stellen – häufig verschwimmen die Grenzen zwischen den verschiedenen psychischen Erkrankungen, sodass man sie gar nicht klar voneinander trennen kann. Wer Depressionen hat, zeigt oft auch Symptome auf, die z.B. eher dem Krankheitsbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung oder einer Posttraumatischen Belastungsstörung zugeordnet werden, aber um eine solche sicher diagnostizieren zu können, werden dann doch wieder nicht ausreichend Kriterien (nach den Klassifizierungen des ICD-10 oder DSM-IV) erfüllt... Was ist schon eine "reine" Depression? Gibt es die überhaupt? Wenn auch nur ein Kriterium für MPS / DIS, BPS oder Schizophrenie spricht (um mal bei den von der Psychologiestudentin angeführten Beispielen zu bleiben), dann ist die Erkrankung aber behandlungsbedürftig und eine Therapie angebracht? Und sonst nicht?
Ich halte das für Schwachsinn, vielleicht sehe ich das aber auch falsch oder denke gerade etwas "zu weit" – keine Ahnung... Wie dem auch sei, ich finde diese Aussagen jedenfalls auch absurd bzw. denke ich, dass sie einfach nicht richtig sind. Es macht den Eindruck, als würde sie das Thema Depression nicht so ganz ernst nehmen oder nicht als "richtige" Erkrankung anerkennen...
Liebe Grüße
Ina