Den Bayerischen Wald, den ich in meiner Jugend -an vier weit voneinander entfernten Orten über eine Dekade verteilt- bewohnte, gibt es nicht mehr.
Das war lange, lange vor der Erfindung des Satellitenfernsehens und noch länger vor der Erfindung des Internet.
Und ebenso lange vor der Öffnung des eisernen Vorhangs, als sich vergessene Dörfer über Nacht in Durchgangsverkehrszentren verwandelten.
Damals war der "Woid" ein Landstrich, in dem sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten.
Eine Region, in der du nach stundenlanger Irrfahrt auf einspurigen Straßen Dörfer und Einöden erreichtest, in denen es weder fließendes Wasser noch Stromanschluss gab, die Leute aus ihren Hofbrunnen schöpften und ihren Generator im Mühlbach rattern ließen.
Im Dorf gab es einen Wirt und bei diesem das einzige Telefon.
Die Jugendlichen dort redeten wie selbstverständlich mit Tieren, Bäumen und Steinen, kannten die Rufe der Rehböcke und Wildschweine und vermochten den Gesang der Vögel zu unterscheiden, beherrschten die Kunst, Forellen aus den Bachläufen zu kitzeln und in Windeseile einen Riesenkorb mit "Schwammerl" zu füllen. Sie kannten die versteckten Plätze der Steinpilze, der "Dowanigl", und den würzigen Sauerampfer.
Sie wussten wie man Feuer macht und wie man es die ganze Nacht durch am Glühen erhält.
Es machte Spass mit ihnen in den Wäldern umherzustreifen, ausgerüstet mit einem kleinen Zelt und Schlafsäcken.
Ich half in jenen fernen Tagen bei der Kartoffelernte, holte Brennholz aus dem Wald und hackte im Winter frühmorgens den eingefrorenen Brunnen frei, trank kuhwarme Milch und verspeiste frischgelegte Eier.
In den jeweiligen Dorfgemeinschaften war die "Hippiekommune" nach realtiv kurzer Zeit des Beschnupperns anstandslos integriert, wurde ab und an auf einen "Ratsch" besucht, sogar eingeladen, und mit Äpfeln, Birnen und Zwetschgen versorgt.
Ich lernte Brot zu backen und Butter zu machen, bestellte einen Gemüsegarten und "kloimte" Brennholz.
Wir lebten -bis auf den Strom- wie vor hundert Jahren, trugen selbstgestrickte Westen und Holzschuhe.
Und es war ein gutes Leben.
Der Bayerwald ist sehr alt, viel älter als die Alpen, und soll früher sogar höher gewesen sein als diese, was sich jedoch meiner Erinnerung entzieht.
Eines aber ist er mit Sicherheit- mystisch.
In den langen Winternächten verwandelt sich sein ansonsten freundlich lebensstrotzendes Antlitz in eine düstere wilde Maske.
Der Glaube an Naturgeister, Perchten, Kobolde und Wichtel wird selbst dem Ungläubigsten zu konkretem Wissen um ihre Realexistenz.
Ein seltsames Völkchen zottiger Mischwesen -halb putzig halb furchterregend- huscht in den Vollmondnächten zwischen den kahlen Stämmen der unendlichen Wälder herum, in den Ställen wärmen sich Trolle und in den Stuben Wanderwichtelmännchen.
Weihnachten im Baierwald ist ein wenig anders als anderswo.
Jede brennende Kerze hat neben ihrem feierlichen Schein auch eine Schutzfunktion gegen irrende "arme" Seelen und bedrohliche teuflische Mächte inne, in einer Art Fusion ersteht vorzeitliches Heidentum aus den uralten Gebräuchen benediktinischer Christianisierung, und in einer Art Zeitsprung versinkt der eingeladene Mitfeiernde irgendwo in den Zwischenräumen von Halbwelten und Unwirklichkeit.
Der bairische Wald hat eine Seele, ohne jeden Zweifel, eine unvorstellbar alte wissende Seele, und wer sie erfahren will, muss lauschen lernen, still werden, er muss klein werden und verschwindend, sein hoffärtig aufgeklärtes Haupt dem Unerklärlichen beugen und sich verneigen vor der Majestät der ewigen Wälder.
Aber wie gesagt, all das war vor den technologischen Errungenschaften der Neuzeit, dem Massentourismus, den großen Wintersportzentren, den Hoteltempelbauten, vor dem Waldsterben, dem Borkenkäfer, vor all dem Wahnsinn eben.
An manchen Tagen erinnere ich mich daran. So wie heute.
Verdammt lang her.