Nur Ruhe - Selbsthilfeportal über Depressionen und Selbstmord

Allgemeines Nur-Ruhe Forum => Gedichte => Thema gestartet von: Sintram am 05 Juni 2010, 15:26:01

Titel: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 05 Juni 2010, 15:26:01
Die Hoffnung stirbt zuletzt

Und wieder ist es Nacht. Am helllichten Tag fiel sie vom Himmel, der sich randvoll mit leeren Versprechungen in lichtes Blau kleidet, als wolle er die Dunkelheit mit gleichgültiger Arroganz ignorieren. Teilnahmslos leckt die Märzsonne an den verkrusteten Schneemassen, die bröselig und zu Eisenglas erstarrt vor sich hinschmelzen, ohne sich um die Ahnung des kommenden Frühlings zu kümmern. Ewiger Winter sind sie und werden sie bleiben für immer.
Die Stare hängen wie Trauben an den Vogelhäuschen, ihr Hochzeitskleid glitzert hilflos und befremdlich in der weißen Wüste erstarrten Lebens. Hoffnungsfroh waren sie zurückgekehrt aus dem fernen Afrika, um die Heimat feindselig und trostlos vorzufinden, die ihnen nichts zu bieten hatte zum Empfang als Kälte, Hunger und Überlebenskampf.

Verheißungsvoll ist die Hoffnung, lockend und verführerisch. Klammheimlich schleicht sie sich heran, schmeichelnd und flüsternd, wirft Traumbilder voll beglückender Schönheit in Geist und Sehnsucht des von ihr Befallenen, verleitet ihn zärtlich dazu, sein erschöpftes Haupt aus dem zähen Staub der Trübsal zu erheben, verzaubert seine Züge und kitzelt ein scheues Leuchten in seine zu Tode ermatteten Augen, lässt zitternd den zarten Keim einer blühenden Zukunft aus dem gefrorenen Boden vergessener Träume sprießen und nährt den Verlorenen mit dem trügerischen Licht eines lebenswerten Morgen.

Doch erst wenn sich der Unglückliche erhoben hat, erst wenn er erste schwankende Schritte tut, erst wenn er schüchtern blinzelnd zu glauben beginnt, an die Wendung zum Guten, an das Vergehen von Leid und Unglück, ja an Heilung und die Chance, doch noch und wider alles Wissen und alle Erfahrung das Wunder von Glück und Freude zu kosten, erst wenn er sich gutgläubig und arglos in den Daseinskampf und die tägliche Unbill des Lebens zurückgewagt hat, erst wenn er den nicht mehr rückgängig zu machenden Entschluss gefällt hat, es noch einmal zu versuchen, ja erst wenn sein Lebenswille zurückgekehrt und wiedererwacht ist, erst dann, wenn es kein Zurück mehr gibt für ihn in die gnädige Losgelöstheit und die taube Leichtigkeit schauernder Resignation, erst dann beginnt das Trugbild zu flimmern, zu verschwimmen, sich aufzulösen ins Nichts einer Fata Morgana.

Erst dann zeigt die Hoffnung ihr wahres Gesicht stetig wiederkehrender Illusion und zerfallender Utopie, erst dann bleckt sie die strahlenden Zähne nackter Wahrheit zu einem höhnischen Grinsen und zerschmettert den wieder zum Leben Erwachten mit der barbarischen und rohen Gewalt eines Blitzes, der den mächtigsten Baum spaltet von der Krone bis in die Wurzel.
Erst wenn der Wiedererstarkte fähig ist, erneut Verzweiflung, Kummer, Schmerz und Leid zu spüren und fühlen, dann und erst dann taucht die schwindende Hoffnung den Bemitleidenswerten bis über den Scheitel in den dunklen, schwarzen, verschlingenden Schlund der Hoffnungslosigkeit, um heimlich, unbemerkt und mit unersättlichem Willen nach Unsterblichkeit den Keim ihrer Wiederkunft ins Zentrum der Nacht zu betten, nie zur Ruhe kommend, getrieben und von unbändiger Dynamik vorangepeitscht, unbesiegbar und ihres Triumphes gewiss, denn immer wird sie bleiben, wiederkehren, auferstehen, die grausame erbarmungslose Marter der Hoffnung.

Und gleich sie uns auch quält und peinigt bis aufs geronnene Blut, klammern wir uns doch an sie und halten verbissen an ihr fest, wie Verfallene und Hörige, ja wie Süchtige, unfähig die Folter ihres Kommens und Gehens zu ertragen und noch viel weniger in der Lage ohne sie zu leben.
So feiern wir denn ihre spärlich sporadischen Erfüllungen wie große Siege und verherrlichen ihre bloße Existenz als Wunder, indes wir ihr zahlloses Trügen, Scheitern, Erlöschen und Sterben verdrängen und totschweigen allüberall und zu allen Zeiten.

Auch die Stare hoffen. Die Hoffnung lässt sie unverdrossen lärmen und schnarren in den kahlen Bäumen, die Hoffnung auf die unbändige Macht der Frühlingswogen, die den versteinerten Boden aufbrechen und Samen freilegen werden, sie zu nähren. Jeder von ihnen hofft für sich, willens und fest entschlossen sich zu paaren und Nester zu bauen, um in der mühseligen Aufzucht seiner Jungen dem ehernen Gesetz des Lebens Tribut zu zollen, jeder einzelne hofft und vertraut, gleich ob er diese Tage schauen wird oder nicht. Das Leben hofft weil es muss um zu überleben.

Ich aber bin des Hoffens müde. Leid bin ich die Hoffnung, so unendlich leid.
Zu oft hat sie mich betrogen, an der Nase herumgeführt, zum Narren gehalten. Zu oft blendete mich ihr goldener Horizont, zu oft täuschte mich ihre lockende Verheißung. Zu oft schwand sie vor meinen Augen als utopisches Trugbild. Zu oft zerplatzte sie wie die Seifenblase eines Traumes. Zu oft starb sie mir unter den Händen weg.
Ich erkläre die Hoffnung für tot. Ein für allemal gestorben ist sie für mich. Ich habe sie begraben. Ich schmücke ihr Grab. Bewahre ihr Andenken. Erlöst bin ich von ihr. Nimmermehr mag sie mich aus dem süßen Nichts der Hoffnungslosigkeit reißen. Nimmermehr mich enttäuschen. Ich habe sie aufgegeben.

Ohne Hoffnung kann der Mensch nicht leben, sagt man. O doch, er kann. Mag sein, dass er nicht überleben wird. Aber leben wird er, jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde. Nichts wird ihn mehr aus der Ruhe bringen, nichts ihn aufschrecken. Kein Untergang und keine Katastrophe, keine Überraschung und keine Rettung. Alles wird er hinnehmen, gleichwertig bedeutungslos. Er ist frei.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 05 Juni 2010, 19:54:38
Umsonst ist der Tod, er kostet das Leben

Wir sind Betrogene. Fiebernd schlüpfen wir aus unseren Käfigen und Gefängnissen, berauscht vom Gefühl wiedergewonnener Freiheit, zerschunden und bucklig von den Jahren unserer Gefangenschaft, den Kammern erdrückender Enge, die uns in ein Schattendasein innerer Emigration zwängten, mit weitausholenden Schritten stoben wir davon- und rennen blindlings in Sackgassen und Fallgruben. Vor Augen nur den Tod, den sicheren Untergang.

Der süße Geschmack der Freiheit wird rasch zur bitteren Galle. Der leuchtende Weg des Glücks verschwindet in bleierner Finsternis. Keine Ungeheuer sind es, die uns den Weg versperren, keine wilden Bestien, die uns in die Ausweglosigkeit treiben, keine Dämonen, die uns in ihre Fallen locken. Nein, es sind Menschen. Ganz gewöhnliche Menschen. Harmlose Zeitgenossen. Durchaus liebenswerte Charakter. Bemüht womöglich sogar.
Für uns aber werden sie zu Scharfrichtern. Weshalb? Etwa weil sie böswillig sind, rücksichtslos, selbstsüchtig, gewissenlos und verdorben? Nein. Weil sie gesund sind.

Ihre Lebenstüchtigkeit ist es, die sie für uns zu Anklägern macht. Ihr gesunder Egoismus, ihre Vernunft, ihre Zielstrebigkeit oder zumindest Fähigkeit zu funktionieren, all das was sie in dieser Welt, in dieser Zeit, in diesem Land und dieser Gesellschaft zum Leben und Überleben brauchen, anwenden und einsetzen, kurzum ihre Normalität ist es, die uns zum Tode verurteilt.

Ihr Überlebenswille ballt sich über uns zusammen wie eine dräuende Gewitterfront, ihre Energie verschüttet uns wie eine Schlammlawine, ihre Tatkraft zermalmt uns zu Staub. Und es gibt kein Entrinnen. Denn sie sind überall.
Ihr Leben, das sie recht und schlecht beherrschen, bringt uns den Tod. Sie aber dulden keinen Tod in ihrer Nähe. Unser Sterben, also wir machen ihnen Angst. Wir erschrecken sie. Denn wir verkörpern das Nichtvorhandensein dessen, was ihre Existenz bedeutet und ausmacht. Sie können leben, irgendwie, und wir, wir können nur sterben. Genau das aber ist es, was sie niemals wollen, was sie verdrängen und aus ihrem Leben verbannen. Wir sind Verbannte.

Wir suchen und ersehnen das, wovor sie sich am meisten fürchten: Den Tod. All ihr Bemühen und ihr Einsatz, uns am Leben zu erhalten, ist in Wahrheit das Trachten nach Vergewisserung, dass dieses Leben lebenswert sei, sinnvoll und schön. Je mehr sie um uns kämpfen, desto weniger sind sie gezwungen sich der Frage zu stellen, ob das, was sie uns vermitteln und beibringen wollen, nämlich das Leben, denn überhaupt einen Kampf wert ist. Weil einzig und allein die Tat und Tatsache uns am Leben zu erhalten Beweis genug ist für sie, auf der rechten Seite sprich der Lebensbejahung zu stehen, sei diese nun gerechtfertigt oder nicht. Denn was sie anderen zu retten versuchen, muss eine Rettung wert sein um der Rettung Willen.

Wer aber nun das Leben als solches in Frage stellt, ist nach ihrem Ermessen fraglos im Irrtum. Ihr Leben selbst ist ihr Recht auf Leben, sei es nun Zwang oder Mühsal, es will um seiner selbst willen gelebt sein mit allen verfügbaren Mitteln und aller Kraft die sie aufzubringen in der Lage sind. Warum das nun so ist, wissen sie selbst nicht zu sagen.

Es ist nun mal so. Der Mensch will leben, das ist gesund und das Leben bis hin zur Tötung aus Notwehr erhaltenswert und eine solche Tat somit zu rechtfertigen. Der Mensch aber, der sterben will, ist in ihren Augen krank und bedauernswert. Seine Gesinnung ist höchstens dann entschuldbar, wenn sein Tod die Erlösung von unerträglichem Leiden bedeuten würde, gerechtfertigt ist sie jedoch damit nicht. Unerklärlich bleibt ihnen die Todessehnsucht, bedrohlich und rätselhaft.

Uns aber ist der unerschütterliche Lebenswille unerklärlich, bedrohlich und rätselhaft. Die ersehnte Erlösung von den unerträglichen Leiden, die uns das Leben bereitet, bedarf viel weniger einer Entschuldigung und Rechfertigung als sie vielmehr zwingende Logik und Konsequenz für uns bedeutet.

Ich für meinen Teil bin einer dieser ungeliebten Fremdkörper im Organismus des Lebens. Das Leben um seiner selbst willen ergibt keinerlei Sinn für mich. Es ist mir zutiefst suspekt und fremd. Ich erlebe es als feindlich und feindselig. Es sei denn, ich entmachte es durch das, was ihm im Grunde zutiefst innewohnt und Teil seines Wesenskerns ist: Bedeutungslosigkeit. Wichtigkeit erschlägt mich. Sorge raubt mir den Atem.

Das Leben um seiner selbst willen aber bedeutet nichts als Sorge. Also kann ich Sorglosigkeit nur durch Nihilierung des Lebens um seiner selbst willen sprich des Überlebenskampfes erlangen. Sorglosigkeit macht frei. Die Freiheit jenseits der sogenannten Daseinsbewältigung aber ist die einzig wirkliche Form von Freiheit, da sie nicht an das Leben gefesselt ist. Die letzte Erfüllung und Vollendung der Freiheit ist somit der Tod. Das Leben ist Versklavung an den Überlebenskampf, nichts weiter. Und der Tod die einzige Erlösung davon.

Dies ist meine Erkenntnis, gewonnen aus Erfahrung. Die Gesunden nennen mein Denken krank. Aber ist ihr Wille, um jeden Preis überleben zu wollen, denn wirklich gesund? Oder ist er nur die Ausgeburt ihrer Angst vor dem Tod? Was macht ihre Einstellung wertvoller und erstrebenswerter als meine?
Sie wollen mich dazu bringen leben zu wollen wie sie, um mich als gesund, wiederhergestellt und geheilt entlassen zu können. Könnte ich nicht mit dem selben Recht versuchen sie dahin zu bringen sterben zu wollen wie ich?

Um sie wohin zu entlassen? Nun, in die Ahnung, dass sie im Irrtum befindlich sein könnten. Denn meines Wissens diktiert der Sieger die Bedingungen. Und der Tod ist allemal Sieger über das Leben, zumindest über das irdische. Denn wir sind alle sterblich und sterben auch irgendwann. Ausnahmslos und ganz gewiss. Jeder Sieg im Überlebenskampf bedeutet also lediglich Lebensverlängerung und Aufschub des Unausweichlichen.

Reicht das, um all den alltäglichen Wahnsinn zu rechtfertigen?
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 06 Juni 2010, 08:00:26
Der ganz normale Wahnsinn

Die Funktionstüchtigen sind es, die mich zu Schrott degradieren, mag ihr Rädchen auch eine Vernichtungsmaschinerie globalen Ausmaßes am Laufen halten, sie drehen sich. Das genügt, um ihnen das Lebensrecht zu verpassen, das sie mir, dem Durchgedrehten, absprechen.
Ich bin auf der anderen Seite der Glasglocke, hinter der sie sich verbergen, stehe ungeschützt jenseits der unsichtbaren Mauer, hinter der sie sich verschanzen. Vor den Befestigungsanlagen ihrer Seelenburgen liefern sie mich dem Tode aus, teils mit Gewissensbissen, teils mit selbstgerechter Grausamkeit.

Wo lebe ich? Wo befinde ich mich? Das Dachkämmerchen, das mir in den ersten Wochen Ort der Zuflucht und Sicherheit zu sein schien, verwandelte sich Woche für Woche, Tag für Tag und Stunde um Stunde in eine Gefängniszelle, einen Hungerturm, einen Todestrakt. Und nun, da meine Nichte neben mir eingezogen ist, um mir durch die Pappwände den Schlaf zu rauben, da mich Todesschreie, Explosionen und Schüsse billiger DVD- Produkte bis in die frühen Morgenstunden traktieren und demoralisieren, liege ich wehrlos ausgeliefert in einer raffinierten Folterkammer, ein Opfer subtilen Psychoterrors erster Güteklasse.
Denn es wäre ein Verstoß gegen die Menschlichkeit und ist somit ein Ding der Unmöglichkeit, diesem spätpubertierenden infantilen Riesenbaby im Körper einer Frau und stets am Rande der Hysterie ihren letzten und einzigen Hort der Geborgenheit zu rauben durch Klopfzeichen, Beschwerden und höfliche Bitten, die ohnehin Opfer kurzlebigen Entgegenkommens sind. Außerdem: Auch gedämpfte Detonationen dringen in den seichten Schlaf, auch unterdrückte Schreie schneiden ins Unterbewusste.
Und leider bin ich auch unfreiwilliger Ohrenzeuge ihrer Verzweiflungsanfälle, wenn sie sich -unverstanden und ungerecht behandelt oder auch nicht- die Augen aus den Höhlen weint. Leider nicht ins Kissen, wie sich ´s eigentlich gehört. Nein, durchs Megaphon. Mitleid entwaffnet mich.

Die Normalen um mich her sind vollkommen irre. Schleiche ich in die Küche, sozusagen als Flurgang, laufe ich meinem Neffen in die Arme –o nein, ich werde keine Namen nennen- einem altklugen gefühlblockierten jungen Mann, der keine Gelegenheit auslässt, um mir mit einer bissigen Bemerkung einen Dolch in den Rücken zu stoßen. Gut versteckt unter dem Deckmäntelchen spöttisch wohlmeinenden Humors, ein übles Erbe seines nichtsnutzigen Vaters, den er vergöttert, zumindest seit meine Schwester ihm nach jahrzehntelangem Martyrium den Laufpass gegeben hat.

Meine arme große Schwester. Chronisch überfordert, kontinuierlich am Rande des Nervenzusammenbruchs, mit einem Fuß im Burn Out Syndrom, den Tinnitus im Ohr und die Erschöpfung im Gesicht, so hängt sie Abend für Abend mit schlaffen Wangen im Fernsehsessel.
Auf verlorenem Posten, ist sie dennoch mit betonhartem Willen entschlossen, diesem Chaos, das sich Familie nennt, den Schein einer harmonischen Ordnung überzustülpen. Und ihre Bälge ganz nebenbei nach allen Regeln der Aufopferungskunst zu Faulheit und Unselbständigkeit zu erziehen, um nur ja und um jeden Preis die fürsorglich mütterliche Kontrolle zu behalten.

Ihr zweiter Sprössling behandelt sie folgerichtig wie eine Dienstmagd. Seine respektlosen Unverschämtheiten erfüllen mich mit Abscheu, Empörung und Fassungslosigkeit, noch mehr aber entsetzt mich die devote Resignation, mit der seine Mutter dieselben schluckt.
Deeskalation. Ihr pädagogisches Zauberwort. Und nebenbei ein krisenfester Fulltimejob, denn eine Eskalation jagt die andere. Mir kommt immer wieder mal ein - etwas beschämend- anders geartetes pädagogisches Konzept in den mürben Sinn. Eine ordentliche Tracht Prügel. Taschengeldentzug. Wenigstens eine Ohrfeige. Ein unmissverständliches klares scharfes Wort. Aber derlei Anachronismen kennt die antiautoritäre Erziehung nicht.
Und das nicht ohne Grund. Geschlagene Kinder schlagen entweder selbst oder gar nicht. Wie auch immer, der machistische Chauvinismus, der sich wie ein Krebsgeschwür im Denken und Verhalten meines Neffen breit macht, ist auf jeden Fall mittelalterlich.

Eigentlich der verhängnisvollen Konstellationen genug, um den Alltag in diesem ganz normalen Wahnsinn, der sich Tag für Tag in monotoner Beharrlichkeit durch Geschrei, Heulen und Jammern, Türknallen und Kreischen manifestiert, zu einer Art Vorhölle geraten zu lassen.

Aber da gibt es noch die Krönung des Desasters, sozusagen die dunkle Macht im Hintergrund, die die Fäden in diesem Tollhaus zieht, weil sie die Mutter in der Hand hat wie keines der Geschwister. Der Erstgeborene, der lebensuntüchtige, hilflose, verzweifelte junge Mann, wie seine Mutter mit dem erbitterten Zorn einer Bruthenne zu betonen nicht müde wird, in Wahrheit jedoch ein durchaus nicht ungefährlicher Soziopath, berechnend, empfindungslos, mit allen Wassern der Überlebenskunst gewaschen, andauernd in der Lage, auch außerhäuslich die Sache zu seinen Gunsten zu manipulieren, jeder Krankheitseinsicht bar, bis zum Äußersten fähig, seinen Leidensdruck zum eigenen Vorteil zu verwenden, suggestiv und meisterhaft getarnt mit der goldenen Rüstung des guten Willens, den aufzubringen ihn alle verfügbare Kraft kostet, so dass zur Umsetzung seiner beteuerten Vorsätze mit schier zwingender Logik dieselbe fehlt. Harmlos und kumpelhaft im Auftreten, fast charmant, gelingt es ihm glänzend, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und alles und jedes andere Geschehen im Raum tot zu quasseln.

Es ist nicht die Tatsache, dass ich die Mitbewohner um mich her kenne, meine Schwester seit meiner und ihren Nachwuchs seit ihrer Geburt, die mich lähmt. Nicht der Umstand, dass ich diese jungen Erwachsenen als entzückende Kleinkinder erleben durfte, nicht die Erinnerung, mit ihnen gespielt, gebalgt, getobt und gescherzt zu haben machen mir ein Eingreifen unmöglich. Nicht die Vergangenheit zwingt mich zur Tatenlosigkeit.

Ebenso wenig hindert mich die Wirklichkeit daran, dass ich jedes dieser Individuen - insbesondere meine Schwester- für sich genommen als liebenswerte Zeitgenossen empfinde, gegen diesen Zustand permanenter Verzweiflung vorzugehen mit der geballten Ladung meiner Menschenkenntnis und Lebenserfahrung.

Nein. Nicht das Gestern und nicht persönliche Befangenheit zwingen mich zum schweigenden Erdulden des Terrors ohne Hoffnung auf Veränderung geschweige denn Verbesserung. Es ist schlicht und ergreifend so, dass eine Einmischung meinerseits unerwünscht ist, weil dieser Irrsinn nämlich tatsächlich funktioniert.

Bei keinem Beteiligten ist der Leidensdruck groß genug, um auszubrechen aus diesem Teufelskreis. Der Vorteil, den jeder für sich dabei herausholt, hingegen durchaus, um das Unerträgliche zum Unvermeidlichen zu stilisieren und das Zerstörerische zum Produktiven umzufunktionieren.

Kurzum, alle sind im Grunde leidlich zufrieden mit ihrer Situation, der Raum für Selbstbehauptung und Bedürfnisbefriedigung ist groß genug, um nicht ganz auf der Strecke zu bleiben.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 06 Juni 2010, 08:07:27
Im Gegenteil, jeder holt sich, was er kriegen kann. Das genügt ihnen allen. Jedem für sich.
Bei eingehender Betrachtung sind sie nichts als ein Spiegel dieser irrsinnig gewordenen Gesellschaft, ein verzerrter und überzeichneter vielleicht, dennoch ein deutliches und klar umrissenes Abbild dieser krank und seelenlos gewordenen Welt.
      
Die Pflegetochter als Fünfte im Bunde versteht es sehr gut, sich mit der notwendigen List und Teilnahmslosigkeit und bisweilen nicht ohne verstohlene Erheiterung in den Drehwurm dieses Narrenkarussells einzugliedern. Sie hat endlich ein Zuhause, Geschwister, eine Leihmutter, die ihr Aufmerksamkeit und Fürsorge widmet, ein eigenes Zimmer und die lang vermisste Sicherheit bürgerlicher Existenz. Ein triftiger Grund, nicht zuletzt die Eifersuchtsattacken meiner Nichte zu ertragen.

Zu guter Letzt winselt da noch der obligate Hund, ein tollpatschiges schwarzes Kalb, tierheimgeschädigt und verhaltensgestört, was jeden seiner Freigänge mit ihm zum Abenteuer und Nervenkrieg macht, um das gepflegte Chaos stimmig abzurunden.

Fehlt noch die Untermieterin, eine junge Türkin. "Die sind ja so laut," sagt sie einmal zu mir, "ich bin ja den ganzen Tag weg, aber du, wie hältst du das nur aus?" Gute Frage. Wie meinte noch mein Freund beim Umzug? Die sind doch ganz nett, wenn sie nicht grade streiten. Das Problem bei der Sache ist nur, dass sie immer und unablässig am Streiten sind, und frag nicht wie.

Ein Abziehbild. Eine billige Kopie. Ein lausiges Remake. Schlechte Darsteller. Dramaturgisch banal. Das Original war wenigstens existenziell. Kriegstraumatisierter Vater schlägt Kinder, ideologieverseuchte Mutter peinigt sie mit Psychoterror, Katastrophenehe, Geldnot, Angst, Gewalt, fünf verlorenen kleine Seelen kämpfen in einem Irrenhaus - ach was im Herzen der Hölle- ums nackte Überleben. Bei aller Tragödie, das hatte was.

Aber das hier... Eigentlich geht’s allen vergleichsweise blendend. Der versoffene Vater ist aus dem Haushalt verschwunden, es herrscht keine Gewalt, kein Krieg, keine chronische Angst. Die jungen Erwachsenen genießen Freiheiten, von denen ich nicht einmal zu träumen wagte. Und trotzdem machen sie sich gegenseitig das Leben schwer. Warum nur um alles in der Welt?

Andrerseits, das Schwesterherz gab sich lange Jahre mit der Nachahmung ihrer Eltern zufrieden. Mann geht fremd, säuft, schlägt und so weiter. Sie brach spät aus, offenbar zu spät. Der Kolateralschaden, den der Erzeuger bei dieser Bande hinterließ, scheint irreversibel sprich irreparabel.

Gott straft die Sünden der Väter bis ins dritte Glied. Steht irgendwo in der Bibel. Sieht ganz danach aus. Der Fluch dauert fort. Wer kann ihm entkommen und wie?
Aber es wäre zu billig, alles auf ihn zu schieben. Was mir am erschreckendsten erscheint bei all der hilflosen Analyse, ist der Gedanke, dass die einfach so sind wie sie sind. Aber so kann man doch um Himmels Willen nicht sein.

Oder etwa doch?

Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 06 Juni 2010, 18:26:01
Ein verbranntes Kind scheut das Feuer

Das Quäntchen zuviel. Immer ist es dieser eine letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Steht nicht geschrieben, dass Gott dem Menschen gerade so viel an Last und Leid auferlegt, wie er zu tragen in der Lage ist? Warum macht er gerade bei mir die Ausnahmen, die seine goldenen Regel bestätigt? Denn eins ist gewiss: Ich ertrage es nicht.

Stets werde ich über meine Kraft geprüft und versucht. Es ist ungeheuerlich, was ich bis zu diesem Punkt erdulden muss, es kostet mich alle Beherrschung und Selbstüberwindung, die ich aufzubringen willens und fähig bin, bis zum äußersten Punkt bin ich gefordert, angespannt und gequält, mit eisernem Willen bleibe ich stehen, wo ich hingestellt bin und tue alles Erdenkliche, um nicht zu fallen, bezwinge den Kummer, den Schmerz, die Not und die Angst, überwinde mich und alles Menschenmögliche, das es zu überwinden gilt, um endlich jenen Punkt zu erreichen, jenes Ziel, an dem alles erreicht, überstanden und erlöst ist, ja gut wird, friedlich und schön, an dem ich Aufatmen kann, loslassen, seufzen und ausruhen.

Und dann ist es da, das Menetekel, wie ein Fluch, ein unentrinnbares Los, jenes Quäntchen unvorhergesehenes Leid, ein kleines Missgeschick vielleicht, eine unbedeutende Verzögerung, ein Unglück oder einfach nur eine Widrigkeit, die zu besiegen mich am Anfang des Weges ein Augenzwinkern und Achselzucken gekostet hätte, nun aber mit vernichtender Wucht alle bisherigen Kraftanstrengungen und alle Mühsal vergeblich werden lässt und mich zerschmettert, auslöscht, niederstreckt.

Immer dann, wenn jene völlige Erschöpfung eintritt, dieses Ich kann nicht mehr, wie gut, dass es überstanden ist, stellt sich heraus, dass es länger dauern, schwieriger werden, anhalten wird. Und alles was bleibt ist der endgültige Zusammenbruch.

Alle Kräfte sind aufgebraucht, die letzten Reserven verbrannt, der letzte Tropfen Wasser auf meiner Zunge verdampft, zu Tode erschöpft erreiche ich nach entsetzlicher Wanderung durch die Wüste das vermeintliche Ziel. Doch dieses verhöhnt mich mit grinsender Grausamkeit, das Wasserloch ist leer, die rettende Straße fortgespült, das bergende Lager verlassen. Und alles, was mir noch übrigbleibt, ist mich hinzulegen und ergeben auf den Tod zu warten.

Die Behüteten sagen, ich solle dem Leben trauen und wenn nötig auf ein Wunder warten, und weiß Gott das tue ich. Aber das Leben betrügt mich und das Wunder geschieht nicht, bis ich allen Glauben an das Leben verloren habe und alle Hoffnung auf ein Wunder aufgegeben, mich in mein Schicksal füge und aufgebe.
Erst wenn ich endlich gestorben bin, ja tot, zwingen sie mich ins Dasein zurück, mit unerbittlicher Beharrlichkeit nötigen sie mich erneut zu leben. Ein Leben, das ich hassen muss in der Gewissheit, seiner nie mehr froh werden zu können.

So war es immer und oft genug, um mich daran zu gewöhnen. Noch während ich also ums Überleben kämpfte, schloss ich damit ab, noch während ich rang, gab ich bereits auf. Das Wasserloch ist leer, was auch sonst? Die Straße verschwunden, na klar. Das Lager verlassen, logisch. Langsam aber sicher gewöhnte ich mich an die Vergeblichkeit des Seins ebenso wie ans Sterben. Und lebte gut damit.

Doch diesmal war alles anders. Ich war nicht allein. Zum ersten mal in meinem Leben war ich nicht allein. Das Alleinsein war zeitlebens meine einzige Erfahrungstatsache, meine empirische Basis, ich kannte sonst nichts. Ganz gleich mit wem ich zusammenlebte und wie lange meine Tage verbrachte, im Innern meines Herzens war ich stets vollkommen allein, unverstanden und verlassen.

Im Laufe der Zeit war mir die Einsamkeit zum Ort der Sicherheit geworden, zur Stätte der Zuflucht und Ruhe, in der ich –in scheinbar trauter Zweisamkeit lebend- mein eigenes verborgenes Leben lebte, im Geheimen und Unerkannten. Denn hätte ich dieses mein wahres Wesen, ja mein Ich, offenbart, es hätte mich dasselbe gekostet.

Nun aber war ein Mensch in dieses mein Refugium eingedrungen, ein Gegenüber, das mich durchschauen konnte, weil ich mich ihm offenbart und geöffnet hatte. Ich war der Liebe begegnet, der einzigen, großen und wahren, deren Erfüllung unendliches Glück bedeutet und deren Nichterfüllung unweigerlich den Tod.

Nicht der Liebe meines Lebens, sondern meinem Leben selbst, dem Menschen, in dem ich mich vollendet wiederfand und erst vollendet und vollständig wurde, der Liebe an sich, die ewig ist und immer und für immer sein will.
Ich war meiner Frau begegnet, die wahrhaftig meine Frau ist, für mich geschaffen und geboren, so wie ich für sie geschaffen und geboren bin. Meiner Frau, ohne die ein Weiterleben nicht undenkbar, sondern schlicht unmöglich ist, weil ich im tiefsten Wesenskern meines Selbst mit ihr verschmolz im ersten Augenblick der Begegnung.

Ich hatte den Glauben an ihre Existenz längst aufgegeben, gründlich und endgültig, als ich dies Wunder erfahren durfte, ja als es mir widerfuhr ohne meinen Willen und wider alle Erwartung und Erfahrung.

Was aber durchfährt den Todgeweihten, wenn er unerwartet das Leben schmeckt? Was kriecht aus seinem vergessenen Winkel hervor, erst leise und raunend, dann murmelnd und flüsternd, zuletzt mit klarer schneidender Sprache und gellenden Schreien? Es ist die Angst, das Gefundene, das nie erahnte und längst nicht mehr erhoffte Glück, das er geschmeckt hat und nun für immer schmecken will, wieder zu verlieren.

Was seinen endgültigen Tod bedeuten würde, nur ist es nunmehr kein gelassenes ruhiges Sterben mehr, sondern ein Verrecken in der unsäglichen Qual nackter und vollkommener Verzweiflung, das ihm bevorsteht, da er den Sinn seines Lebens gefunden und seine Bestimmung erlangt, nur um sie endgültig zu verlieren.

Mächtig ergriff diese Angst Besitz von mir, peinigte mich bis aufs Blut. Schlich sich in meine Gedanken und Gefühle, besetzte mich und trieb mich in den Wahnsinn, Schritt für Schritt und unaufhaltsam.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 07 Juni 2010, 07:47:15
Mit fliegenden Fahnen in den Abgrund

Glück, Zufall, ein rettendes Eingreifen der Engel und nicht zuletzt die Macht der Liebe verhinderten die Verzweiflungstat meiner Frau. Nach einer Gattin und einer Lebensgefährtin werde ich sie fortan meine Frau nennen, da sie wirklich meine Frau ist und bleiben wird für immer.

Meine Frau also gestand mir ihren Entschluss im letzten Augenblick und nur wenige Stunden vor seiner Ausführung. Mit den vermaledeiten Tabletten, die ich zum Klo hinunterspülte, schwemmte ich meinen Lebenshass hinweg, vom Donner gerührt und in der Erschütterung des schweren Schocks.
Die Aufarbeitung meiner Vergangenheit und die Pein meiner Krankheit rückten in den Hintergrund. Nun galt es, das Leben meiner Frau zu retten, das auf Messers Schneide stand und auf der Kippe. Und ich wollte alles, was ich nur immer konnte, ja mein Leben, daran setzen dies zu vollbringen.

Also beendete ich meinen Klinikaufenthalt vorzeitig, um ihr denselben so rasch wie möglich zu gewährleisten, da es technisch und organisatorisch unerwünscht und unmöglich war, ein Paar gleichzeitig im selben Krankenhaus zu behandeln.
Alles geschah selbstverständlich im Einvernehmen mit meinem Psychiater, der mich ohnehin für geheilt betrachtete. Wir gaben uns regelrecht die Klinke in die Hand. Ich kehrte in meine Folterkammer zurück, sie in ihr Schmerzenshaus unter die Obhut der Ärzte, Seelenklempner, Psychologen und Therapeuten.

Die Angst aber, die in mir gärte, hatte ihr Werk der Zerstörung grade erst begonnen. Ungehindert setzte sie ihren Siegeszug fort, da ich medikamentös nackt da stand.
Jeder, der nicht kennt, was ich erfahren musste, möge Gott, dem Leben oder sonst einer höheren Macht auf Knien dafür danken, keine Ahnung davon zu haben. Er möge mit allem was er an Demut aufzubringen in der Lage ist darum bitten, es nie kennen lernen zu müssen.
Denn was mir bevorstand, war die realexistierende Hölle auf Erden, und ich bin Zeuge, dass es an menschlicher Erfahrung nichts gibt, was an Schrecken und Qual mit ihr zu vergleichen ist, keine körperliche Krankheit, keine Verwundung im Krieg, kein Hunger und Durst, keine Verfolgung und keine irdische Drangsal. Denn so hoch die Freuden des Himmels über denen der Erde stehen, so tief toben die Leiden der Hölle unter denen der Welt.
Ein unzählig Vielfaches an Angst, Pein, Schmerz und Not bedeutet der Abgrund der Höllenqual einer Depression vor denen, die die Erde ansonsten sieht. Der Himmel verspricht vollkommene Glückseligkeit, die Hölle aber ist vollkommenes und absolutes Entsetzen.

Der klare Gedanke ist es, der uns durchs Leben geleiten sollte. Immer wieder taucht er aus dem Äther einer Sternennacht auf und weist uns den Weg zur Entscheidung. Ich konnte mich stets auf ihn verlassen, und waren die Entschlüsse, die seiner Eingebung folgten, auch nicht immer die einzig richtigen, so waren sie zumindest einer von mehreren möglichen. In der Bewältigung der Folgen konnte ich meinen Weg fortsetzen und kam weiter, Schritt für Schritt durch Höhen und Tiefen, aber stetig voran. Der klare Gedanke war der letzte treue verbliebene Freund, auf den ich mich verlassen konnte.

Wenn es aber nun dem trügerischen Gedanken gelingt, den klaren zu überwältigen, zu fesseln und knebeln und in ein dunkles Kerkerloch zu sperren, ihn seiner prächtigen Kleider zu berauben um sich selbst damit zu kleiden und als Bote des Lichts und der Wahrheit einher zu schreiten, so geraten wir in seine Gewalt. Wir werden hilflose Opfer seiner Verblendung und Täuschung, ein Spielball vorgegaukelter Entscheidungen, die in Wahrheit nicht existieren, ein willenloser Sklave im Krieg gegen imaginäre Feinde und bedrohliche Mächte, die nichts als Abbild unserer Verwirrung und Orientierungslosigkeit sind, ja gegen Windmühlen, die zu gräulichen Riesen werden. Wir beginnen um uns zu schlagen nach unsichtbaren Geistern.

Angst und Furcht verleiten uns zu unbedachten Worten und blindwütigen Taten, wie ein blutrünstiger unersättlicher Dämon tobt die Einflüsterung in unserer Seele, und wir verfallen Wahn und Irrsinn mit jedem Schlag unseres erdrückten Herzens. Wir verlieren unser Selbst im Wirrwarr der Trugbilder.
Schenken wir der Lüge Glauben, vernichten wir die Wahrheit und sind Verlorene. Der Abgrund, der sich auftut in uns, hat keinen Boden. Er ist unendlich.

Das Eingeständnis eigenen Versagens führt den Menschen in die Freiheit. Selbsterkenntnis löst ihn aus den Verstrickungen der Selbsttäuschung und bringt ihn auf dem Weg der bitteren Einsicht zu sich selbst zurück. Auf den Weg der Wiedergutmachung und des Neubeginns. Dieser Akt jedoch erfordert Kraft und Substanz, seien sie spiritueller Natur oder Folge der reinen Vernunft.
Ist diese Reserve nicht vorhanden, bleibt auf Grund von Erschöpfung und Ausweglosigkeit nur der vermeintliche Ausweg der Schuldzuweisung. Der Grund und die Ursache zahllosen Übels. Der Auslöser von Familienfehden, Bürgerkriegen und Mord aller Art und Collier.

Selbstgerechtigkeit und Herrschsucht haben zwei scheinbar gegensätzliche Erzeuger. Die Selbstherrlichkeit und den Selbstverlust. Beide jedoch sind nur zwei Seiten ein und derselben Münze: Dem Taler der Unfähigkeit zu Selbstkritik und Hinterfragung.
Ich war gefangen in der Verdrängung meines Unvermögens und steigerte mich unaufhaltsam hinein in das fanatische Unterfangen, die Schuld überall und bei allen zu suchen, nur nicht bei mir selbst.

Es gibt mehrere Wege, in die Hölle zu gelangen. Dieser ist der sicherste.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 07 Juni 2010, 13:38:57
Der Mensch ist des Menschen Wolf

Ein ansonsten gutmütiges und friedfertiges Tier verwandelt sich in eine geifernde Furie, wenn es sich von Angreifern in die Ecke gedrängt fühlt. Ebenso verhält es sich mit dem Menschen. Da aber dieser nun die Fähigkeit der Abstraktion besitzt, pflegt er seine Aggression für gewöhnlich ins Verbale zu tradieren. Ebenso erging es mir.

Da ich aber nun vor mir selbst nicht als tollwütiger Hund erscheinen wollte, tarnte ich meine Eskalationen unter dem allzeit verfügbaren Deckmäntelchen der Fürsorge und Hilfsbereitschaft.
Zu meiner Verteidigung sei angeführt, dass ich den Gedanken, durch meine Egozentrik meine Frau an den Rand des Todes getrieben zu haben, schlicht nicht ertrug. Der Eifer der Wiedergutmachung jedoch deformierte mich zum Kontrolleur und Psychoterroristen.

Ich wurde für meine Frau zum Albtraum.

Es begann damit, dass ich die Ursache ihrer Verzweiflung und tiefen Leidens dort suchte, wo ich sie bei mir ausgemacht zu haben glaubte: Im Elternhaus, ihrer gescheiterten Ehe, sprich ihrem Exmann und dem gesamten sozialen Umfeld. Dieser zugegebenermaßen reichlich ignoranten und gefühlstauben Personengruppe –zumindest was die Probleme meiner Frau betraf – unterstellte ich in meiner geistigen Raserei sowohl böse Absicht als auch regelrecht teuflische Züge.
Mit aller Gewalt versuchte ich, meine Frau aus dieser Umgebung zu befreien, auch gegen ihren Willen, ja sie ihrer bisherigen Heimat zu entreißen, um ihr Leben zu retten.

Damit nicht genug. Ich verdächtigte ihren Vater des sexuellen Missbrauchs und ihre Mutter der Mitwisserschaft, während ihr Ex in meiner Reflexion mehr und mehr die Züge eines feigen skrupellosen Opportunisten annahm, den zu bekriegen und über dessen wahre Natur meiner Frau die Augen zu öffnen mir zur heiligen Pflicht wurde.

Zugegeben, die eine oder andere Erfahrung diesbezüglich festigte meine vorgefasste Meinung, aber weder kannte ich die betreffenden Personen, noch gaben sie mir Anlass zu einer derartigen Annahme, vom „normalen“ Trennungsstress einmal abgesehen. Ich erachtete die bloße Existenz dieser Menschen als akut lebensbedrohlich für meine Frau, als pures Gift für sie, und versuchte folglich mit aller Kraft, diese zu einer völligen Kontaktsperre zu nötigen in der felsenfesten Überzeugung, um ihr Leben zu kämpfen.

Ihr verständlicher Widerstand bestätigte mich lediglich in der sicheren Erkenntnis, wie mächtig und bedrohlich der subtile Einfluss der Unbekannten und ihre Kontrolle über meine wehrlose und uneinsichtige Frau in Wahrheit sei. Schließlich bezichtigte ich sie offen der Tötungsabsicht, weil eine tote Tochter besser sei in ihren Augen als eine geflohene, ohne mir auch nur im Entferntesten der Ungeheuerlichkeit dieses Irrsinns bewusst zu sein. Ich war mir meiner Sache sicher.

Ebenso wenig zog ich es also in Erwägung geschweige denn Betracht, mich möglicherweise verrannt zu haben oder gar den Verstand verloren. Dass die Wachträume, Bilder und Visionen meiner längst schlaflos durchwachten Nächte nicht Ausdruck außergewöhnlich therapeutischer Begabung sondern gewaltiger Umnachtung waren, blieb mir dementsprechend völlig verborgen, im Gegenteil, ich wies derartige Unterstellung empört von mir.

Ich war besessen von der Mission, das todbringende Vorleben meiner Frau restlos zu eliminieren und sie ausschließlich und umfassend an meine Person zu binden in der unerschütterlichen Überzeugung, dass dies und nur dies das Beste sei für sie.

Da aber meine Frau gottlob eine eigenständige Persönlichkeit ist, die selbst zu beurteilen weiß, was in ihrem Leben an nötigen Schritten zu tun ist, und sich akkurat weigerte, den Kontakt zu ihren Eltern und insbesondere ihrem krebskranken Vater abzubrechen, geriet ich in den Zustand gedanklicher und verbaler Tobsucht, den niederzuschreiben mir der Anstand verbietet. Nur so viel: Attila war ein Waisenknabe.

Der Mensch ist des Menschen Wolf, so sagt man seit dem alten Rom. Wenn er es doch nur wäre, dieses scheue, vorsichtige, soziale, solidarische und kluge Rudeltier.
Der Mensch ist kein stolzer, kühner Wolf, der sich vor dem Menschen hütet. Er ist ein nackter, entarteter Affe, verschlagen und heimtückisch, hochintelligent und unberechenbar. Er tötet Artgenossen nicht aus nackter Not, sondern aus niedrigsten Beweggründen wie Habgier, Eifersucht und Herrschsucht. Er hat nur einen Feind, der ihm wirklich gefährlich werden kann: Sich selbst.

So wurde auch ich mein ärgster Feind. Da das Vertrauen meiner Frau einen tiefen Riss erlitten hatte, dessen schwärende Wunde sie mit Verlustangst und Zorn quälte, suchte sie mit dem Mut der verzweifelt Liebenden Gewissheit. Ein sicheres und verlässliches Zeichen von Zuneigung und Liebe ist die Eifersucht, ein Wesenszug nicht allein der menschlichen Natur.
Auch Tiere eifern. Doch diese tun es ungehemmt und schamlos, während der Mensch stets bemüht ist, sie hinter allerlei rationell nachvollziehbaren Beweggründen zu verstecken. Worin ich eine gewisse Meisterschaft entwickelte.

Für meine Frau hingegen, die mich an der Nase herumführte und im Grunde zärtlich neckte, ohne sich in Wahrheit auch nur am Rande ernsthaft für einen anderen Mann zu interessieren, schon gar nicht für einen ausgemachten vermeintlichen Rivalen, bedeutete meine rasenden und lodernde Eifersucht, die mich zu allerlei unkontrollierten Gefühlsausbrüchen und Verschwörungstheorien hinriss, Sicherheit und das glückliche Empfinden, geliebt zu sein. Da ich meine Entgleisungen immer wieder erfolgreich relativierte, konnte sie nicht ahnen, wie sehr ich in Wirklichkeit darunter litt.

Auch hier resultierte mein Empfinden aus bittersten Erfahrungen, Vertrauen zu fassen war genaugenommen ein Ding der Unmöglichkeit für mich, der mir die Frauen regelmäßig und beharrlich Leid zugefügt hatten. Alle Schmerzen und Enttäuschungen der Vergangenheit brachen über mich herein, und ich, der ich als Supertherapeut meine Frau in die Freiheit entführen wollte, saß im Kerker meiner Erinnerungen und Prägungen, todwund und in die Ecke gedrängt, ein gefährliches, angriffsbereites Tier.

All diese Prozesse entwickelten sich per Telefon. Nur unsere Stimmen gaben uns die Gewissheit von Nähe. Unsere Mails waren die sichtbare Verbindung. Ansonsten spürten wir uns unentwegt. Dennoch war das Handy Rückhalt und Versicherung. Leider auch Folterinstrument.

Aber auch viel Gutes vermochte ich zu tun in den klaren Stunden meiner schleichenden Erkrankung. Ich konnte Trost zusprechen, Mut machen, zuhören, scherzen und lachen, auffangen, beruhigen und liebkosen. Ich fand auch die rechten Worte in diesen Phasen, die Liebe lehrte sie mich und gab sie mir ein. Nicht nur einmal war ich Hort der Zuflucht und Geborgenheit.

Ich ging den Leidensweg meiner Frau mit, die durch die Torturen intensiver Therapien gezerrt wurde, und wir fanden uns im gemeinsamen Erleben der unsäglichen Qual der Seelennacht vereint und stark.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 08 Juni 2010, 08:39:25
Der von einem Dämon besessen war

Die Entscheidung zum Freitod war gefallen in meiner Seele Jahre bevor ich per Internet im Austausch eines Depressionsforums, in dem ich mir die nutzlose Zeit vertrieb, meine Frau fand, unerwartet und auf geradezu wundersame Weise. Dieser einmal gefällte Entschluss hatte einen Prozess in meinem Innern freigesetzt, der mich unaufhaltsam verformte und in Folge des erloschenen Lebenswillens dem Tod in die erlösenden Arme trieb ohne Halt und Umkehr.

Nun aber, da ich endlich den Sinn meines unsteten Daseins, ein Leben an der Seite meiner vom ersten Augenblick an über alles geliebten Frau, gefunden hatte, suchte ich mit dem Mut der blanken Verzweiflung nach einer Möglichkeit, dieses zu verwirklichen und möglich zu machen.
Da ich aber seit Jahren nichts und wieder nichts an Offerten vor mir sah und all meine Wege konsequent in die Vernichtung führten, stürzte mich das Bewusstsein vollkommener Ausweglosigkeit, das mir bisher Hort der Ruhe gewesen war, in die Hölle geistiger Verwirrung. Ich zerbrach an dem Wissen der Unerfüllbarkeit der allumfassenden Liebe zu meiner Frau.

Plötzlich wollte ich wieder leben und sah gleichzeitig, dass kein Leben mehr möglich war für mich und uns. Meine Gedanken kreisten ziellos um dieses Ding der Unauflösbarkeit, bis sie schließlich im schrillen und aberwitzigen Rasen eines Kettenkarussells jede Verbindlichkeit und Substanz verloren.

Ich fällte jeden Tag eine Entscheidung, überzeugt von ihrer Richtigkeit und ebenso ohne die geringste Hoffnung auf irgend eine Möglichkeit ihrer Umsetzung, verwarf sie hierauf gründlich und mit Hilfe zwingender Argumente, um die nächste zu treffen und mit ihr ebenso zu verfahren.
Gleichzeitig versuchte ich mit glühendem Eifer und der Unerbittlichkeit ausgefeilter Redekunst meine Frau für die jeweilige Idee zu gewinnen und sie von der Unausweichlichkeit meines wohlüberlegten Entschlusses zu überzeugen, um sie noch am selben Abend oder spätesten nächsten Morgen mit unwiderleglichen Argumenten zu verwerfen.
Eifrig überzeugte ich sie von der Falschheit des Entschiedenen und überrumpelte sie noch im selben Atemzug mit dem endlich gefundenen Ausweg, den ich ihr nach aller Wirrung als definitiv präsentierte. Über Nacht aber, und die Nacht war das kalte nackte Grauen, löste er sich in Luft auf und machte einem andern Platz, dem es bald darauf ebenso erging.

Als meine wunderbar geduldige Frau nach Wochen engelsgleicher Aufmerksamkeit erschöpft die zaghafte Bemerkung fallen ließ, ob es denn möglich sei, dass etwas nicht stimme mit mir, wies ich ihre nur allzu berechtigte Sorge mit überlegener Entrüstung weit von mir.
Zornig führte ich ihr Misstrauen auf den negativen Therapeutin zurück, die offenbar nur eines im Sinn hatte, nämlich uns auseinander zu bringen, weil Liebesbeziehungen in ihrem beschränkten Kosmos lediglich Ausdruck von Fluchtverhalten seien, und ich für ihre Patientin eine reale Bedrohung.
Mag sein, dass ihr therapeutischer Ansatz streckenweise in diese Richtung zielte, eine Rolle spielte das im Grunde ebenso wenig wie die Weltsicht der Psychiater an sich, ich aber erlebte sie als reale Feindin und Gegnerin, die es auszuschalten galt.

Denn es gab in meiner Wahrnehmung nur einen Menschen, der wusste, was gut für seine Frau ist und somit der Einzige, der ihr wirklich helfen konnte. Dass diese sich uneinsichtig und eigensinnig weigerte, auf meine Weisungen und Ratschläge zu hören, bewies mir lediglich die reale Bedrohung der Gehirnwäsche, in der sie sich befand.

Langer Rede kurzer Sinn, ich hatte jeden Realitätsbezug vollständig verloren und war mit zwingender Logik der Letzte, der das auch nur in Ansätzen zur Kenntnis zu nehmen bereit war. Im Gegenteil, nur mir und mir allein war es offenbar möglich, in diesen überaus unübersichtlichen und schwierigen Zeiten den Überblick zu bewahren.

Die Mächte der Finsternis waren aus dem Abgrund gestiegen, um mich und meine Liebe zu vernichten, zu trennen und in den Tod zu treiben, und ich kämpfte als einsamer Ritter ohne Furcht und Tadel gegen Drachen und Ungeheuer, um meine Angebetete aus ihren Klauen zu retten. Immer tiefer verschleppten sie meine Frau in die Schlünde und Tunnel ihrer Höhlen, meine Fackel war am erlöschen, die Finsternis um mich herum wuchs, aber meines Wortes Schwert war zweischneidig und rasierklingenscharf, und mein Geist war klar und wach wie der eines unbesiegbaren Helden.

Dass ich und ich allein es war, der meine Frau in die Enge trieb, ihr in der relativen Geborgenheit der Klinik hinterher jagte wie ein böser Dämon, das erreichte mein Bewusstsein längst nicht mehr. Opferwillig nahm ich es auf mich, die Rolle des unangenehmen Arztes zu übernehmen, der für seine eigenwilligen Behandlungsmethoden von der Patientin gefürchtet wird, weil ich gewiss war, den Schlüssel zur Heilung zu besitzen.

Verhängnisvoller Weise war von meiner wachsenden Psychose an den gemeinsamen Wochenenden nichts zu spüren. In den Armen meiner Geliebten war ich wie ausgewechselt, ruhig, heiter, unternehmungslustig, zärtlich und liebevoll.
Kaum in meine immer enger werdende Kammer des Schreckens zurückgekehrt aber überfielen mich meine Wahnvorstellungen mit umso größerer Wucht. Atemnot quälte mich, bleierner Druck lastete auf meiner Brust wie ein Mühlstein, ein dicker Kloß saß mir im Hals, der Schlaf war längst geflohen, Alpträume überfielen mich in meinen Dämmerzuständen. Ich hatte keinerlei Hungergefühl mehr, aß folglich so gut wie nichts und magerte zusehends ab.
Ich war nicht mehr in der Lage, auch nur die Tageszeitung zu lesen geschweige denn ein Buch, der Fernsehapparat war längst kaltgestellt, zu sehr bedrängten mich selbst harmlose Bilder. Es kostete mich alle Überwindung, aus dem Haus zu gehen und einzukaufen, das Joggen nützte nichts mehr, im Gegenteil, ich lief mühsam wie durch Strudelteig und führte dabei ziellose Selbstgespräche.

Die stundenlangen Zugfahrten zur Klinik und zurück erlebte ich als unwirklich und bisweilen bedrohlich, wie in Trance geisterte ich durch die Menschenmassen der Bahnhöfe.
Meine Einträge in ein Tagebuchforum des Internets wurden abstruser und verworrener, auch gelungene Wortwahl half da nicht weiter. Mein frenetisches Gitarrespiel begann sich zu verselbständigen und wurde unheimlich. Nur selten war ich in der Lage, Musik zu hören, und wenn, blies ich mir per Kopfhörer die Gehörgänge frei und das Hirn leer, oft bis in ins Morgengrauen hinein.
Stundenlang starrte ich aufs Handy und wartete auf Nachricht, jedes Mal gewiss, meine Liebe für immer verloren zu haben, die Fülle der widersprüchlichen SMS aber, mit der ich meine Frau traktierte und bombardierte, verschlang Unsummen.

Mit einem Wort, ich war vollkommen durchgeknallt, ohne auch nur das Geringste davon zu ahnen. Ich befand mich im Herzen der Hölle ohne es zu wissen, und mein erbitterter Wille zwang mich, dieses Reich der Finsternis zu beherrschen.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 08 Juni 2010, 14:05:02
Sterbehilfe

Ich steckte also bis zum Hals in der Gülle, zerrissen von völliger Orientierungslosigkeit und im Hause meiner Schwester mit zunehmendem Maße als Störfaktor und Zumutung betrachtet und mit entsprechender Herablassung behandelt –obwohl ich Miete zahlte und nicht wenig, meinen Beitrag zur Haushaltskasse leistete, den Hund spazieren führte und nebst Küche immer wieder mal den gemeinsamen Wohnraum putzte, obgleich ich beide so gut wie nie benutzte.

Seit sich mit dem Einzug der Pflegetochter die finanzpolitische Situation meiner Schwester erheblich verbessert hatte, war mein Beitrag zum Mietzins ohnedies überflüssig geworden, im Gegenteil, der Minimalwohnraum, den ich für mich in Anspruch zu nehmen wagte, schien den Tatbestand einer Hausbesetzung zu erfüllen, und ich musste nicht lange darüber rätseln wieso.

Ihr ältester Sohn, der verzweifelte junge Mann im Hintergrund, hatte längst beschlossen, seinen berechtigten Rausschmiss in Wohlwollen aufzulösen, ausreichend guten Willen vorzutäuschen und –draußen redlich versandelt- heim zu Muttern zu flüchten. Ich stand seinen Plänen im Weg, und meine Schwester tat, was alle Mütter- eine absonderliche Spezies- in diesem Falle tun würden: Sie opferte ihren schwerkranken Bruder, um ihr ach so hilfloses Herzenssöhnchen heim ins Reich ihrer pädagogischen Fürsorge sprich Kontrolle zu holen.

Auf paradoxe Weise wiederholte sich die demütigende Lebenssituation mit Lebensgefährtin und Ziehsohn, der ich mit Müh und Not entkommen war. Wieder bin ich es, der auf der Strecke bleibt, ich, der Paradiesvogel der Goldfasan, den die aufgedunsenen Hühner des Mittelmaßes und der Gewöhnlichkeit nicht ertragen können in ihrem Stall, weil er nichts weiter tut, als durch seine bloße Existenz ihr kümmerliches Dasein der Durchschnittlichkeit zu offenbaren.

Zorn und Bitterkeit loderten in mir, Ohnmacht aber erstickte die Flammen.

Da ich keinen Boden unter die Füße bekam, ja nicht einmal fähig war, den seit Wochen herumliegenden Hartz IV Antrag auszufüllen, der mich bei jedem Querlesen mit Fragen bedrängte und verhöhnte, die einer Leibesvisitation und Entblößung gleichkamen, sah ich mich dieser Situation vollkommen wehrlos ausgeliefert. Es war mir nicht gelungen, trotz halbherziger Spontanversuche, Telefonate und Terminvereinbarungen, die Hilfe und den Rat eines Therapeuten zu suchen. Ich war nicht dazu im Stande, eine verbindliche Entscheidung zu treffen geschweige denn irgend Schritte in diese Richtung zu tun. Wie gelähmt vegetierte ich vor mich hin.

Mir war sehr wohl bewusst, dass die Rückkehr meiner Frau meinen gerade eben noch geduldeten Aufenthalt im Haus nicht gerade fördern würde, zumal Zärtlichkeit, Sanftmut und Liebe bei diesen Brachialgemütern vielleicht in Ansätzen bei ihren Meerschweinchen und Goldfischen zu finden waren, im täglichen Umgang jedoch den Status einer fernöstlichen ach was außerirdischen Lebensweise inne hatten. Feinere Gefühlswelten waren ihnen fremd, ja geradezu verhasst, weil für ihren täglichen Daseinskampf überflüssig wenn nicht gar hinderlich.

Nun wusste ich, dass meine Frau ein hochsensibler, liebevoller und verletzlicher Mensch ist, in diesem Haushalt also nichts anderes als eine Perle unter Bleikugeln. Gelang es mir noch gerade eben so, Einfühlungsvermögen und Gespür bei diesen mit mir blutsverwandten Zeitgenossen schlicht und ergreifend weder vorauszusetzen noch zu erwarten und mich entsprechend bedeckt und eingerüstet zwischen ihnen zu bewegen, so ahnte ich sehr wohl, dass sie den guten Willen, das Entgegenkommen und Bemühen meiner Frau um Harmonie und gegenseitige Hochachtung nicht nur mit Füßen treten, sondern durch den Fleischwolf drehen würden, da sie einen solchen Menschen in ihrer durchaus verrohten und egozentrischen Eigenart schlichtweg als Bedrohung empfinden mussten.

Ich fand es also zutiefst unverantwortlich, meine wertvolle Frau diesem barbarischen Pseudomiteinander, das nichts weiter war als ein wohlorganisiertes Jeder für sich und alle gegen Jeden darstellte, auszuliefern. Mit Ausnahme meiner Schwester, die mit ihrem Nie für mich und immer für die Kinder diese Situation erst ermöglichte, erfreuten sich meine Mitbewohner offenbar daran, ungeheuer anstrengend zu sein von Morgens bis Spätabends.
Für eine frisch aus der Käseglocke einer Klinik kommende Depressive waren sie schlicht gemeingefährlich, ja tödliches Gift. Ihre gerade so halbwegs beruhigte Depression würde in kürzester Zeit erneut zu voller Blüte gelangen, sie würde quasi in ein offenes Messer laufen.

Allein, ich wusste nicht wohin und was sonst tun.

Die einzige Alternative, mein Elternhaus, erschien mir als ebensolche wenn nicht noch schlimmere Überforderung. Inzwischen lag meine Mutter infolge eines Schlaganfalls und offenen Herzinfarktes im Doppelpack völlig verwirrt und halbseitig gelähmt im Krankenhaus.
Mein Vater, den diese Tragik gnadenlos überforderte, glitt zusehends in feindselige und hochgradig paranoide Umnachtung, die ihn jede angebotene Hilfe erbittert von sich weisen ließ. Er verbarrikadierte sich, saß in Russland im Schützengraben, und erachtete den Rest der Welt als Iwanhorde, die ihm mit gellenden Urrä- schreien nach dem Leben trachtete. Unfähige Ärzte waren gerade dabei, seine Frau zu Tode zu foltern, falsch zu behandeln und letztlich zu ermorden. Die Krankenkassen terrorisierten ihn mit Zahlungsbefehlen und verweigerten ihrerseits jede Unterstützung. Und so weiter.
Da ich ihn nur zu gut kannte, war mir klar, dass dieser Zustand sich bis ins Psychotische steigern würde, und zwar unaufhaltsam, weil keine Gattin ihn mehr ausbremste, was das Zusammenleben mit ihm wenigstens auf absehbare Zeit zu einem Ding der Unmöglichkeit machte. Insbesondere für meine Frau, die ihn ja nicht kannte.

Es zeichnete sich immer deutlicher ab, dass meine Mutter das Krankenhaus nicht mehr verlassen würde. Die Einweisung in eine Reha-Klinik war nichts weiter als medizinisch verordnete Sterbehilfe. Die Option, sie nach einer eventuellen Entlassung nach Hause ebendort zu pflegen, scheiterte an den baulichen Gegebenheiten. Ein zeitaufwändiger Umbau wurde in Anbetracht ihrer verbleibenden Lebenserwatung zur Vergeblichkeit.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 08 Juni 2010, 14:09:11
Entscheidend für mich aber zeichnete sich die Tatsache ab, dass die Gute, deren Lebenskraft schwand mit jeder Sekunde, keinen Lebenswillen mehr aufzubringen willens und in der Lage war. Bei einem Besuch klagte sie wimmernd, hätte sie die Wahl, sich zwischen Leben und Tod zu entscheiden, würde sie mit Freude und liebend gern den Tod wählen.

Mit zitternden Händen demonstrierte sie beide Angebote mit Hilfe einer Kerze und einer leeren Kaffeetasse. Meine Schwester samt Nichte beteuerten ihre angstbesetzte Diesseitsbezogenheit mit gutem Zureden und fast lächerlichen Aufmunterungsversuchen der üblichen Art, wobei sie -fairer Weise bemerkt- sicher auch Mitleid und Betroffenheit an den Tag legten.

Ich saß still und stumm am Tisch und dachte nur müde, nun, wo ist das Problem. Erstens hast Du sowieso keine Wahl mehr und zweitens wirst Du mit Sicherheit sterben und zwar bald. Also wähle ruhig den Tod. Du hast genug gelitten, was also soll die weitere Quälerei? Eine Lebensverlängerung ist das hier sowieso nicht mehr, bestenfalls eine Sterbeverlängerung. Du kannst nicht mehr gehen, bist taub, leidest unter rasendem Gedächtnisschwund, alles was Dich noch erwartet, sind Schmerzen. Also, was soll´s? Stirb.

Mehr hast Du nicht zu tun.

Ihr Tod erschien mir mehr als empfehlenswert und einleuchtend, er war schlicht das Allerbeste. Besser in jedem Falle als ein qualvolles Dahinsiechen mit Brust- Magen- und Darmkrebs. Nun, da ihre Verdrängungsmechanismen dabei waren, zusammenzubrechen, wurde ihr das klar und klarer. Was Wunder also, wenn sie sich den Tod wünschte? Das war nicht nur legitim, sondern vollkommen normal und natürlich.

Stirb, Mutter dachte ich also nur mit müder Gelassenheit, das ist mit Sicherheit das Beste, was Du noch tun kannst. Stirb einfach, das genügt vollauf. Mehr gibt es nicht mehr zu tun. Das passt schon.
Während sie noch davon sprach, dass sie für uns junge Menschen, die ja noch so viel Leben vor sich hätten –sie meinte wohl meine Nichte- nichts weiter sei als eine unzumutbare Last, und die andern beiden ihr heftig widersprachen, musterte sie plötzlich aufmerksam mein erschöpftes Gesicht und meinte mit seltsam heiterem Unterton in der gebrochenen Stimme: Gell, Du, du siehst das alles ganz anders.

Ich fühlte mich ertappt, rückte ein wenig unbehaglich auf dem Stuhl herum, aber nun, sie hatte ja recht. Nein, ich meine, ja, ich versteh Dich schon, aber das kriegen wir schon hin, das bekommen wir schon irgendwie hin. Mehr fiel mir dazu tatsächlich nicht ein, und da ich nicht wollte, dass Schwester samt Nichte die Verschwörung und Übereinstimmung Todgeweihter mitbekommen, die da ein Ja zum Tod beinhaltet, hüllte ich mich erneut in Schweigen. Eine Offenheit meinerseits hätten diese beiden in den Überlebenskrieg Verstrickten ohnehin als geschmacklosen Zynismus empfunden.

Meine Mutter jedoch hatte mich offenbar verstanden, irgendwie, telepatisch, intuitiv, wie auch immer. Aus der Reha ins Seniorenstift entlassen, verweigerte sie Flüssigkeit und Nahrung, legte sich hin und starb.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 09 Juni 2010, 05:07:10
Der Dämon

Alles war genau so eingetroffen, wie ich es befürchtet und insgeheim erwartet hatte. Meine Frau schlitterte wenige Tage nach ihrer Entlassung zusehends in eine erneute Depression. Das war umso tragischer, ja absolut unerträglich, da sie wie ausgewechselt und verwandelt zurückgekehrt war, selbstbewusst und mit dem Gefühl in der Seele, ihren bisherigen Schub mit Willenskraft und Erfolg überwunden zu haben.

Es kam mir nicht im Entferntesten in den Sinn, dass ihre zunehmende Verzweiflung mit mir und meiner Verfassung zu tun haben könnte. Wie schon zuvor in der Klinik weigerte sie sich offenbar beharrlich, sich auf Gedeih und Verderb auf meine Pläne einzulassen, da sie wie erwartet mit sogenannter Vernunft und Gesundheit versaut worden war.

Ein letzter Besuch mit ihr bei der sterbenden Mutter wurde zum Fiasko. Die Todgeweihte äußerte nur den einen Wunsch und letzten Willen, ich solle mich um ihren Mann sprich meinen Vater kümmern. Da sie nicht aufhörte, mich flehend zu beschwören und bestürmen und in absoluter Verzweiflung darum rang, blieb mir schon um ihres Seelenfriedens Willen nichts anderes über, als ihr dasselbe zu versprechen.
Freilich nur insofern er, der sture alte Mann, das überhaupt wolle und zulassen würde. Und es sah nicht danach aus. Ganz im Gegenteil.

Denn dieser hatte sich erwartungsgemäß in den Leibhaftigen verwandelt. Brütend und grimmig thronte er im Reich seiner Finsternis und schmetterte jedwedes Hilfsangebot durch eisiges Schweigen ab. Die Unterbreitung meinerseits, bei ihm einzuziehen und ihn zu unterstützen, belegte er mit den altbekannten verletzenden und verächtlichen Bemerkungen. Umwölkt von Bösartigkeit und strotzend vor Feindseligkeit war er die reale Verkörperung der Finsternis. Der Dämon, den ich nur allzu gut aus Kindertagen kannte. Nur leider meine Frau nicht.

Meine empfindsame und durch die seelischen Eingriffe ihrer Intensivtherapien übersensibilisierte und somit anfechtbare Frau ertrug die Realexistenz in Person und Haus meines Vaters nicht. Sie litt wie ein Engel, der versehentlich in die Hölle geraten war. Sie fürchtete sich vor ihm, und eigentlich zu Recht, den er war zum Fürchten.
Dass ich keine Angst empfand, verdankte ich der traurigen Tatsache, dass mir dieser Satan in Menschengestalt seit frühester Kindheit vertraut war. Ich hatte an dem Tag aufgehört ihn zu fürchten, als –herangewachsen- eine Prügelei mit ihm zu meinen Gunsten ausgefallen wäre. Nun hätte ein Schlag von mir genügt, ihn zu töten.

Dennoch machte ich dem Höllenspektakel ein jähes Ende und verließ das Schreckenshaus Hals über Kopf in nächtlicher Flucht, da ich meine Frau in völliger und gefährlicher Erstarrung fand. Ein Okkultist oder Exorzist würde die Aura, die selbst die Möbel umgab, wohl mit Präsenz umschreiben. Für mich war es nichts weiter als verkörperte und ausstrahlende Antimaterie und Negativenergie.

Im Grunde Ausdruck dessen, was mein Vater in früheren Jahren uns und seiner Frau angetan hatte. Jetzt war Zahltag, er erntete grade die Früchte dieser absurden Ehe, ja seines verpfuschten Lebens. Dass er dafür in der Hölle gelandet war, zumindest vorübergehend, empfand ich als durchaus angemessen und gerechte Sache.
Ich beschloss also, ihn vorerst ein wenig in derselben schmoren zu lassen. Konnte nicht schaden, verdient hatte er sie sich allemal und redlich.

Die Mutter musste ich schweren Herzens dem überlassen, dem sie ohnehin schon gehörte- dem Tod. Sterben musste sie sowieso alleine, alle Menschen müssen das.

Der bis dato ins Auge gefasste Fluchtweg hatte sich als Unding heraus gestellt. Es wurde verdammt eng.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 09 Juni 2010, 05:36:24
Ausweglos

Die letzte Karte, die ich noch im Ärmel hatte, war bestenfalls ein Gras Unter. Die leerstehende und ausgekühlte Zweizimmerwohnung im alten und notdürftig beheizten Bauernhaus meines Freundes und Mitmusikers am Rande der verhassten Stadt, die ich hinter mich gebracht glaubte, stand leer.
Hierbei handelte es sich um eine charmante Bruchbude, zwar mit neuen Fenstern, dafür gab es Küche und Bad nur zur gemeinsamen Benutzung im Angebot, beides eher zusammengeschustertes Provisorium als Wohnraum. Alles hübsch alternativ, verwandelte sich der Hausflur samt besagter Kammern im Winter in einen Kühlschrank, in dem noch Minusgrade herrschten, wenn draußen schon die Krokusse blühten. Der Fußboden, unbeheizt unterkellert, glich von den Temperaturen her einer Eisdecke.

All das hätte ich gern in Kauf genommen, sogar die demütigende Rückkehr in die Stadt meiner finstersten Abneigung, jedoch traute ich meinem Kumpel nicht recht über den Weg. Ich hatte im Laufe der Jahre Charakterzüge und Eigenarten an ihm festgestellt, die mir ein Zusammenleben mit ihm als äußerst schwierig erscheinen ließen.

Obwohl sich meine Frau nach einer Besichtigung das Ganze durchaus vorstellen hätte können, befiel mich massives Unbehagen, ich nahm von der Option Abstand und entschied stattdessen, uns am Rande der fränkischen Kaiserstadt niederzulassen, in deren Umkreis ich reizvolle ländliche Gegenden entdeckt hatte.
Mit welchem Geld und auf welchem Wege fragte ich mich nicht, es müsste nur sofort geschehen, da meine Frau die Lebenssituation im engen Haus meiner Schwester keinen Tag mehr länger zu ertragen in der Lage war. Ich beobachtete massive Suizidtendenzen an ihr.

Es ging im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod.

Ich drehte mich seit Monaten im Kreise und war am Ende meiner Kraft. Also machte ich meiner Frau das Angebot, gemeinsam mit mir aus dem Leben zu scheiden. Sie habe dabei nichts zu befürchten, da ich ihr Todesengel sei und über den Tod hinaus nicht von ihrer Seite weichen würde. Außerdem sei es schließlich seit langem ihre Sehnsucht, sterben zu können. Da uns das Leben offenbar abgeschrieben hatte, war es Zeit zu gehen.

Und da geschah das Ungeheuerliche: meine Frau wollte leben. Sie war eine von den Anderen geworden, von den Feinden, den Funktionierenden, war übergelaufen, war sozusagen gesund, geheilt, gleichgeschaltet. Ich hatte sie verloren. All das verzweifelte Ringen der letzten Monate war vergeblich gewesen. Alles war vorbei.

Sie konnte mir in der Folge ihre Liebe noch so verzweifelt beteuern und ihre Beweggründe noch so schlüssig erklären, ihre Worte erreichten mich nicht mehr. Ihr Entschluss, eine Zeit lang zu ihren Eltern zurückzukehren, um Ruhe zu finden und einen klaren Kopf zu bekommen, bedeutete für mich die definitive Trennung.
Ihre Beschwörungen, dass ich verdammt noch mal dringend ärztliche Hilfe bräuchte und sie absolut nicht mehr weiterwisse und schlicht nicht mehr könne, betrachtete ich als Ausreden, um ihr Gewissen zu beruhigen.

An meiner felsenfesten Überzeugung, dass sie mich bereits verlassen hatte, weil sie nicht in der Lage war, mit mir zusammenzuleben, konnte sie nichts ändern. So wie es aussah, hatte sie den Entschluss heimzugehen und womöglich zu ihrem Mann zurückzukehren schon in der Klinik gefällt. Es bestand kein Zweifel daran, ich hatte sie und somit mein Leben verloren.

Ich floh erst mal und drehte eine hastige Runde, als ich sie beim Zurückkommen dabei antraf, ihre sieben Sachen ins Auto zu packen, verlor ich Gesicht und Fassung und beschimpfte sie wüst. Nackte, blanke Verzweiflung hatte mich in ihrer Gewalt, der Schmerz war ungeheuerlich, ich hörte nicht mehr, was sie mir sagte, ihre Beteuerungen fanden keinen Weg mehr zu mir.
Als ich schließlich die Rücklichter ihres Autos um die Ecke verschwinden sah, wankte ich hoch in meine Dachkammer, warf mich aufs Bett und brach innerlich und äußerlich zusammen.

Die folgenden Tage und Nächte verschwammen zu einem Albtraum aus zitternder Hoffnung und unaussprechlicher Pein. Ich sandte eine SMS nach der anderen ab, sprach Dutzende von Botschaften auf ihre Mailbox, wobei ich von bitteren Vorwürfen zu innigen Liebesbezeugungen zu verzweifelten Forderungen zu flehenden Bitten bis hin zu Verwünschungen in einem irren Auf und Ab durch qualvolle Gefühlswelten schlitterte, taumelte, stürzte, ohne Halt und Zurück, ohne Hoffnung, ohne Gnade, ohne Ende.

In den frühen Morgenstunden klingelte ich sie aus den Federn, überhäufte sie mit einer Mischung aus Schmerz, Zorn, gewaltiger Liebe und zynischer Zurechtweisung, ich machte ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle heiß, eine Hölle, in der ich mich krümmte und wand, wehklagend und hemmungslos weinend.
Mit lautlos gellenden Schreien wälzte ich mich auf dem Boden, verkrallte meine Finger in das Kopfkissen, vergrub mein Gesicht darin und schrie ihren Namen. Speichel troff mir aus dem Mund, mein Kopf pochte zum Zerbersten, mein Herz stach mir in der verengten Brust. Ich litt, wie ich nie zuvor in meinem Leben gelitten hatte, und ich hatte Leid gekostet bis zum Überdruss, zum Gehtnichtmehr und bis zur Lebensmüdigkeit.
Nun aber starb ich ohne Hoffnung, unter entsetzlichen Qualen und vollkommen absolut allein. Ich starb den Tod der Liebe, der ewigen Liebe, die ich für immer verloren hatte und die mich nun mordete ohne Erbarmen.

Ich glaubte meiner Frau kein Sterbenswort mehr. Sie konnte in Engelszungen reden, für mich war jede ihrer Liebesbeteuerungen lediglich Beweis für ihre endgültige Entscheidung. Ihre Argumente klangen in meinen Ohren nach Angst davor, dass ich mir etwas antun könnte, eine Tragödie, die sie ja nun wirklich nicht gewollt hatte.
Ihr Entschluss stand offenbar fest, unverrückbar, und alles was geblieben war von unserer unsterblichen Liebe war kaltes Mitleid.

Sie hatte sich für das Leben entschieden. Das Leben fürchtet und hasst den Tod. Ich hatte sie an das Leben verloren.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 09 Juni 2010, 05:44:22
Der Entschluss

Dann kam der Anruf, dass meine Mutter in den letzten Zügen lag. Tags zuvor hatte ich mich in der örtlichen Psychiatrie angemeldet in der Hoffnung, durch diesen Bezeug guten Willens meine Frau doch noch zurückzugewinnen. Sie begrüßte meinen Entschluss, machte indes keinerlei Anstalten, zu mir zurückzukehren.
Es war sonnenklar. Sie wollte schlicht, dass ich am Leben bleibe, allein ihres Gewissens wegen. Und ohne sie. So wie sie ohne mich am Leben bleiben wollte.

Sie hatte die allgemeine Überzeugung einer hoffnungslosen Fluchtbeziehung zu ihrer eigenen gemacht. Wer weiß, vielleicht war es sogar die richtige Entscheidung für sie, sich vor mir in Sicherheit zu bringen. Für mich jedenfalls war ein Leben ohne sie ausgeschlossen, es gab keines mehr.

Dumpf und taub fuhr ich mit meiner Schwester ins Altenheim, wo meine Mutter seit drei Tagen daniederlag, und fand sie ins Koma gesunken. Ich küsste ihre Stirn und streichelte ihr eingefallenes seltsam jugendliches Gesicht. Flüchtete in die Hauskapelle und weinte hemmungslos.

Dann saß ich mit meinen Geschwistern stundenlang an ihrem Sterbebett. Alles war nichts weiter als ein unwirklicher Traum. Eine seltsam entrückte Klarheit hatte von mir Besitz ergriffen, die Töne um mich her waren gestochen und scharf, im Muster der Bodenfließen entdeckte ich Gesichter und Fratzen, draußen im Gang zwitscherte ein Kanarienvogel, sein seltsam schwermütiger Gesang hallte laut wie im Urwald.
Meine Geschwister waren mir sonderbar nah und doch unendlich weit entfernt. Nur die Sterbende schien mir wirklich. Es gab nur noch den Tod in meiner Wahrnehmung. Das Leben war mir entschwunden.

Eine halbe Stunde etwa, oder war es eine volle, blieb ich mit meiner Mutter allein im Zimmer. Ruhig nahm ich Abschied von ihr. Ich segnete sie, vergab ihr und bat sie um Vergebung, sprach Vertrautes und befahl sie Gottes Engeln. Mehr war nicht zu tun. Und es war gut so.
Ich verließ sie befreit und zufrieden. Alles, was je zwischen ihr und mir gestanden hatte, war ausgelöscht. Alles, was sie mir angetan hatte, starb mit ihr. Ich wusste mit seltsamer Gelassenheit, dass ich sie im tiefsten Grunde meines Herzens immer geliebt hatte.

Im Epizentrum der Depression angelangt, war ich dem Tod sehr viel näher als dem fremdgewordenen Leben. Ich bin gewiss, dass sie mich hörte. Ihr Bewusstsein war längst in eine höhere Daseinsstufe entrückt, von der aus sie mit mir kommunizierte. Wir begegneten uns reuig und zerknirscht, aber ohne Groll und Vorwurf. Ich war ihr nah wie seit den Tagen der Schwangerschaft nicht mehr, und es war gut, mit ihr versöhnt zu gehen und sie so gehen zu lassen.

Meine Schwägerin fuhr mich heim, unterwegs kehrten wir ein und ich plauderte locker und selbstverständlich. Keine zwei Stunden nach Ankunft in meinem Totenkämmerchen, aus dem alles Licht und Leben für immer gewichen war, überbrachte mir dieselbe die Todesnachricht. Ich sagte nur, das sei eine Gnade. Fast heiterer Frieden erfüllte mich. Und ich beneidete meine Mutter zutiefst.

Ich erwachte entschlossen und tatkräftig. Mein letzter verzweifelter Versuch, meine Frau doch noch zu Einsicht und Umkehr zu bewegen, war zugleich die letzte Vergewisserung über die Richtigkeit meiner Absicht.

Ich konnte einen Freund per Telefon weich treten, der sowieso grade nichts zu tun hatte und meinen Bruder gewinnen, der froh war über jede Ablenkung, meldete mich telefonisch bei meinem Kumpel im Gefrierschrank an und bestellte einen Möbelwagen.
Dann begann ich meine Sachen in Umzugsschachteln zu verstauen, baute die wenigen Regale ab, mein Bett, das verlassene Liebesnest mit den kalten Laken, verstaute meine Bücher und CDs. Zwischendrin winkte ich meiner Schwester Bescheid, die ihre Erleichterung nur schwer verbergen konnte. Irgendwann erreichte ich meine Frau und teilte ihr meinen Entschluss mit.

Sie war offenbar begeistert von meiner Energie, und wirkte alles in allem sprachlos. Sie gratulierte mir regelrecht dazu, endlich Initiative zu ergreifen und das Leben anzupacken. Sie reagierte wie die Gesunden um mich her.
Kein Wort aber fiel davon, mir baldmöglichst, ja noch heute, wie ich insgeheim gehofft hatte, nachzufolgen. Ich tu es nur für uns, sagte ich, ich weiß, antwortete sie. Das war alles und es war genug. Denn es bedeutete nichts.

Jetzt hatte ich die Gewissheit, die ich brauchte. Sie hatte nie vorgehabt, zu mir zurückzukommen. Es erleichterte sie nur, dass ich dabei war, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. So konnte sie mich beruhigt entlassen. Es war aus und vorbei, endgültig und todsicher.

Ich wuchtete mit meinen angereisten Helfern das Zeug in den Möbelwagen, ruhig und konzentriert, verabschiedete mich und sogar herzlich von meinen leidigen Wegbegleitern, döste während der Fahrt und verstaute meine Siebensachen bei meinem Kumpel angekommen in den kalten Zimmern. Dieser hatte nichts besseres zu tun, mit der Forderung, wir sollten uns doch hierbei bitte die Schuhe ausziehen, bei meinem fassungslosen Bruder auf strikte Verweigerung dieses absurden Ansinnens zu stoßen. Ohne Willkommensgruß ließ er mich links liegen.

Anschließend esse ich bei meinem Bruder mit deren Lebenspartnerin mit Appetit und Genuss zu Abend und nächtige in deren Wohnzimmer. Tags darauf begeleiten diese mich zu meiner neuen Bleibe, es ist ein schöner Spaziergang mit angeregten Gesprächen. Ich baue Bett und Regale auf, räume meine Bücher ein und betrachte zufrieden mein Werk.

Abends schlendere ich in die nächstbeste Abendmesse, wo ich einen Bekannten treffe. Dieser begeleitet mich ein Stück des Weges, und ich schildere ihm meine Situation in groben Zügen. Beim Überqueren der alten Steinbrücke fällt mir auf, dass der Fluss vom Dauerregen der letzten Tage mächtig angeschwollen ist und beachtliches Hochwasser führt.

In diesem Moment meint mein Begleiter ermutigend: "Es gibt immer einen Ausweg". Ich betrachte die Strudel und wäge ruhig ab. Meine Entscheidung ist gefallen, nun weiß ich auch um das Wie.

Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 09 Juni 2010, 14:22:31
Rettung in letzter Sekunde

Ich hatte immer geglaubt, dass der letzte Morgen im Leben eines Menschen etwas ganz Besonderes sein müsse. Dem ist nicht so. Es war ein Tagesanbruch wie jeder andere. Es dämmerte, wurde hell und ich wach davon.

Nur dass ich nicht mit jähem Entsetzen aus dem bleiernen Nichts emporschoss, den Namen meiner Frau auf den spröden Lippen, dessen Klang mir unermesslichen Schmerz bereitete, um sofort in den Schlund entsetzlichster Verzweiflung zu stürzen, tief und tiefer in endlosem Fall, ich erwachte ruhig und unheimlich gelassen.

Eine durchwachte Weile in den ersten Morgenstunden hatte genügt, mein Leben Revue passieren zu lassen und damit abzuschließen, endgültig und absolut.
Wohl tobte der Schmerz noch in meinem Innern, aber es war das schwelende Feuer nach dem Grauen einer Bombennacht, und nichts von dem was vorher war existierte noch. Ich atmete, mein Herz schlug, im Grunde aber war ich bereits tot.
Mein Freitod bedeutete lediglich den Vollzug dessen an der Hülle des Leibes, was in meiner Seele bereits stattgefunden hatte.

Der Gedanke an meine Frau, der mich seit Tagen mit mörderischer Grausamkeit aus den Träumen riss, hatte hingegen seine Qual verloren. Etwas anderes beschäftigte mich. Das Versprechen, irgendwann in den Monaten unseres Überlebenskampfes gegeben, uns den Freitod gegenseitig anzukündigen, uns schlicht bescheid zu winken, wollte ich bereitwillig einhalten.

Das war ich ihr wohl schuldig. Immerhin hatte sie mir die glücklichsten Stunden meines Lebens beschert.
Gefühllos und mit der Ruhe der gefällten Entscheidung griff ich also zum Telefonhörer und wählte die vertraute Nummer. Sie war zu meiner Überraschung sofort an der Muschel. Ich erzählte vom Umzug, redete ein Weilchen über die bevorstehende Beerdigung, versuchte sie davon abzuhalten, den weiten Weg auf sich zu nehmen und ihr beizuwohnen. Es war tiefer Winter und die Wetterlage unsicher.
Irgendwann meinte ich beiläufig Und dann mache ich Schluss. Da ich fest davon ausging, dass sie meine Entscheidung verstehen und diesen Schritt akzeptieren würde, weil sie mich schließlich kannte wie niemand sonst auf Erden und ihr derlei Gedanken selbst nicht fremd waren, rechnete ich fest mit ihrer Zustimmung.

Ihre Reaktion überraschte und verblüffte mich. Sie weinte los, spontan und hemmungslos. "Und was ist mit mir," schluchzte sie, "du verlässt mich."
"Wieso ich Dich?" frage ich erstaunt zurück, "Du hast doch mich verlassen." Das habe sie nie getan, nicht einmal vorgehabt, und werde sie niemals tun.

Aber weniger ihre Worte sind es, die mich stutzig machen. Vielmehr die nackte Verzweiflung dahinter. Ihr herzzerreißendes Weinen, ihre bebende Stimme, ihr flehender Klang, all das erreichte und berührte mich. Sollte ich ihr tatsächlich noch so viel bedeuten, dass ihr mein selbstgewählter Tod einen derartigen Schmerz zufügen würde? Konnte ich es vor meinem Gewissen verantworten, der Frau, die ich über alles liebte, derart tief zu verletzen? Nun, meine Liebe konnte ich im Augenblick zwar nur sehr entfernt empfinden, sie war begraben in Schmerz und Trauer, aber war es denn wirklich nötig, ihr das anzutun?

Ich hatte doch eigentlich Zeit. Meine Entscheidung war zwar gefallen, konnte aber ohne größere Umstände vertagt werden. Wer weiß, vielleicht würde sie nach einer Begegnung besser verstehen? Denn wie es schien, wollte sie unbedingt, dass ich lebe. Die Eindringlichkeit ihrer Worte, ihr Ringen um Ruhe, ihre Beharrlichkeit, all das zeugte von augenscheinlicher Bestürzung und Verzweiflung. In ihrer offensichtlich höchsten Not wirkt sie überzeugend und glaubwürdig.
Ich lasse mich also dazu breittreten, ihr hoch und heilig zu versprechen, dass ich es sofort und auf der Stelle meinen Bruder mitteilen und mich gleich nach der Beerdigung unverzüglich von ihm in die Psychiatrie verfrachten lassen müsse. Widerwillig gebe ich ihrem Drängen schließlich nach, lege auf, schlendere in die Küche, setz mich an den bereits gedeckten Frühstückstisch und weihe meinen Bruder in kurzen sachlichen Worten ein.
Der ist nicht nur sichtlich betroffen, sondern geradezu entsetzt, ebenso seine Lebenspartnerin, ich wundere mich zwar ein wenig, geh aber zurück ans Telefon und ruf erneut meine Frau an, sie zu beruhigen. Die spricht dann auch mit meinem Bruder, und ich versinke in einen Zustand apathischer Gleichgültigkeit.

Bewusstlos sitze ich wenig später hinten im Auto und betrachte die Landschaft. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, was soll´ s, und außerdem ist ohnehin alles vollkommen bedeutungslos geworden.
Je näher die Fahrt durch Nichts mich meinem Geburtsort bringt, desto unruhiger werde ich. Ich spüre die Nähe meiner Frau. Sollte ich sie tatsächlich wiedersehen? Bei Ankunft erreicht mich ihre SMS. Sie wartet bereits am Friedhof auf mich.

Ich steige aus dem Auto und setze mich dorthin in Bewegung. Meine Schritte werden immer schneller. Die letzten zweihundert Meter laufe ich. Die Geliebte, mein Leben, mein Alles, mein Glück ist da. Für einige Minuten fühle ich mich lebendig und voller Sehnsucht. Als ich sie sehe, schlägt mir das Herz bis zum Hals. Ich umarme und küsse sie glückselig.

Dann mustere ich ihr Gesicht, es trägt Spuren tiefen Leid und Kummers. Ist das etwa mein Werk? Was ist geschehen? Erneut gleite ich in den Zustand seltsamer Unwirklichkeit, der mich die ganze Beerdigung über nicht mehr verlässt.
Tags zuvor habe ich mit meinem Bruder noch die Predigt verfasst, nun lausche ich ihr fast amüsiert. Was für eine haarsträubende Heuchelei, das alles, Enkel, die sich ihr Lebtag nicht um sie kümmerten, füllen die Bank, selbst meine Ex ist anwesend. Wittert sie ein Erbe? Eine billige Schmierenkomödie, ein Affentheater.

Allein die Nähe meiner Frau nehme ich wahr. Ganz hinten sitze ich mit ihr, aus Angst, zusammenzubrechen, und betrachte das Ganze aus gebührendem Sicherheitsabstand. Sie tut mir gut, gibt mir Halt und Kraft. Mit ihr an meiner Seite lasse ich die ganze Prozedur teilnahmslos über mich ergehen, marschiere mit den Andern zum Friedhof, könnte ebenso gut auf einer Demo sein, besprenge den Sarg mit Weihwasser und suche das Weite.
Der Leichenschmaus kann mir gestohlen bleiben, ich hasse derlei ohnehin. Abschied habe ich längst genommen, dieser Leib war nichts als entseelte Materie, was soll das ganze Zimborium um eine Entsorgung.

Vielleicht hätte ich es geschafft, bis zur Ankunft im Bezirkskrankenhaus in diesem Zustand tauber Teilnahmslosigkeit zu verharren. Schneefall aber verlangsamt die Fahrt, ein schwerer LKW- Unfall zwingt uns in stundenlangen Stau und auf Umleitungen über die Landstraße.

Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 09 Juni 2010, 14:26:06
Nach sechs Monaten gnadenlosen und nackten Überlebenskampfes , verzweifelten Ringens um mein pures Daseinsrecht und bloßes Sein jenseits von Sicherheit und Daseinsbewältigung, einem entsetzlichen Krieg um die Erhaltung meines innersten Wesenskerns, meiner Identität und Persönlichkeit, meines Selbst und Ich, das es wagte und den ungeheuerlichen Anspruch stellte, um seiner selbst Willen geachtet und geschätzt und geliebt zu sein, ungeachtet der Nichtigkeit von Tat und Erscheinungsform, die nichts ist als beliebig wandelbare Äußerlichkeit, Illusion und Trugbild, erst jetzt, da dieses Selbst, dieser Wesenskern dessen, was ich bin und immer war und immer sein werde, ein einmaliges und einzigartiges Ebenbild, aus dem Raunen der Ewigkeit geformt und geschaffen, um derselben entgegen zu streben, die Quelle dieses Erdendaseins in der Mündung zu vollenden und einzutauchen in das Meer der Unendlichkeit, erst jetzt, da die letzte gläserne Schutzwand klirrend und splitternd zerbarst, die dieses Kind, diesen Jugendlichen, diesen erwachsenen und werdenden Greis schützend umhüllt hatte seit Anbeginn und die nun zersprang, um das Verborgene freizugeben, das der Fontäne eines Vulkanausbruchs gleich wie ein mächtiger Lavastrom aus glühenden Abgründen des Unterbewussten emporschoss, erst jetzt, als da nichts mehr war als ich und ich allein, brach ich in mich zusammen.

Ich wurde erbarmungslos zerschmettert von der allmächtigen Wucht verratener Liebe, gebrochenen Vertrauens, zerstörter Illusionen, verlorener Wirklichkeiten, gescheiterter Lebensmodelle und enttäuschter Hoffnungen, wurde bei lebendigem Leibe zerrissen von der Unerträglichkeit des Schmerzes ewigen Unverstandenseins, unendlicher Einsamkeit, zertretenen Bemühens und unerwiderter Liebe.
Wehrlos, hilflos ohne Halt wie ich war brach meine grenzenlose Verzweiflung über mich herein wie eine Sturmflut, verschlang mich wie ein Erdrutsch und begrub mich wie eine mächtige Lawine. Da war kein Wille mehr und keine Kraft, der schwarzen Masse aus Unglück und namenloser Not Einhalt zu gebieten, sie zu fassen und ihren Fluss zu bändigen, keine Selbstbeherrschung, die mit starkem Arm gehalten hätte, was da zusammen- und auseinanderbrach.

Der eiserne Mensch, der ich gewesen bis zu diesem Zeitpunkt, dessen Herz mehr Narben trägt als die zerfurchte Haut des weißen Wals, dessen Geist und Seele mehr Marter des Zornes, des Hasses und der brennenden Vergeltungssucht ertragen musste als die Kapitän Ahabs, dieser in der Tiefe seines Seins tödlich verwundete, immer wieder und mit steter Wiederkehr bis in die Wurzel seiner Existenz getroffene und verletzte, zu Tode geschundene, missbrauchte und wie eine Hure benutzte Mensch, diese gequälte, gepeinigte, erbarmungswürdig elendiglich misshandelte Kreatur schrie.

Sie schrie ihren unbenannten unermesslichen Schmerz von Jahren und Jahrzehnten hinaus, wehklagend und händeringend, weinend und schluchzend, bebend und zitternd, flüsternd und murmelnd, ohne Zusammenhang, Anfang, Ende, Ursache oder Schluss.
Ich, der ich von klein an geschlagen, getreten, erniedrigt und gedemütigt, meiner Menschenwürde beraubt, um mein Selbstwertgefühl betrogen ein ums andere mal, bis zur Selbstverachtung genötigt und gebrochen, bis zum Selbsthass gequält und gepeitscht wurde, und nun von Leid und Trauer, Schmerz und Ohnmacht überwältigt und bezwungen, erschlagen und gefällt niedersank, ich brach zusammen, und der Zusammenbruch war gewaltig.

Meine Frau, die sich am Lenkrad ihres Wagens festklammerte, musste diese Tragödie hilflos mit ansehen und –hören, und sie erschien ihr wie der Ausbruch einer unbeherrschbaren Elementargewalt, wie das Bersten der Erdachse oder die Explosion der Sonne. Sie saß erschüttert und wie vom Donner gerührt. Aber- und das rettete mich- sie schenkte mir ihr Ohr.

Mir selbst fehlt nämlich und vielleicht zum Glück so gut wie jede Erinnerung daran. Was ich für den Ausrutscher einiger schwacher Minuten hielt, erstreckte sich in Wahrheit über endlose Stunden.

Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 09 Juni 2010, 18:58:25
Alle Qual will Ewigkeit

Der Zusammenbruch im Verlauf einer schweren Depression ist nur die Spitze eines Eisbergs. Die mächtige Masse lauert unter dem Meeresspiegel. Kollidiert das Schiff, ist nur ein leichtes Beben zu spüren. Ein Nichts im Vergleich zur Katastrophe, die folgt. Das Lebensschiff beginnt zu sinken, unaufhaltsam und unweigerlich.

Vom Schicksal gebeutelt zu werden ist die eine Sache, vom Leben betrogen die andere. Beides zusammen ist zuviel für die menschliche Natur. Sie verliert ihren Glauben an das Gute.

So war ich bereits bei der Ankunft in der Wohnung meines Bruders fest davon überzeugt, dass meine geliebte Frau lediglich aus Mitleid und Verantwortungsgefühl heraus zu mir geeilt war, um das Schlimmste zu verhindern. Wahrscheinlich wollte sie nur ihr schlechtes Gewissen beruhigen, da ja mein Zustand offenbar auf ihren Trennungsentschluss zurückzuführen war. Ich ließ das zwar so nicht gelten, da ich lediglich in die Tat umsetzen wollte, was ich lange vor ihrem Auftauchen in meinem Leben beschlossen hatte.

Wie dem auch sei, es war mir gelungen, sie für eine letzte gemeinsame Nacht vor meiner Einlieferung zu gewinnen. Lange und eindringlich musste ich sie darum bitten, und erst, nachdem ich mich telefonisch im Bezirkskrankenhaus für den nächsten Morgen angemeldet hatte, hatte ich ihre Bedingungen erfüllt.

Angst und Grauen überfielen mich am nächsten Morgen. Bei der Ankunft im Gelände der Psychiatrie versank ich in totaler innerer Isolation. Das Aufnahmepersonal redete in einer fremden unverständlichen Sprache, außerdem fühlte ich mich nicht angesprochen, ich war ja gar nicht anwesend. Sie waren Akteure eines Films, den ich mir gerade anschaute, weiter nichts.

Nur meine geliebte Frau konnte zu mir durchdringen. Immer wieder bat sie mich, ihr in die Augen zu sehen, und sprach ruhig und liebevoll zu mir, und ich verstand jedes Wort und befolgte ihre Anweisungen wie selbstverständlich. Sie war quasi meine Dolmetscherin, denn nur sie kannte den Ort, an dem ich mich grade befand, und nur ihr gewährte ich Einlass.

Als ich vom Aufnahmegespräch mit der Ärztin zurückkam, dessen Inhalt mir vollständig entfallen ist, fand ich meine geliebte Frau in Tränen aufgelöst. Ich tröstete sie, war betroffen, und bat sie eindringlich, heimzufahren, da ich ja nun in Sicherheit und gut aufgehoben sei. Sie war am Ende ihrer Kraft und hatte alles Nötige gemeistert. Mehr gab es nicht zu tun.

Winkend blickte ich ihr nach, registrierte Trauer und Schmerz in ihrem Gesicht, und trottete gleichmütig hinter oder besser zwischen zwei freundlichen Pflegern Richtung Geschlossene.

Zwei Patienten begrüßten mich geradezu herzlich, ich sank auf die erstbeste Bank und sank und sank. Ein jugendlicher Pfleger fragte mich, ob ich denn Tavor wolle, ja bitte, endlich, antworte ich und werde von einem kurzen aber heftigen Weinkrampf geschüttelt. Ich bin angekommen, ergebe mich in mein Schicksal und lasse geschehen. Kurz darauf zergeht die Tablette unter meiner Zunge. Die erlösende Wirkung lässt nicht lange auf sich warten. Ich tauche ab.

Als ich aus unruhigem Schlaf hochfahre, blicke ich in wachsame Gesichter hinter hell erleuchteter Scheibe, die mich aufmerksam studieren. Wie durch ein Cockpit mustern sie mich, der ich in zerwühlten Laken auf einem Notbett im Flur liege. Über mir strahlen drei grelle Leuchter von der Decke, direkt auf mich gerichtet. Gut bewacht. Nun, immerhin werde ich hier drin ernst genommen. Das beruhigt.

Die folgenden Tage bestanden aus zusammenhanglosen Fragmenten unwirklicher Abläufe.
Stoische Nahrungsaufnahme im Speiseraum, schweigsame Rauchpausen im schmucklosen, randvoll mit meist besetzten Stühlen gefüllten Qualmerzimmer, einige abgehobene Gespräche mit einer lächelnden Ärztin, und nicht zuletzt besorgte Anrufe meiner geliebten Frau waren in Reihenfolge und zeitlichem Abstand in keinerlei Ordnung zu bringen.
Ich schlief sehr viel, eigentlich fast immer, und wusste beim Aufwachen weder um Tag noch Stunde.
Widerspruchslos schluckte ich meine Tabletten, die in Farbe und Größe variierten und meinen Handteller füllten. Sie quollen mir förmlich aus den Ohren.

Alles um mich her war mir vollkommen gleichgültig, etwa die Frau im Bett über mir am Kopfende, die regelmäßig laut und schrill zu schimpfen anfing, sie sei mit falschen Tabletten behandelt worden und wolle ihren Psychiater sprechen, das sei Freiheitsberaubung, sie sei völlig gesund und so fort.
Oder die andere, die ununterbrochen den Gang auf und abschlürfte und laut vor sich hinbetete, jedenfalls endete jeder ihrer konfusen und wirren Satzfetzen mit einem hastigen Herr. Jesus war nicht zu beneiden hier drin, aber offenbar gegenwärtig, zumindest wenn man von dem laut durchs Speisezimmer gebellten Tischgebet des überdrehten Rastafariers ausging.
Ein anderer Bursche wiederum, ein Riese an Gestalt, fragte ständig und hundertmal am Tag den nächstbesten Pfleger, ob ihn sein Vater nun entmündigt hätte und lebenslänglich eingewiesen oder nicht, dass er geliefert sei und dergleichen.
In einem der Zimmer schrie eine Frau immer wieder mal gellend und anhaltend, gleich kam ein Tross Pfleger gelaufen, das Rollkommando hetzte an meinem Bett vorbei.

Der durchgeknallte Typ mit den Rastalocken erklärte mir begeistert, dass das hier drinnen eine große Familie sei und alles allen gehöre, und stellte mir großzügig sein Waschbecken samt Dusche zur Verfügung. Mein Rasierzeug war zur Sicherheitsverwahrung weggesperrt, ich musste es mir bei der Schwester abholen und irgend einen Wisch unterschreiben, mir nichts damit anzutun.
Aus dem Spiegel blickte mir ein Gespenst mit Glasaugen entgegen, seine verschwommenen Gesichtszüge hatten aber nichts furchterregendes an sich. Ab und zu schnorrte mich irgendwer um eine Zigarette an.

Im Raucherzimmer saß ich schweigsam und verschlossen, paffte vor mich hin und lauschte den Gesprächen, deren Sinn sich mir allerdings entzog, und ich wusste nicht, ob es an meiner Auffassungsfähigkeit oder deren Inhalt lag. Warum aber ausgerechnet Straubing, ein Nest in Niederbayern, von der Landkarte vertilgt worden sein sollte, ohne dass wir etwas davon wüssten, weil eine allgemeine Nachrichtensperre über das ganze Land verhängt worden sei, war mir dann doch etwas schleierhaft.

Ansonsten redeten viele über die Art von Tabletten, die sie einwarfen, deren Menge und Wirkung, wobei selbstredend keine einzige zu helfen schien. Die Pharmaindustrie ist der größte legale Drogendealer, warf ich irgendwann in den Raum, hatte das von meinem Psychiater, und der Riese nickte verschworen.
Tja, und dann gab es da noch die Mädchen, magersüchtig oder sonst irgendwie kaputt, die sich darüber austauschten, ob es denn nun der eigene Vater, der gute Onkel, der Lehrer, Pfarrer oder sonst wer gewesen sei, ab welchem Lebensjahr, wie oft und wie lange.

Dann schlich ich in mein Bett und zog mir die Decke über den Kopf.

Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 09 Juni 2010, 19:10:56
Alles in allem war es gut auszuhalten hinter Schloss und Riegel.
Ich durfte noch nicht mit zum täglichen Ausgang und hatte auch offengestanden keine Lust dazu. Draußen tobte die Hölle, hier in meinem Raumschiff aber, randvoll gefüllt mit weißgekleideten Astronauten und einem Haufen Verrückter, Irrer, schräger Vögel und Scheintoter glitt ich gemächlich und geruhsam durch die kosmischen Welten eines fremden Universums, entrückt von Zeit und Raum, bestens versorgt und erfüllt von vollkommener Gleichgültigkeit.

Wir wollen Ihnen einen neuen Kopf verpassen, dazu müssen wir aber den alten abschrauben... Nur zu, gerne.

Die Zusammensetzung meines Tablettencocktails entzog sich meiner Kenntnis, obwohl ich ab und an die surrealistischen Bezeichnungen erfragte, um sie im selben Augenblick wieder zu vergessen. Ihre Wirkung jedenfalls ließ nichts zu wünschen übrig.
Und während draußen der dritte Weltkrieg vertuscht wurde, verging hier drinnen unmerklich die Zeit.

Dass es überhaupt noch ein Draußen gab in meiner Wahrnehmung, verdankte ich den regelmäßigen Anrufen meiner geliebten Frau. Ich konnte ihr freilich nur mitteilen, dass es mir soweit ganz gut ginge und ich die meiste Zeit im Bett verbrächte, dass ich dabei mehr oder weniger unverständlich vor mich hinmurmelteund brabblete, war mir indes nicht bewusst.

Fest stand lediglich, dass ich noch lebte, weshalb und wofür, das war mir vollständig entfallen. Vermutlich um zu schlafen.

Ich wusste beim besten Willen nicht, ob jetzt drei oder vierzehn Tage vergangen waren, als plötzlich vier Weißkittel vor meinem Lager auftauchten, einer davon die Ärztin meiner Verhöre, und mir unmissverständlich mitteilten, dass sie mit mir sprechen wollten. Dazu redeten sie mich mehrmals mit Namen an, das machten sie jedes mal so, weshalb auch immer.

Die offensichtliche Oberärztin, jedenfalls die Chefin, fragte mich eindringlich und sehr offen, ob ich denn garantieren bzw. versprechen könne, mir im Laufe meines Klinikaufenthaltes nichts anzutun. Nicht Hand an mich zu legen quasi oder praktisch.
Kann ich durchaus, sage ich, den Herbst des letzten Jahres hätte ich in einer Klinik verbracht, in dessen Verlauf sich eine Mitpatientin in ihrem Zimmer mit Tabletten das Leben genommen hätte, und da ich nun aus eigener Erfahrung wisse, was so eine Tat bei den Mitpatienten auslöst an Schrecken und Entsetzen, Schock und Trauma, würde ich dergleichen meinen LeidensgenossInnen hier drin niemals antun. Allein deswegen.

So weit meine ehrliche und genau so gemeinte Antwort.

Offensichtlich sei ich ein intelligenter und vernünftiger Mensch, meint da die Frau Chefärztin, und mit etwas Glück könne ich bald in eine offene Station verlegt werden.
Da ich immer noch auf dem Gang rumliege, hab ich nichts dagegen. Und weg sind sie. Gelegenheit für mich, erst mal eine zu rauchen, da ich schon mal wach bin.
Mit etwas Glück... Ich und Glück, ein Widerspruch in sich. Zwei gegensätzliche Pole.

Ich werde erst mal ´ne Runde drüber schlafen.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 10 Juni 2010, 07:22:59
Der geschlossene Kreis

Dieses eine Mal schloss sich der Stromkreis. Ich schlief noch am selben Abend oder Tags darauf in einem Doppelzimmer am Ende des Flurs, umgebettet in die Offene. Mein Zimmerkollege, ein wohlbeleibter gutmütiger Dachdecker mit kaputten Knien und schwerer Depression, ist von seinen Sägearbeiten des nachts einmal abgesehen sehr ruhig, die Station ist relativ hell und geräumig, das Personal sehr freundlich und aufmerksam, das Essen gut.

Immerhin ist es mir wie auch immer gelungen, mein Telefon anzumelden. Ein Freund ruft mich an. Wie es mir denn mittlerweile ginge. Nun, sage ich , besuch mich doch mal. Grade will ich ihm die Stationsnummer nennen, als er meint, er hätte mich doch bereits besucht und ob ich das denn vergessen hätte.
Es dauert ein Weilchen, bis bruchstückhafte Erinnerungen in meinem tauben Kopf auftauchen, auch die Zigarettenstange, die er mitgebracht hat, spricht als Indiz dafür. Wir hätten uns sehr lange und angeregt unterhalten, meint er noch. Nun denn.
Was ich wohl noch alles vergessen habe? Ist wohl das Beste so, man muss nicht alles wissen...

Sehr langsam und in kleinen Schritten wird meine Tablettendosis verringert. Die Gedanken, die in meinem Kopf auftauchen aus dichten zähen Nebelschwaden, wohl eher Höllendämpfen, sind nicht besonders angenehm, andrerseits ebenso wenig bedrohlich. Sie sind einfach da, kalt und klar, und ich betrachte sie ohne Gefühl.

Das Leben betrügt einen nicht. Es ist an sich Betrug. Ein großer abgefeimter Betrug. Wir werden geboren, ohne gefragt worden zu sein, mit Liebkosungen erdrückt oder vernachlässigt, was macht das groß für einen Unterschied? Früher oder später ereilt uns alle das Schicksal, uns als Ungewollte abgelehnt wiederzufinden, wann und wo auch immer.
Regeln hier, Maßstäbe dort, Vorschriften überall. Beurteilungen bestimmen unser Aufwachsen, beliebig geformte und festgeschriebene Normen schwachsinniger Generationen. Jede Generation ist auf ihre ganz spezielle Weise vollkommen idiotisch, und jede neue wähnt sich klüger als die alte.

Ausgüsse verengter Wahrnehmung fesseln uns, Anpassungsdruck schikaniert uns bis ins Private und Intime. Stereotypen. Abziehbilder. Visionen sind nicht erwünscht, Fragen unbeliebt, eigenes Denken ist gefährlich.

Wo zum Teufel sind die Träume unserer Kindheit geblieben? Verwaschene aufgelöste Gesichter rundum. Alle irgendwann zerbrochen. Als ihr Streben nach Glück und Erfüllung an die Grenzen derer stieß, die weder das eine gefunden noch das andere verwirklicht haben. An die Stacheldrahtzäune von Gescheiterten, die ihre Resignation hinter der Fratze des Reifens und der besseren Einsicht verstecken. Die ihr vorzeitiges Absterben zur Allgemeingültigkeit erklären, nur um ihre Erstarrung vor sich zu rechtfertigen.

Alles, was sucht, strebt, ringt und träumt wird ins Reich der Utopie verwiesen. Wie Geier warten sie darauf, dass der Schrei nach Leben in denen verstummt, die da den Tod im Gewöhnlichen nicht ertragen können. Selbstzufrieden und höhnisch verkaufen sie die kalte Asche ihrer erloschenen Flammen als Frucht der Erfahrung. Ignoranten sind sie, abgefeimte Lügner allesamt, Verräter menschlicher Größe und Schaffenskraft. Leugner des Wunders, das da Leben heißt.

Wie aber begegnet ihnen das Leben? Verwirft es sie, verstößt es sie, bestraft es sie? Was kann es bedeuten, dass sie nicht nur ungeschoren davonkommen, sondern sogar belohnt werden? Mit Erfolg, mit Wohlstand und Ansehen, mit Gesundheit und zu allem Spott einem langen Leben. Sie, die nie gelebt haben, sondern nur den Anschein erweckt. Die vorgeben, bedeutend zu sein und unersetzlich, wichtig und maßgeblich.
Obgleich sie bedeutungsloser sind als ein Gänseblümchen, dessen Blühen Jahr für Jahr die Schöpfung verherrlicht. Sie hingegen verherrlichen nur sich selbst. Die Blume blüht wahrhaftig und rein. Der Unwahrhaftige aber, voll Fäulnis und Moder, blendet. Und erntet reichen Lohn dafür.

Wie aber verfährt das Leben mit denen, die da versuchen, aufrecht und ehrlich zu sein? Die sich selbst in Frage stellen, nicht so wichtig nehmen, die leiden an ihren Unzulänglichkeiten, ihr Leben hinterfragen und Schuldbewusstsein entwickeln und in sich tragen? Die ruhelos sind in ihren Herzen, weil dieses nicht das in sich spürt, was eigentlich sein sollte, was ihnen ursprünglich versprochen ward? Die sich klein fühlen, unfähig und bedeutungslos? Ja, mitunter als Zumutung und Last?
Nun, diese wertvollen, tiefen und wahren Menschen sitzen hier mit mir im Raucherzimmer. Bei Gott, das kann doch nur Betrug sein.

Andrerseits, was bringt einem Geschäftigkeit, Tatkraft und Zielstrebigkeit? Lohnt es sich denn, in irgend einer Führungsposition seine Jahre abzuhaken?
Bei genauer Betrachtung sind die Leute hier drin wesentlich interessanter und ungewöhnlicher als die Masse draußen, die sich ziellos durchs Dasein wälzt. Hier begegnet mir der Mensch, wie er in Wahrheit ist: Hilflos, verletzlich, hoffnungslos, verloren. Nirgendwo sonst fand ich die Wirklichkeit menschlicher Natur derart deutlich und unverblümt widergespiegelt als in der Klapse.

Ich verbringe die Tage, Wochen und Monate im Gleichklang steter Wiederholung. Beschäftigungstherapie, Kunsttherapie, Ci Gong, Kegeln, Entspannungsübungen, Visitationsgespräch, therapeutisches Einzelgespräch, Gruppengespräch, Joggen, Duschen, Zigarettenkauf, Essenszeiten, Ruhephasen, Kirchgänge. Mein Alltag ist ausgefüllt, das Leben ist ein ruhiger Strom.

Zwar toben in meinem Innern unverändert Schmerz und Qual, meine müde Seele wälzt sich her und hin in steter Agonie, gedämpft durch Tavor und Neuroleptika lässt es sich hingegen ertragen. Drei ganze Wochen brauche ich, um aufzuwachen.
So lange hatte ich das Gefühl, hier völlig fehl am Platz zu sein unter all den Depressiven und Psychotikern, da ich mir ja lediglich das Leben nehmen wollte, mir aber ansonsten nichts fehlt. Meine suizidale Absicht erschien mir vollkommen normal, ja banal. Eines schönen Morgens jedoch fahre ich aus dem Schlaf hoch mit dem erschreckenden Gedanken, wirklich und tatsächlich knapp am Tod vorbeigeschlittert zu sein, sogar verdammt knapp.
Nie zuvor war ich ihm so nah.

Ich fand mich verändert. Der Mann, der hier eingefahren war vor drei Wochen, existierte nicht mehr. Mein Entschluss zum Freitod, endgültig und abgeschlossen, setzte in meiner Psyche einen Prozess in Gang, der sich trotz der Vereitlung ungehindert fortsetzte. Da ich willentlich mit dem Leben abgeschlossen hatte und die Tatsache meines Weiterlebens meiner geliebten Frau verdankte, also nicht der Konsequenz einer eigenen Entscheidung, vollzog sich in meinem Innern ein tiefgreifender Sterbeprozess.
Weil ich nun die Phase der Verdrängung, des Zorns und der Trauer bereits vor meinem gescheiterten Versuch hinter mich gebracht hatte, befand ich mich im Zustand permanenter Akzeptanz des eigenen Todes.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 10 Juni 2010, 07:27:42
Meine Verfassung glich sehr viel mehr der stoischen Absterbens als der eines Neuanfangs.
Wohl befand ich mich –wie im Verlauf meiner Krankheit zuvor- in einer wellenartigen Auf und Ab Bewegung, die täglich wechselte. Einem Tag mit wilder und unfreiwilliger Agonie, die ich selbst im Tablettennebel als unerträgliche Qual erlitt, folgte ein Tag großer entrückter Entspannung, in deren Verlauf ich dem Jenseits sehr viel näher war als dem Diesseits mit seiner Mühsal und Plage.

Meine komplette Vergangenheit erstand vor mir als abgeschlossener Bereich ohne Berührungspunkte, ich erfuhr mein bisheriges Leben als großes Ganzes, Vollendetes, als eine Art geschlossenen Kreis.
Offengestanden war ich alles in allem ganz zufrieden damit. Meine Irrtümer und Lebenslügen bedrängten mich nicht mehr, da sie ja letztendlich eine notwendige Phase und Erfahrung bildeten, die mich ebendahin geführt hatte, sie als Selbstbetrug zu entlarven. Da sie aber nun keinerlei Einfluss mehr auf meine Zukunft hatten, denn eine solche existierte schlicht und ergreifend nicht mehr, verloren sie auch alle Bedeutung für die Gegenwart.

Das Erleben völliger Losgelöstheit vom Gestern in einem Heute ohne Morgen veränderte meine Sichtweise des Lebens. War ich bisher davon ausgegangen, dass allein bewusstes und waches Erleben des Augenblicks eine sinnvolle Existenz ermöglicht, da es den Grundstein für die Zukunft legt, so erkannte ich nun den Moment als absolute Komponente ohne Richtung und Absicht.
Bisher war ich selbst im Wissen um den Lebenskreis dem linearen Prinzip steter Vorwärtsbewegung gefolgt, im Glauben, dass auch der Kreis einer gekrümmten Linie folgt. Also war mein Verständnis von Zukunft das noch nicht vollzogener Gegenwart.

Jetzt aber, da die Zukunft vollständig aus meinem Bewusstsein verschwunden war, ja ich konnte sie nicht einmal als theoretische Option denken, da also der Kreis meiner Lebensspanne geschlossen und eine runde Sache geworden war, konnte ich im Verweilen absoluten Stillstands und ohne die Hast der Fortbewegung jeden beliebigen Ort meiner Vergangenheit aufsuchen und jeden beliebigen Lebensabschnitt betrachten, als hätte ich ihn grade eben erlebt, ja mehr noch als würde ich ihn grade erleben.

Da ich somit nicht mehr gezwungen war, auf meine Erinnerung zurückzugreifen, die ja nichts weiter ist als abstrahierte Deutung und Bewältigung, sondern quasi mein ganzes Leben urteilsfrei noch einmal durchleben konnte, weil ich mich in allumfassender Gegenwärtigkeit befand, und mein gesamtes Leben noch dazu folgenlos für eine etwaige Zukunft betrachten konnte, also neutral, ohne Verdrängungsdruck und Angst vor möglicher Wiederholung, und mich somit nicht mehr vor meinem Gestern schützen oder verstecken musste, gelangte ich zu einem neuen Verständnis meines Lebens, das jede Untiefe zuließ und jeden bisherigen mühsamen Versuch von Vergangenheitsbewältigung –insbesondere im Rahmen meiner Therapien- nicht nur in den Schatten stellte, sondern in ein völlig neues Licht rückte.

Meine bisherigen Erklärungsversuche für dieses oder jenes wurden zum Teil gründlich widerlegt. Hinzu kam – auf Grund der fehlenden Notwendigkeit einer Wiedergutmachung oder wenigstens Möglichkeit der Vermeidung- dass bisher hinderliche Schuldgefühle und –zuweisungen, sowie Scham und Schmerz auf der einen und Wehmut und Verklärung auf der anderen Seite völlig abhanden gekommen waren. Alles geschah endgültig und wertfrei.

Es war mir möglich, mich selbst in meinem Gestern nicht nur zu sehen, sondern zu fühlen und erleben und infolgedessen aus der Sicht des Ergebnisses, nämlich meiner Persönlichkeit, zu begreifen. Ich verstand mich sozusagen wie einen mir wohlvertrauten Fremden.
Im selben Atemzug entschlüsselte sich mir der Mensch, der ich bin, da ich die Folgen meines Tun und Lassens, meines Erlebens und Schicksals lückenlos und ohne Vorbehalt auf mich beziehen konnte mit all ihren Wirkungen und Prägungen. Ich begriff mich selbst als Teil und Summe des Ganzen.

Gleichzeitig sah ich ebenso klar die Konstante und Unveränderliche meines Wesens und sogenannten Charakters, den roten Faden in meiner Biographie, der sich durch alle Ereignisse, Entscheidungen und Verhaltensweisen meines Lebens zog als Ausdruck meines Individuums, das ich in einer mir bisher verborgenen Dimension erfassen konnte.

Eine derart losgelöste Form befreiter und befreiender Selbsterkenntnis kannte ich trotz größter Mühen bisher nur aus den Berichten Betroffener einer sogenannten Nahtoderfahrung. Also klinisch Toter, die ins Leben zurückgeholt wurden. Als Ergebnis dieser wochenlangen, ungeheuer intensiven und gleichwohl unbeschwerten Lebensrückschau konnte ich sowohl mein gesamtes Leben als auch mich selbst mit völlig neuen Augen sehen.

Und diese Sichtweise war bei weitem nicht immer angenehm, aber sehr befreiend.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 10 Juni 2010, 19:43:30
Stark wie der Tod ist die Liebe

Weniger die Depression als solche bestürzte mich, die ich ja von klein auf kannte und die mich mein Lebtag begleitete, als vielmehr ihre Intensität.
Im Laufe des gewohnten Umgangs mit ihr hatte ich mich zu einer Art Tier entwickelt, hatte Lebenskrisen gemeistert und Schicksalsschläge ertragen, an deren Bruchteil andere zu Grunde gehen, hatte mich in Lebenssituationen begeben, die andere kein Jahr lang ertragen und diese über ein Jahrzehnt und länger durchgezogen und ausgestanden, kurzum, ich war unheimlich stark geworden.

Die letzten Schübe jedoch bezwangen mich. Insgeheim hatte ich gehofft, sie würden sich im Laufe der Jahre an Anzahl verringern und an Stärke nachlassen, je ruhiger ich werden würde, aber leider wurden sie mit wachsendem Lebensalter – wie die meisten Gebrechen- schlimmer und unerträglicher. Das weiß ich nun, mehr auch nicht, also nehme ich folgsam meine Tabletten wie körperlich chronisch Kranke auch.

Den Glauben an den Erfolg welcher Therapie auch immer habe ich in meinem Falle so gut wie vollständig verloren und ad acta gelegt. Was gibt es da noch aufzudecken, was nicht schon offen vor mir liegt? Welche Verhaltensregel sollte ich noch beachten, die ich nicht schon längst –und bei genauer Prüfung sehr lange vor meiner ersten Therapie, ja von klein auf- angewandt und umgesetzt habe?

Mein ganzes Sein ist die Frucht des lebenslangen Kampfes mit der Seelennacht, die mich mal um mal zu verschlingen drohte. Alles, was sie an Positivem auslösen und bewirken kann –und das ist eine ganze Menge- habe ich bereits aus mir herausgequetscht und werde es weiterhin tun, weil ich gar nichts anderes kenne, als mich aus der tiefsten Nacht ins Licht zu schinden.
Meine einzige Möglichkeit, weiterleben zu können, ist die stete Qual in meinem Innern irgendwie zum Ausdruck zu bringen. Ich leide seit ich denken kann und grade so viel, um irgendwie zu überleben, sei es mit oder ohne fremde Hilfe. Etwas anderes kenne ich nicht.

Ich weiß nicht, wie ein Leben ohne Todessehnsucht aussehen soll. Ich bin so sehr daran gewöhnt, dass ich nur im äußersten Notfall ihre Verwirklichung und Umsetzung ins Auge fasse, in Situationen, in denen es „Gesunde“ möglicherweise auch tun würden.
Ich habe bis zum heutigen Tag immer wieder neu gelernt, mit meiner Depression zu leben, über lange Phasen hinweg äußerlich halbwegs normal und unauffällig. Im Grunde war es seit je her mein sehnlichster Wunsch, endlich sterben zu dürfen, um diesem Jammertal und der Pein in mir zu entkommen.
Alles, was mir blieb, war die Akzeptanz dieser meiner Wirklichkeit und meines Wesens.

Ich habe gelernt, das Leben in vollen Zügen zu genießen, soweit es genießenswert ist. Ich habe gelernt, seine Widrigkeiten zu meistern, soweit sie zu meistern sind. Ich habe gelernt, das Beste aus allem und mir zu machen, soweit es ein Bestes gibt. Im Grunde nichts anderes als es sehr viele Menschen tun. Ich habe gelernt zu leben.

Außerdem aber habe ich gelernt zu sterben, qualvoll und verlassen. Ich habe gelernt, jeden Tag zu erleben, als sei er der letzte, und den Augenblick zu begreifen als einziges Gut, das ich besitze und worüber ich verfüge. Ich habe gelernt, bis zum Äußersten zu leiden, über die Grenze menschlicher Belastbarkeit und Tragfähigkeit hinaus.

Ich habe gelernt, jede Art von Überforderung zu meiden, so lange sie sich irgendwie vermeiden lässt, weil sie für mich eine Fahrkarte in die Hölle bedeutet. Ich habe gelernt, vollkommen und absolut alleine mit mir fertig werden zu müssen, und nichts und wieder nichts von mir preiszugeben, was ich für mich behalten will.

Dies hat sich nun geändert. Ich bin nicht mehr allein. Mit meiner Frau habe ich meine zweite Hälfte gefunden. Mein Gegenüber. Meine Entsprechung. Auch sie trägt die Nacht in sich, eine unauflösliche Nacht, ein unzerstörbarer Teil ihrer Persönlichkeit, den zu lieben mir ebenso möglich ist wie mich selbst in meiner Gesamtheit und Gänze. Mit ihr lebe ich das Lebensmodell der Lebensmüden, die ihre Liebe zueinander am Leben erhält, die sich gegenseitig brauchen wie die Luft zum Atmen.
Die einzige Möglichkeit für uns, nicht verloren zu gehen und zu Grunde, ist unser Miteinander, ein Miteinander, das durch Liebe und nichts als Liebe verbunden ist, da wir beide den Tod nicht fürchten.

Als mir mein Fast-Suizid zum vollen Bewusstsein kam, erschrak ich weniger meinet- als ihretwegen. Denn ich war insgeheim stolz auf diese Befreiungstat zur Rettung und Wiederherstellung meines letzten Restes Menschenwürde. Das einzige, was es über diese Welt und zu ihr zu sagen gibt, ist ihre vermaledeite Unfähigkeit, meine Andersartigkeit zu erkennen und ihre Vermessenheit, sie als nicht lebenswert zu deklarieren.
Sie war meiner niemals wert, und nun hatte ich ihr endgültig und entschieden den Rücken gekehrt. Ein Menetekel der besonderen Art.

Nicht über meinen unheimlichen starken Abgang erschrak ich also, sondern darüber, was ich meiner geliebten Frau angetan hätte. Ich hätte sie ermordet, so sicher wie das Amen in der Kirche. Ich hätte den Menschen, dem all meine Liebe gehört, umgebracht. Das, und nur das entsetzte mich.

So war ich auch nur deshalb froh darüber, noch zu leben. Mir selbst lag nichts mehr am Erdendasein. Aber daran, sie glücklich und lebendig zu sehen. Und das war nur möglich, wenn ich da und bei ihr blieb. Also hatte ich Grund zu bleiben.
So und nur auf diesem Weg fand ich zaghaft ins Leben zurück.
Ihretwegen entwickelte ich so etwas ähnliches wie Lebenswillen. Um meiner Selbst Willen hatte ich längst keinen mehr.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 11 Juni 2010, 09:18:24
In guter Hoffnung

Während ich mit Hilfe der ästhetischen Ci Gong Übungen geradezu meditative Sphären erreiche und mir in der Kunsttherapie in den mythologischen Gestalten von Hades und Charon meine Schrecken vom Leib male, teilt mir meine geliebte Frau per Telefon mit, dass ihr Schwangerschaftstest positiv ausgefallen sei. In Anbetracht ihrer verwachsenen Eileiter käme das einem Wunder gleich.

Nach anfänglichem Schock steigt eine ungeahnte Freude in mir hoch. Ich fühle mich als werdender Vater, verjüngt, begnadigt und stolz. Ansonsten lasse ich die Dinge ruhig auf mich zukommen.

Meine Frau besucht mich zum Wochenende, mittlerweile habe ich Ausgang. In der kalten Bude meines Kumpels, der trotz Geldspritze meinerseits offenbar nicht fähig oder willens ist, uns einen einigermaßen funktionstüchtigen Ölofen zu organisieren, frieren wir uns halb zu Tode.
Wir verkriechen uns im Bett, während das stinkende Monstrum rumort und Rußwolken ausspuckt, ohne dabei Wärme zu verströmen, eingehüllt in einen Berg aus Decken, Jacken und Schals, und träumen wie verliebte Teenager vom Glück eines Kindes. Plötzlich haben wir Zukunft, Aufgabe und Sinn in unserem Leben.

Trotzdem bleiben wir vorsichtshalber skeptisch und abwartend. Denn auf dem Ultraschallbildschirm hat die Ärztin noch immer nichts entdecken können, was sie sehr beunruhigt. Etwas scheint nicht zu stimmen. Gerade noch rechtzeitig wird eine fortgeschrittene Eileiterschwangerschaft sichtbar.
Meine geliebte Frau wird sofort operiert, wobei ich gefangen in der Klinik vor Angst und Sorge fast wahnsinnig werde. Alles verläuft gut.
Wenige Tage später scheint auch die Gefahr einer Depression in Folge des durcheinandergeratenen Hormonhaushalts gebannt. Kaum aus dem Krankenhaus entlassen, zwingt eine schwere Erkältung meine leidgeprüfte Frau erneut ins Bett.

Ihre Enttäuschung ist grenzenlos, ich versuche sie mit regelmäßigen Anrufen zu trösten und ihr Mut zu machen, was mir gar nicht leicht fällt, weil auch auf mir gnadenlose Ernüchterung lastet. Alt, verlebt und müde hocke ich im Raucherzimmer und hadere mit Gott und der Natur.

Abends bitte ich um eine Beruhigungstablette, weil mich der Tavorentzug quält. Eine an an für sich harmlose Pille schickt mich aus welchem Grund auch immer auf den Horrortrip. Die Wände rücken auf mich zu, das Lampenlicht verdunkelt sich, ich schwitze, habe Atemnot und bin nicht fähig, mich auch nur eine Sekunde still zu halten. Will ich mich erheben, streckt mich Schwindel nieder.

Eine schreckliche Vision taucht vor mir auf. Ich sehe das Elternhaus meiner Frau –das ich nur vom Vorbeifahren kenne- unter eine pechschwarze Glasglocke gestülpt. Von den in Wolken verborgenen Bergen weht feuchter Waldgeruch und vermischt sich mit dem süßlichen Körpergeruch dampfender Haflinger.

Plötzlich weiß ich, dass sich meine geliebte Frau das Leben genommen hat. Ungeheuerlicher Schmerz durchfährt mich, mein Herz rast, schweißgebadet taumle ich ins Bad und wasche mein Gesicht mit kaltem Wasser. Nichts hilft. Wenn sie stirbt, sterbe ich, zerberste vor Schmerz und Schock, das ist mir abgrundtief klar. Nun weiß ich bis in meine tiefsten Seelenkammern, was sie mir wirklich bedeutet. Sie ist mein Leben.

Verzweifelt versuche ich sie anzurufen. Ich habe große Mühe, die Nummern zu finden. Endlich ihre Stimme. Was los sei, ich solle sofort Hilfe holen. Was ich per Knopfdruck tue.
Ich werde mit einer vollen Dosis Tavor weggepustet und erwache am nächsten Morgen in meinen Klamotten in genau der Lage, in der ich ins Dunkel sank. Meine geliebte Frau ruft besorgt an. Sie lebt und ist offenbar wohlauf. Alles war wohl nur ein böser Traum.

Dennoch bin ich wachsam und angespannt. Die Bilder waren sehr wirklich, ich habe noch den Geruch in der Nase.

Das gemeinsame Wochenende ist getragen von Innigkeit und Nähe, ich kehre auf meine Station zurück mit Vorfreude auf die freien Ostertage mit ihr.

Als mich etwa um Mitternacht von Karfreitag auf Karsamstag ihre Abschieds SMS aus dem Schlaf klingelt, bin ich innerhalb von Sekunden hellwach. Die Stationswache ist vakant. Trotz Zittern und Beben gelingt es mir, die Nachtschwester aufzutreiben und die Polizei zu informieren.

Die kommt wenig später in Gestalt zweier junger Beamter beiderlei Geschlechts in mein Zimmer. Ihre Fragen machen mich nur noch nervöser. Weder weiß ich ihre Autonummer noch habe ich eine Ahnung, wo sie sich im Moment aufhalten könnte. Ich kann nicht klar denken, alles dreht sich mir im Kopf, Schüttelfrost quält mich. Ihre SMS schließlich überzeugt die Beiden, eine Suchaktion wird eingeleitet.
 "Sie tut es, ich kenne sie, sie tut es. Mein Gott, so glauben sie mir doch." Mehr bringe ich nicht zu Stande. Die Polizistin versucht, mich zu beruhigen. Dann sind sie fort.

Die Nachtschwester verabreicht mir einen Beruhigungs-Cocktail. Die finden sie, meint sie ruhig, das hab ich im Gespür. Glauben Sie mir, die finden sie. Sie verhält sich großartig. Eine Schwester mit Herz und Seele.
Oft sitzt sie mit uns Irren im Raucherzimmer, plaudert und scherzt. Und auch jetzt weicht sie nicht von meiner Seite.

Dann verstreichen die Stunden. Endlos. Zusammengekrümmt hocke ich im Stationszimmer und starre auf das Telefon. Ich kann mich sammeln. Die Gedanken ordnen sich. Ganz nahe bin ich meiner Frau, halte sie fest in Armen und bin entschlossen, mit ihr auch über die letzte Schwelle gehen. Ich spüre, dass sie unterwegs ist dorthin und bleibe bei ihr, so gut ich eben kann. Unendlich nah bin ich ihr.

Zwischen drei und vier der erlösende Anruf. Wir haben sie, sie hat Tabletten genommen, es besteht aber keine akute Lebensgefahr. Wie im Traum lausche ich der Stimme des Polizisten. Der ist offenbar sehr froh und erleichtert, ja fast begeistert. Frohe Ostern, meint er noch.

Im Auto hätten sie sie per Handysignal orten können. Auf einem Parkplatz ganz in der Nähe der Klinik, in der ich im Jahr zuvor fünf Wochen und meine Frau vier Monate verbracht hatten. Einem Platz, an dem wir schöne Erinnerungen teilten. Unsere gemeinsamen Wochenenden waren alle schön, ja wunderschön. Wir unternahmen viel, teilten traute Stunden und glückselige Momente.

Dass sie gerade dort sterben wollte, hätte ich wissen müssen. Ich hätte nur ein wenig überlegen müssen. Wieso um alles in der Welt ist mir das nicht eingefallen? Wie konnte ich nur so idiotisch sein? Das verzeihe ich mir nie.
Plötzlich bin ich todmüde. Vollkommen erschöpft schäle ich mich aus dem Stuhl. Herzlichen Dank für Ihren Beistand, sage ich noch per Handschlag zur Schwester, Sie sind großartig.
Ich? Nein, Sie sind großartig, antwortet sie.

Bevor ich in bewusstlosen Schlaf versinke, frage ich mich verblüfft, warum und wieso ein Trottel wie ich großartig sein soll. Ich komm beim besten Willen nicht drauf.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 11 Juni 2010, 09:24:00

Der Engel

Zwei Tage und zwei Nächte verbringt meine geliebte Frau auf der Intensivstation. Es gelingt mir, sie telefonisch zu erreichen und zu ihr durchzudringen. Sie ist ansprechbar, aber sehr weit entfernt.

All die kleinen Zeichen und Signale fallen mir ein, durch die sie mir in den letzten Tagen ihr Vorhaben geradezu angekündigt hat, denen ich aber nicht die nötige Beachtung schenkte. Ich komme mir vor wie ein Vollidiot und verwünsche alle Beruhigungsmittel und Psychopharmaka.
Nachmittags erleide ich einen massiven Zusammenbruch, weine hemmungslos wie ein Schlosshund, gebe mir die Alleinschuld für ihren Versuch und bin nur mit einer gehörigen Portion Valium ruhig zu stellen. Dasselbe sollte fortan mein täglich Brot werden.

Aus der Intensivstation entlassen, wird meine geliebte Frau in die geschlossene Psychiatrie des nächstliegenden Kreiskrankenhauses eingeliefert oder besser weg gesperrt. Dort erlebt sie die realexistierende Hölle auf Erden. Alte debile Männer, die halbnackt herumirren und in die Gänge urinieren, eine demenzkranke alte Zigeunerin, die dasselbe schamlos auf der Terrasse erledigt, alles Elend und aller Irrsinn auf Erden ist auf ein paar Quadratmeter zusammengeballt.
Indes, sie nimmt´ s gelassen. Nachts leistet ihr eine streunende Katze Gesellschaft, die ich anfangs, als sie mir davon mailt, für ein Gespenst halte.

Nach diesem Horrorwochenende wird sie gottlob in die geschlossene Station des nächsten Bezirkskrankenhauses verlegt. Endlich kann ich aufatmen, sie ist gut aufgehoben und in Sicherheit.
Wir telefonieren regelmäßig, mehrmals täglich, ich erlebe, wie sie langsam zu sich kommt. Natürlich fühlt sie sich schuldig und ist sehr niedergeschlagen.
Aber sie lebt, das zählt, alles andere ist ohne jede Bedeutung.

Mich aber schmettert nach eigentlich überstandener Extremsituation ein erneuter Zusammenbruch nieder, und zwar mit einer derartigen Wucht und Heftigkeit, dass ich nach heftigen Weinkrämpfen bewegungsunfähig und wie ein Sterbender auf mein Krankenbett geworfen bin. Jetzt erst und erst jetzt erreiche ich mein definitives Ende.

Langsam beginne ich mich aufzulösen, ein Gefühl von unbeschreiblicher Schönheit und tiefstem Frieden erfüllt mich. In grenzenloser Freiheit entschwebt mein Geist in die Wolken und zieht mit ihnen davon.
Gott ist gegenwärtig, ein barmherziger und unendlich liebevoller guter Gott, nicht zu schauen, aber absolut zu spüren. Ich sterbe erlöst und leicht wie eine Feder, die von einem zarten Lufthauch davongetragen wird. Es ist ein gutes Sterben. Ein guter Tod.

Endlich habe ich es geschafft. Ich starb am Ostermontag des Jahres 2005, am frühen Nachmittag, friedlich und unbemerkt im Krankenbett der Psychiatrie. Ich entschlief ruhig und selig, von Engeln umgeben, mit mir selbst im reinen und mit Gott versöhnt. Bewusst und befreit hauchte ich meine müde Seele aus. Der Mensch, der ich war, ist nicht mehr.

Es ist seltsam, aber nur wenige Tage zuvor, als ich leidlich guter Dinge war und nichts vom Freitodversuch meiner geliebten Frau ahnte, malte ich zum Erstaunen und wohl auch zur Verunsicherung meiner Kunsttherapeutin einen großformatigen Engel. Der ist grade dabei, meinen toten Körper zu bergen. Ein seltsames Selbstporträt.

Nun, mein Engel hatte Flügel. Die Engel, die mein Sterbelager umgaben, sind von einer lichten Aura umgeben, mit der sie mich umhüllten. Ich fühlte mich in ihrer Gegenwart vollkommen geborgen und sicher. Engel sind keine Fantasiegebilde naiver Geister. Sie existieren, und zwar sehr viel realer als wir flüchtigen Menschen, und in der Tat, sie sind herrlich und wunderschön.

Sterben indes ist ohne Zweifel die beglückendste Erfahrung des Lebens. Nichts ist mit ihr zu vergleichen. Diese Erfahrung verdanke ich meiner geliebten Frau, ohne das diese es wusste geschweige denn beabsichtigte. Ich werde ihr jedenfalls ewig dafür dankbar sein. Sie beantwortete meine einzige letzte offene Frage.

Zwar fürchtet ich den Tod schon lange nicht mehr, der Gedanke an die letzte Schwelle jedoch bereitete mir bisweilen Schauder und Furcht. Jetzt, da ich weiß, was mich an meinem Sterbetag, dem offiziellen sozusagen, erwartet, ist die Furcht freudiger Erwartung gewichen. Wenn mein Körper irgendwann diesen Schritt nachvollzieht und meine Seele endgültig freigibt und entlässt, wird es noch viel intensiver sein wie in meinem seelischen Tod. Sterben, das weiß ich nun aus eigener Erfahrung, ist eine wundervolle Sache.

Es bedeutet Erlösung. Alles Leid verklingt. Auch das der Seelennacht. Mein verdunkelter Astralleib mag getrost ins Weltall hinausschießen.

Das dies alles nun nicht meinem Medikamentenrausch und Schockzustand allein entsprungen war, sondern sich wirklich und wahrhaftig in meiner Seele sprich Psyche abgespielt hatte, ereignet und vollzogen, wusste ich spätestens, als ich aus dem Tiefschlaf, in den ich gesunken war, erwachte.
Alles war verändert. Selbst das Neonlicht schien reiner, das Tageslicht klar und hell. Die Gesichter meiner Mitpatienten trugen weichere, liebenswertere Züge, die der Pfleger und Schwestern umgoss ein geheimnisvoller Schein, ein seltsamer unerkannter Segen, der offenbar ihre verzweifelten und mitunter bis zum Überdruss routinierten Bemühungen entlohnte, und zwar unabhängig von ihrer Verfassung, Gesinnung und Wesensart.
Die nackte Not um mich her, die ich mir noch am Vormittag lässig von Leib und Seele gehalten hatte mit sprödem Humor, erfüllte mich nun mit Mitleid und Anteilnahme.

Vor allem aber, ich liebte meine Frau auf gänzlich neue Weise. Inniger und tiefer denn je. Ohne Besitzanspruch, Forderungshaltung und Einschränkung, ich liebte sie um ihrer selbst Willen mit allem, was sie ist, vor mir war und mit mir werden wird. Ich liebte sie bedingungslos.

Kurzum, ich war ein völlig veränderter Mensch. Ich kannte mich so selbst nicht, war mir aber auf Anhieb durchaus sympathisch. Außerdem lernte ich mich Tag für Tag besser kennen. Nicht, das mir der eben Verstorbene zuwider gewesen wäre, ich kam soweit gut mit ihm zurecht, aber dieses neue Ich gefiel mir weitaus besser.

Ich war entspannter, ruhiger, gelassener und vor allem wohlwollender, offener und gefühlvoller, ja freundlicher. Und sehr viel mehr weniger misstrauisch und ängstlich. Mit meiner neuen Identität konnte ich also durchaus zufrieden sein.

Mit einem Schatz voller wertvoller Erinnerungen und Erfahrungen aus meinem Vorleben im wahrsten Sinne des Wortes harrte ich gelöst und getrost der Dinge, die da noch kommen wollten und sollten. Ob ich nun eine neue Seele bekommen habe, weiß ich nicht, wohl aber ein erweitertes Bewusstsein.

Meine Depression war nach wie vor spürbar zugegen, aber ich nahm sie anders, bewusster und weniger bedrohlich war. Es spielte keine Rolle mehr für mich, ob sie nun endogen, reaktiv, psychotisch, rezidivierend, chronisch oder alles zusammen war, ich lebte mit ihr, auch weiterhin, und allein das zählte.

Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 11 Juni 2010, 16:16:11
Neuen Wein füllt man nicht in alte Schläuche

Meine Entlassung steht bevor. Vier Monate eines Jahres sind vergangen.

Am Anfang, kurz nach meiner Einlieferung, fragte ich die Stationsärztin, weshalb ich den Psychopharmaka schlucken müsste, ein starkes Zeug wie die Schizos, da ich doch wegen Depression und Suizidgefahr hier sei.
Nun, antwortete sie zögernd, sie hätten Züge einer psychotischen Reaktion bei mir diagnostiziert. Was denn nun der Unterschied sei zwischen psychotisch und Psychose, fragte ich zurück.
Tja, meinte sie, wenn ich mir einbilden, nein wenn ich den Teufel sehen würde, das wäre soweit psychotisch, wenn ich aber glauben würde, der Teufel zu sein, das wäre eine Psychose.
Nun, Chemoblondchen, denk ich, ich bin zweifelsohne der Teufel, aber das werd ich grade dir nicht unter die Nase reiben, da kommst du schon noch drauf.

Zum Glück war Fasching, den hochnotpeinlichen Faschingsball mit geradezu brachial erzwungener Fröhlichkeit nutzte ich für meinen Auftritt. Erst übereich ich der Ärztin ein Gedicht, vom Teufel selbst verfasst, dann schmeiß ich Deep Purple auf den Plattenteller und leg einen wilden Freitanz aufs Parkett wie in alten Discotagen.

All das liegt Ewigkeiten zurück. Die Fastenzeit ist mittlerweile vorüber, Ostern vorbei, der Papst gestorben, und ich sitze immer noch hier drin. Eigentlich wollte ich die Klinik zum ersten angesetzten Termin verlassen, dann aber besann ich mich sehr zur Freude der Pflegerschwestern, die mir eindringlich zum Bleiben rieten, doch noch ein Weilchen. Wenigstens bis ich meinen Valiumentzug durchgezogen habe.

Eine sehr gute Entscheidung, wie ich bald merken sollte. Schweißausbrüche, Zittern, quälende Unruhe, Angstattacken, Schlaflosigkeit, grundlose Aggressivität – kurzum das ganze Spektrum und die volle Palette eines waschechten Turkey drehten mich gehörig durch die Mangel. Dafür aber kann ich wieder klar denken, ein fantastisches Gefühl.

Inzwischen hatte ich beim Kegeln ganz brauchbare Fähigkeiten entwickelt und gehörte immer öfter zur Siegermannschaft. Außerdem übte ich mich in Badminton und Boules. Alles machte mir zudem redlich Spaß, nicht immer, aber immer öfter. So verging wenigstens die Zeit.

Die Leiterin der Gesprächsgruppe, ihres Zeichens Psychologin, verabschiedete sich in den wohlverdienten Urlaub und meinte zu mir, ich solle mir meinen Freigeist bewahren.
Mach ich, was sonst? Ich hab sonst keinen Geist.

Schließlich verlasse ich Klinik und Mitpatienten, sowohl das eine wie die andern werde ich in guter und dankbarer Erinnerung behalten. Inzwischen läuft mein Hartz IV dank der Unterstützung des zuständigen Stationssozialpädagogen, das ist zwar nun nicht gerade viel, eigentlich ein lächerlicher Betrag, zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel, aber immerhin besser als Garnichts.
Da mir glücklicherweise auch die Miete bezahlt wird, niste ich mich endlich in der Zweizimmerbude meines Kumpels ein. Mit dem hab ich erstmals Unstimmigkeiten, als er meiner Exlebensgefährtin gedankenlos vom Suizidversuch meiner geliebten Frau erzählt. Ich hätte ihm derlei Indiskretion und Instinktlosigkeit gar nicht zugetraut.

Meine geliebte Frau fehlt mir entsetzlich. Da das Geld nicht für die langen Zugfahrten reicht, und sie vorübergehend fahruntüchtig und ohne Auto ist, sehen wir uns sehr selten. Dreimal täglich telefonieren wir deshalb ausgiebig, was allein Unsummen verschlingt, aber das ist uns die kurze Nähe allemal wert. Sie schreitet mit festen Schritten der Besserung entgegen, Woche für Woche geht es mit ihr bergauf.

Mit mir hingegen trotz ambulanter Nachbetreuung einer karitativen Einrichtung in Form von Sozialarbeiter und Gesprächsgruppe stetig den Bach runter. Der Grund ist so einfach wie einleuchtend. Ich lebe in meiner eigenen Vergangenheit. Und die ist tot.
Das neue Leben wartete auf mich in Gestalt meiner geliebten Frau weit in der Ferne. Nach endlosen Wochen konnte ich sie endlich besuchen.

In einem Cafe erzählt sie mir von den Stunden ihres Freitodversuches. Dabei leuchtet ihr Gesicht in entrückter Schönheit. Nur ich kann diese sehen, fährt es mir durch den Kopf, nur ich kann verstehen, welche Größe und Selbstüberwindung ein Suizidversuch in sich birgt.
Verzweifelt suchten wir nach Unterkunft in der nahen Stadt an der Windung des Flusses, jedoch vergeblich. Schweren Herzens mussten wir Abschied nehmen. Allein diese Begegnung gab mir die Kraft für die nächsten Wochen.

Denn die verstreichen, bis ich sie in ihrem Bezirkskrankenhaus wiedersehe, einer parkähnlichen Anlage mit zum Teil schmucken Gebäuden, mit eigner Kapelle und Denkmal aus der NS-Euthanasiezeit des Grauens. Junge Amseln kauerten im Nest, Eichhörnchen hüpften von Baum zu Baum. Hier ließ es sich gut aushalten.
Unsere erste gemeinsame Nacht schloss diese Lücken. Wir waren uns nahe und vertraut, als wäre nichts gewesen, als hätten wir uns erst gestern gesehen. Das gab uns Sicherheit, Kraft und Halt.

In meiner Bude aber schwanden mir die Kräfte mit jedem Tag, den ich länger in dieser Stadt verbrachte. Es war, als würde ich durch das Leben eines anderen geistern, dessen Erinnerungen in meinen Verstand transportiert worden waren.
Ich wanderte über Hügelketten und radelte durch Flusstäler, allüberall lagen wie abgezogene Schlangenhäute Fetzen seines Lebens herum, in jeder Gasse, jedem Winkel, jedem Platz, jeder Kirche der Stadt flüsterte und raunte seine Stimme in mir, und sie sprach von Einsamkeit, Verbitterung, innerer Immigration, Isolation und Elend.

Von einem gewaltigen Selbstbetrug erzählte sie mir, einer Lebenslüge ohne Maß und Lot, in der er gelebt und sich leidlich zufrieden, ja bisweilen glücklich gewähnt hatte.
Um Monat für Jahr tiefer und tiefer in die Seelennacht zu gleiten, weil etwas in ihm nach Verstandensein, Geborgenheit und Liebe schrie. Unablässig, Tag und Nacht, ohne je etwas anderes zu vernehmen als den Hall seines eigenen Echos. Bis zu dem Morgen, an dem er auch dieses nicht mehr erkannte.

Ein Unglückseliger war er, ein Verzweifelter, ein Vergessener. Er dauerte mich, tat mir aufrichtig leid, aber nun, er war verstorben, ich konnte ihm nicht mehr helfen, sein Scheitern und Zugrundegehen machten mich traurig, das wohl, aber irgendwann ging er mir mächtig auf die Nerven.
Zumal er mir ständig begegnete in den Blicken und Worten meiner Freunde, die mich mit ihm verwechselten und mir begegneten, wie sie wohl ihm begegnet waren. Und fürwahr, er musste ein schwieriger Charakter gewesen sein.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 11 Juni 2010, 18:40:53
Der Zwängler

Auf wackligen Beinen stand mein neues Leben. Verletzlich wie ein Kind, von einer gehörigen Tablettendosis belämmert, schwach und angreifbar, so bezog ich die zwei niedrigen, ausgekühlten Zimmer. Die Fenster befanden sich nicht einmal auf Kniehöhe und gaben kaum einen Blick auf den Himmel frei.
Dennoch gelang es mir, den Räumen Gemütlichkeit und Wohnbehagen abzugewinnen. Mit allerlei Bildern und gut sortierten und verteilten Regalen schuf ich mir ein Zuhause. Die hässliche alte Couch verbarg sich unter einer indischen Decke, und die roten Boxen füllten die alten Gemäuer mit Musik.

Ich wusste, dass ich mindestens acht Wochen auf meine geliebte Frau warten musste und war fest entschlossen, diese Wüstenzeit zu überstehen. Endlich hatte ich die Ölofen zu ausreichender Funktionstüchtigkeit gebracht, und die Spatzen vor dem Fenster freuten sich über meine Apfelputzen.
Gemüse, Obst und Brot kaufte ich im kleinen Laden gegenüber bei den Bauersleuten, vertiefte mich in Musik und begann wieder zu lesen. Eine Fähigkeit, die mir vollständig abhanden gekommen war.
Außerdem schrieb ich Gedichte, mit Hilfe derer ich versuchte, meine Erlebnisse und Stimmungen in Reimform festzuhalten und zu verarbeiten. Eine gute Stütze und reale Therapieform, die ich mir in der Klinik angewohnt hatte. Zudem eine Art Tagebuch.

Einmal die Woche erschien ich pünktlich zum Gesprächstermin bei einem engagierten Sozialarbeiter, der in einer karitativen Einrichtung immerhin über ausreichend Erfahrung mit Depressiven verfügte und mir mit Rat und Tat unter die Arme griff. Ebendort besuchte ich eine Gesprächsgruppe, die zwar nicht das Gelbe vom Ei aber ein Stück Struktur darstellte und in der ich mich langsam öffnen und mitteilen konnte. Unter Leidensgenossen gelingt das gut.

Ich ging viel spazieren, joggte ab und zu und erledigte alle Besorgungen und Termine per Rad, eine zusätzliche Art der Ertüchtigung. Hinzu kam noch die allwöchentliche Bandprobe. Hier freilich stellte ich einen wachsenden Entfremdungsprozess fest, nichts war mehr wie zuvor, ich hatte das Kiffen aufgegeben und war dafür zum Kettenraucher mutiert, meine Freunde lebten in einer anderen Welt.

Morgens, Mittags und Abends telefonierte ich mit meiner geliebten Frau. Unsere Gespräche und das Gefühl ihrer Nähe gaben mir Trost, Kraft und Zuversicht. Sie waren mir Halt und Mitte und rechtfertigten die horrenden Telefonrechnungen.

Eigentlich hätte alles soweit gut sein können, mein Hartz IV lief, die Miete übernahm ebenso das Arbeitsamt, so dass ich aufatmen und Ruhe hätte finden können nach all der Ungewissheit und Bedrängnis des letzten Jahres.
Jedoch tobte ein Derwisch durchs Haus, polterte siebzig mal am Tag die Treppe rauf und runter und war mit schier besessenem Eifer darum bemüht, eine Atmosphäre unsteter Hast und getriebener Ruhelosigkeit zu verbreiten. Sein kompaktes Sammelsurium aus Stress und Hektik verjagte jeden Geist der Ruhe und Kontemplation wie einen unerwünschten Eindringling und Störenfried.

Ich hätte nun keinerlei Probleme damit gehabt, diese geballte Ladung zielloser und zerstreuter Dynamik an meinem Sitzfleisch vorbeigehen und von mir abgleiten zu lassen wie das Donnern der Traktoren auf der Strasse unter meinem Fenster oder das anhaltende Gebell der armen Kettenhündin im Hof gegenüber, doch diese destruktive und unstrukturierte Form von Negativenergie richtete sich von Anfang an und mit jeder Woche in zunehmendem Maße und mit geradezu feindseliger Zielstrebigkeit gegen meine Person.

Ich putzte Bad und Küche, Treppe und Flur, was keinerlei Beachtung geschweige denn ein Wort der Anerkennung fand, hingegen wurden mir ein paar Brotkrümel auf dem Küchentisch oder ein paar Haare am Putzlappen förmlich um die Ohren geschlagen und behandelt wie Entgleisungen meinerseits. Ich verbreitete offenbar unerträgliche Zustände im Haus und war eine Zumutung und ein Ärgernis.
Der hochneurotische Zwängler, als der sich mein bisheriger Freund entpuppte, warf mir jede noch so unbedeutende Kleinigkeit vor als Beweis und Ausdruck meiner Lebensuntüchtigkeit und asozialen Gedankenlosigkeit. Mit regelmäßiger Heftigkeit brüllte und zeterte er mir völlig unkontrolliert seinen Lebensfrust ins verblüffte Gesicht, mit vorliebe frühmorgens, seine absurden und obskuren Bezichtigungen und Maßregelungen machten auch vor verletzenden Beleidigungen nicht Halt.

Hatte ich den ersten Schock verdaut und im Stillen beschlossen, seinen unbotmäßigen Forderungen geradezu skurriler Pedanterie um des lieben Friedens Willen Folge zu leisten, wurde derlei Entgegenkommen konsequent ignoriert. Suchte ich mit wachsender Verzweiflung ein klärendes Gespräch, wurde ich gekonnt abgewimmelt und prallte gegen eine Front gespielter Freundlichkeit.
Er vermittelte mir mit subtilem Geschick das unterschwellige Gefühl, dass ich ihm dafür dankbar sein müsse, von ihm ins einfache und schlichte Leben eingeführt zu werden. Außerdem sei alles, vor allem aber er, in bester Ordnung.
Ich war ihm selbstverständlicher Weise keiner ernsthaften Auseinandersetzung wert, da er ausschließlich und von vornherein im alleinigen Recht war und ich offenbar nur mit Hilfe von Ausbrüchen, chronischen Beanstandungen und kontinuierlicher Kritik zu einem erträglichen und brauchbaren Mitbewohner gedrillt werden konnte.
Als wäre nichts gewesen, pumpte er abends Geld von mir, ein Notfall versteht sich, während er mich noch am selben Morgen zur Schnecke gemacht hatte.

Langsam aber umso sicherer gelangte ich zu der Überzeugung, dass der Kerl entweder völlig durchgeknallt oder aber bösartig sei oder –worauf es sich hinauslief- beides zusammen. Er machte mir das Leben im Hause derart zur Hölle, dass ich mich nur noch während seiner Abwesenheit in die Küche traute und jede unnötige Begegnung vermied.
Ich ging ihm aus dem Weg, wo ich konnte, ja ich floh förmlich vor ihm und verkroch mich in meiner Bude wie in einem Bunker.

Sein geradezu militanter und herablassender Psychoterror demoralisierte mich zusehends. Ich hatte seinen Demütigungen nichts entgegenzusetzen, da ich mich im Zustand der Wehrlosigkeit einer gemäßigten Depression befand, die mich lähmte und dazu nötigte, die Schuld tatsächlich bei mir und meinem Unvermögen zu suchen.

Ein Absurdum, da ich sowohl mit ausreichender Erfahrung in punkto Haushaltsführung als auch mit allen nötigen Kulturpraktiken ausgestattet war, er hätte sich eigentlich keinen besseren Untermieter wünschen können. Außerdem kannte ich das einfache Leben zur Genüge aus meinen Jugendtagen, vielleicht radikaler und extremer als er, und brauchte etwa vier Wochen, um mich geduldig in dessen Widrigkeiten zu fügen und den anfallenden Herausforderungen Herr zu werden.

Was dies betraf, war ich hart im nehmen.

Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 11 Juni 2010, 19:11:12
Der Hagestolz

Die neue Flamme, die ihre Freizeit im Haus verbrachte, kannte ich bereits von einem Jahre zurückliegenden Aufenthalt im Bezirkskrankenhaus her. Damals war sie das Küken unter den Glucken sprich Krankenschwestern, eine unsichere scheue Schülerin.
Diese durchaus sympathische mittlerweile zur Frau gereiften Person begegnete mir mit entgegenkommender Freundlichkeit, lud mich zum Kaffee oder Essen ein –wobei mein Freund gute Miene zum bösen Spiel vortäuschte- und war außerdem begeistert, dass eine ihrer Hündinnen voll auf mich abfuhr.
Der Mischlingshund hatte seine Jugend in der Türkei verbracht. Sie sprach denn auch türkisch und war eine Fremde unter Fremden wie ich. Verwandte Seelen finden sich überall.

Und nun war die Psychiatrieschwester über beide Ohren in meinen Freund verliebt, voll guten Willens und zu vollem Einsatz für diese vom Altersunterschied her nicht ganz einfache Beziehung bereit, was das Zusammenleben mit ihm betraf. Da war ihr nämlich einiges abverlangt.
Zum einen betrieb dieser seinen Arbeitsalltag wie eine Art Mission, um die sich alles und jedes zu drehen hatte. Sein im Grunde verwaschener und flexibler Terminplan war um jeden Preis einzuhalten.
Abends war uneingeschränkte Rücksicht auf seine Befindlichkeit und Übellaunigkeit zu nehmen, die er rücksichtslos auslebte. Dass seine angeschlagene Gesundheit –eine labile Bandscheibe- hierbei jeden Ausbruch rechtfertigte, verstand sich von selbst.

Hinzu kam eine ausgeprägte und widerspruchsempfindliche Fähigkeit, nach Herzenslust zu lamentieren und zu jammern. Dass auch seine Freundin unter einer Hauterkrankung zu leiden hatte und in ihrem wahrlich nicht einfachen Beruf Belastungen und Stress ausgesetzt war, die er sich nicht einmal im Traum ausmalen konnte, war selbstverständlich hinter seinen heroischen Existenzkampf zu stellen und ohne größeres Gewicht.

Die Wochenendgestaltung drehte sich fast ausschließlich um seine Pseudo-Familie und die gemeinsame Gestaltung mit dieser, die da aus seinem pubertierenden Sohn –der bei Muttern lebte- und dessen entzückendem Hund, seiner Ziehtochter und jungen Mutter einer Tochter nebst deren Freund und allerlei sonstigen Bekannten bestand.
In dieses sein System hatte sich seine Freundin bedingungslos zu integrieren oder aber fernzubleiben. Etwaige Bevorzugungen –was Zeit und Unternehmungen betraf- stellten eine Zumutung dar, ja er warf er nicht nur einmal vor, sie hätte ja schließlich gewusst, auf was sie sich einlasse.

Kam sie etwa krank und völlig erschöpft vorzeitig von der Arbeit, ließ er sie in ihrem Zimmer allein und widmete sich stattdessen seiner Ersatzfamilie, die problemlos ohne ihn zurecht- und ausgekommen wäre, da sein ruheloser Aktivismus auch für diese durchaus nervende Eigenschaften besaß, abgesehen von seiner penetranten Neunmalklugheit.

Was auch immer er mit seiner Freundin unternahm, stand unter chronischem Zeitdruck und limitierter Dauer, da er ja immer noch „so viel zu tun“ und Arbeit liegen hätte, die er dann erstaunlicherweise ebendort liegen ließ, wenn er allein Zuhause in seine Zeitungen versank und träge herumlungerte.

Sie war kaum ausgelaugt und todmüde über die Türschwelle gestolpert, empfing er sie mit unerledigten Hausarbeiten, der Schrank im Flur hätte längst abgebaut und ins Schlafzimmer verfrachtet werden müssen, und ehe sie sich’s versah, war er auch schon dabei das alte Teil zu zerlegen.
Als ich ihre erschöpften Züge sah, musste ich ihnen meine Hilfe regelrecht aufdrängen, was er nur widerwillig gelten ließ, weil er es geflissentlich vermied, bei mir auch nur in noch so unbedeutender Schuld zu stehen. Dies hätte quasi die Machtverhältnisse verschoben.
Das Sagen im Haus aber hatte er und er allein.

Dankbarkeit erwartete ich ohnehin längst nicht mehr. Ich tat die Gefälligkeit eher für sie, die mir wirklich leid tat. Kochte sie, und sie kochte gern und gut, funkte er ihr unablässig dazwischen. Bis hin zu Wasserverbrauch und Auswahl der Kochtöpfe schrieb er ihr jeden Handgriff vor und mäkelte herum, was er wieder alles zu reinigen hätte, wenn sie diese oder jene Sauberkeitsregel missachtete.

Hier erlebte ich sie zum ersten mal ungeduldig und gereizt. Nun, ich hätte ihm wohl eine Pfanne über den Kopf gezogen. Aber wie das bei Frauen eben oft so ist, besaß auch sie die sogenannte Aggressionshemmung und schlitterte zusehends in die Rolle der Dulderin.

Ihr ansonsten recht sonniges Gesicht verdüsterte sich im Laufe der Wochen erschreckend, wurde länger und schmaler, ihre Augen schimmerten matter, ihr Lachen verschwand so gut wie vollständig, ihre Stimme war belegt und müde.
Die Hündin, die mich mochte, spürte wohl die wachsende Verzweiflung ihres Frauchens. Apathisch lag sie in der Küche herum, und wenn ich mit ihr sprach, blickte sie mich mit todtraurigen Augen an.
Ach meine Gute, sagte ich tröstend, du weißt ja gar nicht, wie gut es dir geht. Du hast ja keine Ahnung. Sei bloß froh, dass du kein Mensch sein musst.
Und verpasste ihr ein Leckerli. Als sie anfing, auch an diesem das Interesse zu verlieren, wusste ich, was die Stunde geschlagen hatte.

Während mein Freund nicht müde wurde, überall von seiner traumhaften Beziehung zu schwärmen, wie gut doch alles klappen würde und wie toll es doch mit ihr sei, war sie insgeheim längst dabei, ihre sieben Sachen zu packen und das Weite zu suchen. Und ich verstand sie verflixt und zugenäht nur allzu gut.

Denn ich erlebte einen aufgeblasenen und selbstgefälligen alten Hagestolz, der seine Partnerin wie eine Dienstmagd behandelte und ihre Aufopferungsbereitschaft schamlos ausnutzte. Geradezu verbissen kehrte er bei jeder Gelegenheit den lebensklugen und überlegenen Macker heraus.
Ihre zaghaft vorgebrachten Einwände quittierte er mit einem kühlen Lächeln, seine Stimme nahm plötzlich Flüsterton an, während er seinen beliebigen Standpunkt unmissverständlich zum Dogma erklärte. Ihm war nicht beizukommen, ein Meister der passiven Aggression.

Seine Freundin, die ihn ganz offensichtlich wirklich liebte und sich mit aller Kraft um ihn bemühte, zerbrach an seiner Fassade. Sie wurde förmlich aufgerieben.
Neuerdings begegnete sie mir fast verlegen, als wolle sie sich bei mir für etwas entschuldigen. Ganz offensichtlich wurde er nicht müde, mich bei ihr schlecht zu machen, warum auch immer.

Nichtsdestotrotz erkannte sie meinen erneuten Schub auf Anhieb –Berufserfahrung- und riet mir in die Klinik zu gehen, was ich ja dann auch tat, während er dem Ganzen mit unverstellter Gleichgültigkeit begegnete.

Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 12 Juni 2010, 08:51:34
Lebensinhalt

Der einzige Mensch, mit dem ich in diesen Zeiten arger Bedrängnis verbunden war und der zu mir stand, war meine geliebte Frau.
Sie war fassungslos am Telefon, da sie einen Freund erwartet hatte, der mit mir Abende verbringt, musiziert, auf Kneipentouren geht, oder sonst was mit mir unternimmt.

Da sie ihn nur von seiner freundlichen und gewinnenden Art her kannte, mit der er ihr bei der ersten Begegnung entgegengekommen war, ja nur seine Maske, war sie wie vor den Kopf geschlagen. Wie sollte sie auch wissen, dass sich hinter dem Blendwerk des Sonnyboys ein griesgrämiger Misanthrop verbarg?

Ich ging ihm fortan aus dem Weg, zog mich mehr und mehr zurück, versteckte mich regelrecht in meinen vier Wänden und begann mich mehr und mehr wie ein in die Enge getriebener Gefangener zu fühlen. Mein Unbehagen wuchs mit jeder Woche, und langsam aber umso sicherer glitt ich in erneute Verdüsterung.

Hinzu kam meine völlige Heimatlosigkeit, was die alte Stadt betraf, der ich bereits vor langem den Rücken gekehrt hatte. All ihre Stätten waren mir fremd geworden, sie wirkten verlebt und schal auf mich.
Der Mann, der hier dreizehn Jahre seines Lebens verbracht hatte, war ich nicht mehr, und der, der ich jetzt war, hatte die verlogene Wichtigtuerei dieses Provinznestes und ihre verengte Gutbürgerlichkeit derart leid und satt, dass ihn die Plätze, Türme und Mauern regelrecht anwiderten.
Eine lähmende Aura hing über den Gemäuern, ich mied Kneipen und Feste, wich Begegnungen aus, wanderte lieber durch die Wälder der Höhenrücken, die sie umschlossen oder die Flussufer entlang. Aber selbst hier hatte ich alles gesehen und hinter mir.

Wie ein Klos hing mir mein altes Leben mit der Lebensgefährtin, der weitmöglichst aus dem Weg ging, am Hals. Mein Gestern verdunkelte mein Gemüt in dem Maße, in dem mir das Morgen in dieser Umgebung mehr und mehr zum Albdruck wurde.

Es war als huschte ich in meinen Grabhöhlen herum wie mein eigener Schatten. Ich sah hier vor Ort keine Zukunft mehr, kein Leben, das sich zu leben lohnt, weder für mich noch für meine geliebte Frau.

Sie allein war der Grund für mich weiterzuleben, sie war der einzige Halt und Sinn für mich, und obwohl ich ständig ihre Gegenwart spürte, begann ich mehr und mehr unter der räumlichen Trennung zu leiden. Sehnsucht und Traurigkeit höhlten mich aus. Ich spürte wie meine mühsam erworbenen und errungenen Kräfte schwanden wie Schnee in der Frühlingssonne.

Da es mir finanziell nicht möglich war, Zugreisen und Pensionsübernachtungen zu bestreiten, wohingegen sie aufgrund ihrer Medikamente zur Fahruntüchtigkeit verdonnert blieb, sahen wir uns über Wochen nicht. Ich ertrug die Trennung nur mit äußerster Kraftanstrengung.

Ohne die Infusion der täglichen Telefonate wäre ich längst eingebrochen. Unsere Gespräche waren getragen von inniger Nähe und Vertrautheit, wir halfen und gegenseitig und zehrten von der Gewissheit, geliebt und nicht allein zu sein.
Es war, als wären wir über mehr als hundert Kilometer hinweg stets vereint und zusammen, als würden wir gemeinsam leben. Regelmäßige Briefe vertieften diese Gefühl unzertrennlicher Verbundenheit.

Meine Frau konnte meine Stimmungen ebenso erspüren wie ich die ihren, sie war der einzige Mensch, der mir tief in die Seele blicken konnte und den ich offen in meine Seele schauen ließ. Nie hatte ich das Gefühl, etwas vor ihr verbergen zu müssen.
Sie war mein ganzer Halt, meine Heimat und Ort der Geborgenheit, zu der ich Zuflucht nehmen konnte und die mich auffing, tröstete und verstand, selbst und gerade als ich erneut von Freitodgedanken heimgesucht und geplagt wurde.

Diesmal nahm ich ihren Rat ernst, Hilfe zu suchen. Doch selbst die Gesprächstherapie bei einem sympathischen Arzt meiner Wellenlänge half nicht mehr, meinen Rückfall abzuwenden. Mit letzten Reserven versuchte ich, den Kopf über Wasser zu halten, da ich fest entschlossen war, wenigstens bis zur Entlassung und Rückkehr meiner geliebten Frau durchzuhalten.

Beim einzigen wunderschönen Besuch in einem hellen Pensionszimmer mit Blick auf den Fluss registrierte meine Frau meinen desolaten Zustand und machte ihn mir recht schonungslos selbst bewusst. Ich zögerte noch ein paar Tage verzweifelt, aber schließlich spürte ich, dass mich meine Antidepressiva mich nicht mehr ausreichend abdeckten.

Eines Nachmittags saß ich allein in der Küche über meinen Bratkartoffeln und weinte unvermittelt los, ohne etwas dagegen tun zu können. Diese Weinkrämpfe kamen von nun an regelmäßig und mehrmals am Tag über mich. Ich wusste, was die Stunde geschlagen hatte.

Die Qual kam zurück, mit großer und vernichtender Wucht, und ich schaffte es mit letzter Kraft, meinen Sozialpädagogen anzurufen und mich von ihm ins Bezirkskrankenhaus verfrachten zu lassen.
Selbst hierbei brauchte ich die Hilfe von Teilnehmern der Gesprächsgruppe, die meinen beklagenswerten Zustand sofort erkannten und mir unter die Arme griffen.

Ich war also wieder so weit. Es ging mir hundserbärmlich elendiglich.

Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 12 Juni 2010, 09:00:59
Vis-a-vis

Mein so gut wie wirkungslos gewordenes Antidepressivum wurde sofort abgesetzt. Bald befand ich mich im nackten Schub, dessen Qual ich mit Tavor zu dämpfen suchte.

Zu dieser vielzitierten Droge ist zu sagen, dass sie zu den härtesten gehört, die ich im Laufe meines Lebens konsumiert habe. Ihre Wirkung beeinflusst die gesamte Persönlichkeit. Denkfähigkeit, Empfindung, Wahrnehmung, Zeitgefühl und Reaktion sind beeinträchtigt und verändert.
Ohne das explizite Bewusstsein eines Rauschzustandes zu erleben, befindet sich das Individuum in einem geschlossenen Schutzraum bar jeden Realitätsbezuges, in dem es keinerlei Probleme gibt.
Alles ist locker und einfach, zwar wird die Pein der Depression noch wahrgenommen, indes sie spielt keinerlei Rolle mehr. Jede Todesangst ist absoluter Gleichgültigkeit gewichen.
Die Suchtgefährdung ist enorm, schon nach wenigen Tagen stellt sich körperliche Abhängigkeit ein, von der psychischen ganz zu schweigen.

Nach jahrelangem zum Teil haarsträubendem Missbrauch in der Erprobungsphase dieses Wundermittels findet seine Anwendung inzwischen verantwortungsvollen Umgang und vorsichtige Dosierung.
Seine Wirkung lässt sich höchstens mit der von Heroin vergleichen, in der subtilen Beeinflussung und scheinbar gemäßigten Berauschung ist Tavor jedoch als noch extremer und massiver zu definieren, vor allem was Länge und Dauer des Entzugs betrifft.

Im Grunde ist dieses Chemiepaket ein konzentriertes Sammelsurium aus allem, was in herkömmlichen Drogen an Stoffen zu finden ist.

Unter massivem Beschuss kämpfte ich mich im Zustand völliger Verzweiflung durch die endlosen Tage, abgelöst von betäubtem Dahindämmern in stoischer Schicksalsergebenheit.
Die ersten Nächte verbrachte ich in einem Dreibettzimmer. Einer der Mitinsassen fing zwischen drei und vier Uhr morgens laut und gellend zu schreien an, ohne davon wach zu werden. Morgens wusste er nichts davon.

Endlich wurde ich in ein Doppelzimmer verlegt. Mein Zimmerkollege ist ein sogenannter Schmerzpatient. In Folge oder besser trotz einer Bandscheibenoperation war er gezwungen, die Marter dauernder Schmerzen zu erdulden. Darüber war er akut lebensmüde geworden. Ein angenehmer, freundlicher Zeitgenosse, dem ich seinen Hang zu volkstümlicher Musik gern verzieh.

Ansonsten ist so gut wie nichts geboten auf der recht trostlosen Station. So oft es geht, fliehe ich in die Beschäftigungstherapie. Mit Tuchmalerei und Sandsteinmodellierung überbrücke ich die schleichenden Stunden.
Dem persönlichen Einsatz meines Sozialpädagogen verdanke ich die baldige Überweisung in die Tagklinik, die mir bereits von verschiedener Seite wärmstens empfohlen worden war. Also entschließe ich mich nach einer Woche Stationsleben, die verbleibende Frist bis dahin zu Hause über die Runden zu bringen.

Ich habe genug von Krankenbetten, Speisesälen und Stationsfluren. Was ich noch vor Wochen als Ort der Geborgenheit und Sicherheit erlebte –obgleich in einer wesentlich freundlicheren Station- fängt mich jetzt nicht mehr auf, sondern zieht mich im Gegenteil hinunter und drückt auf meine Stimmung.
Daran erkenne ich, dass es mir alles in allem doch etwas besser zu gehen scheint. Es war mir außerdem gelungen, den Schub rechtzeitig zu erkennen und abzufangen. Eine Erkenntnis, die mir ein Stück Selbstvertrauen zurückgibt und Ruhe einflößt.

Noch etwas bewegt mich dazu, die Klinik vorzeitig zu verlassen. In den Monaten meines Aufenthalts hatte ich die verschiedensten Formen von Depressionen, Psychosen oder ähnlichen seelischen Erkrankungen kennen gelernt. Ich beobachtete ein Sammelsurium von Leid und Verzweiflung, und ich war all des Elends müde geworden. Es ist grenzenlos und ohne Vergleich.

Sicher ist es kein Problem, mit einem Mann zu diskutieren, der wie ein Insekt magisch von den Scheinwerfern eines Autos angezogen in dasselbe gelaufen ist nach tagelangem Umherirren und nun nicht nur in der Beschäftigungstherapie eifrig seine vertrackten Traktakte zum besten gibt.
Deren im Grunde hochphilosophischer Inhalt ist nur dem verständlich, dessen Gedankengänge alle Hemmungen verloren und Schranken überwunden haben, also etwa mir. Über die Zeit, das Sein, das Wesen des Menschen und so fort, geht es durch verschachtelte Formulierungen, Widersprüche, aufgelöste Gewissheiten und gewagte Theorien, dass einem nach Minuten der Kopf raucht. Es sei denn, man lässt einfach alles so stehen und gelten, was ich tat und was ihm wiederum gefiel.

Es ist durchaus kurzweilig, meine Rauchpausen mit einem Waffennarr im Rambo-Look zu teilen, dessen grassierende Paranoia ihn in den Dschungelkrieg versetzt hat, wo ihm Vermieter, Nachbarn und Polizei nach dem unbescholtenen Leben trachten.
Unterhaltsam deshalb, weil es genügt, in seine Welt hinabzutauchen und seine Angst ernst zu nehmen, um ihn beruhigen zu können wie ein alter Hase im Schützengraben.
Nach Abklingen seiner Psychose wird er denn auch zum durchaus umgänglichen, intelligenten Zeitgenossen.

Es ist allemal interessant, einem Familienvater zu lauschen, der sämtliche erhältliche Fernsehzeitungen kaufte, um seiner Frau beweisen zu können, dass er mit nicht im Programmheft angeführten Geheimbotschaften traktiert und beschossen wird, von wem auch immer.
Es ist anrührend, seine Frau nebst seinen zwei noch recht kleinen Kindern beim Besuchswochenende kennen zu lernen, um das Ausmaß dieser Tragödie zu begreifen.

Es hat durchaus komische Züge, einem Altlinken Gehör zu schenken, der von seinen Abenteuern im Supermarkt erzählt, wo ihm regelmäßig leere Konservendosen und Bierflaschen untergejubelt werden, im Regal extra für ihn deponiert und in Position gebracht, um ihn zu terrorisieren. So wie es auch die alte Nachbarin tut und überhaupt so gut wie alle Mitmenschen.

Es ist traurig und bewegend, eine Mutter im Zustand eines schweren postnatalen Schubes mit ihrem Gewissen kämpfen zu sehen, derweil sich der Mann mit Hilfe eines befreundeten Pärchens um den Windelscheißer kümmern muss, für den sie nichts empfinden könne.
Und es tut gut, ihre Gewissensbisse mildern zu können mit gutem Zureden, Verweis auf ihre Krankheit und Zerstreuung ihrer Schuldgefühle. Zumal ihr fast täglich vorbeikommender Mann ein rechter Gefühlstrampel zu sein scheint, ein Gemütsmensch der unbeschwerten Sorte.

Es ist rührend, die Fotos einer Forensik-Patientin zu bewundern, die da ihren kleinen Sohn im Kreise einer Pflegefamilie zeigen, ihre Vorfreude zu teilen, wenn ihre Augen in Erwartung eines baldigen Besuchstermins ihrerseits bei demselben zu leuchten beginnen.
Und es tut weh, sie bei ihrer Rückkehr nach kurzer Begeisterung mit erloschenem Blick und verhärmten Zügen in sich zusammengesunken und gekrümmt über einem prallvollen Aschenbecher wiederzufinden.

Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 12 Juni 2010, 09:02:21
Es erschreckt, die selbstzerschnittene Brust eines Künstlers aus der Ex-DDR präsentiert zu bekommen, und es ist zugleich ein nicht unerheblicher Vertrauensbeweis.
Er spielte mir hochinteressante Bands aus Sozialismustagen auf seinem eigens mitgebrachten CD-Player vor und erzählte mir allerlei Schauriges und schier Unvorstellbares von seinen Gefängnisaufenthalten in Folge gescheiterter Fluchtversuche, eigentlich war er ja ein Held, nur leider ein gebrochener.
Jede kleine Krise löste einen Anfall von Selbstverletzungen bei ihm aus, worauf er ein paar Urlaubstage auf der Geschlossenen verbringen durfte.

All das stellte alles in allem eine Bereicherung dar für mich, ich lernte, die Welt mit ihren Kategorien von gut und böse, gesund und krank, normal und verrückt mit anderen, geöffneten Augen zu sehen und begreifen. Denn derlei Begrifflichkeiten sind relativ, nichts weiter, beliebig und je nach Zeit und Umstand veränderlich.
Bei genauer Betrachtung regieren in der Tat die Verrückten die Völker, ihre Normalität ist lediglich sanktionierte Perversion, ihr Wahn legitimierte Gemeingefährlichkeit.

Irgendwann aber war der Punkt erreicht, an dem die vielschichtigen Narben an den Handgelenken der Tischnachbarin und ihr Vortrag über den Auferstandenen, ihre Errettung und seine Kraft der Heilung, die sie mit lauter Stimme über die Tische predigte, einen Grad innerer Abstumpfung und Gleichgültigkeit in mir auslösten.
Langsam erlosch das Interesse an der Not meiner Mitpatienten. Ein dumpfes Gefühl ohnmächtiger Leere machte sich in mir breit.

Kam ein vollkommen abgedrehter Neuzugang hereingestolpert, rang mir seine Wirrnis lediglich ein bitteres Lächeln ab. Es gab keine noch so abstrusen Berichte mehr, die mich fasziniert oder weiter interessiert hätten.
Diese Welt ist ein Irrenhaus, das mit Sicherheit, diese Gesellschaft eine mörderische Diktatur des Widersinns, und im Bezirkskrankenhaus sammeln sich deren Opfer, werden angeschwemmt wie Treibholz, aufgelesen wie Schiffsbrüchige, zusammengefangen wie streunende Hunde.

Von im Gros bemühten und liebenswerten Schwestern und Pflegern werden sie halbwegs hochgepäppelt oder je nach dem heruntergebracht, um draußen genau die Umstände vorzufinden, die sie hierher befördert haben. Gebrandmarkt mit dem scharlachroten Buchstaben P wie Psychiatrie, zugedröhnt mit Psychopharmaka, paralysiert mit Antidepressiva.
Und alles geht den gewohnten Lauf wie bisher, den Bach runter und ins Verderben. Es gibt keine Hoffnung.

„Mein Mann sagt, ich sei zu dick. Aber ich mag das so. Mein Mann selbst ist nämlich ein dürrer Hering. Er ist an den Hüften so spitz wie an den Schultern, das gefällt mir nicht, wenn ich ihn so spüre...“
Irgendwann ist der gute Wille erschöpft, derlei laut vor sich hin gebrabbelte Selbstgespräche mit Humor abzuschmettern. Sie verderben einem die Morgenzigarette. Jedes Lachen hat einmal ein Ende.

Dann ist es Zeit zu gehen.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 12 Juni 2010, 14:41:47
In der Tagklinik

Ein halbes Jahr ist seitdem vergangen. Trotz äußerster Kraftanstrengung war es mir nicht gelungen, eine Bleibe für uns zu finden, in der ein unbehelligtes Zusammenleben möglich gewesen wäre. Mein Schönwetterfreund war über Nacht zum Feind geworden und ich erneut in eine Depression gesunken.

Die Tagklinik erschien mir wie der rechte Ort zur Vorbereitung auf das weitere Leben. Ich befand mich tagsüber in einem Schutzraum, in dem ich zu mir kommen und in Ruhe über weitere Schritte nachdenken konnte. Diesmal sollte ich mich nicht irren.

Schon nach einer Woche war ich stabil genug, mein Neuroleptikum abzusetzen.
Der fest gefügte und überschaubare Ablauf verschiedener Therapien, das Eingebundensein in eine stabile Gruppe, die unaufdringliche Betreuung durch das Personal, die Ruhe des Hauses, all das richtete mich auf und gab mir Selbstvertrauen zurück. War es nun Mal-, Musik- oder Beschäftigungstherapie, Gesprächsgruppe, gemeinsames Kochen, Sport und Ausflüge, aus allem vermochte ich Kraft und Ruhe zu schöpfen.
Ich wurde Tavor los und reagierte ohne größere Nebenwirkungen auf mein neues Antidepressivum. Ich sprach gut darauf an, ein nagelneues Produkt noch in der Testphase, nun lebte ich also auf als Versuchskaninchen.
Der leitende Arzt war relativ jung, umgänglich und humorvoll, und es gelang mir tatsächlich wieder auf die Beine zu kommen.

Das Gebäude kannte ich bereits.
Bei meinem ersten Klinikaufenthalt vor vier Jahren hatte ich mich hier drin durch die Wachtherapie gequält. Der Rundbau mit kleinem Innenhof verwirrt mich auf Grund seiner ungewöhnlichen Architektur noch immer bisweilen. Es dauert eine Weile, bis ich die kürzesten Wege gefunden habe.
Mittags sitze ich im Hof unter dem großblättrigen Baum, der seitdem ein gutes Stück gewachsen ist und schönen Schatten spendet. Hier, wo ich mir vor Jahren zwischen drei und vier Uhr morgens die Seele aus dem Leib geweint habe, genieße ich jetzt meinen Mittagsschlaf, im Stuhl zusammengesunken.
Eine Ewigkeit scheint mir dazwischen zu liegen. Damals war ich Neuling. Schulanfänger sozusagen. Nun bin ich reif für den Übertritt.

Heute weiß ich, was gespielt wird. Mein Misstrauen gegen die Therapeuten ist verschwunden. Sie sind auch nur Menschen, und für gewöhnlich gute dazu. Ob sie sich ihren Idealismus bewahren können, sei dahingestellt. Aber es gibt mit Sicherheit ödere Berufe.

Das Eingebundensein des Betreuungspersonal in die Gruppe ist sehr fruchtbar. Die Distanz zwischen Gesunden und Kranken schwindet, das Gefühl, Aussätziger und Problemfall zu sein, weicht im täglichen Umgang miteinander der Erfahrung, als Mensch und Individuum ernst genommen und geachtet zu werden. Das tut gut.

Natürlich bleibt der unüberwindliche Graben derjenigen, die in der Hölle hocken und derer, die von oben hinunterschauen, aber selbst der tiefere Einblick macht sie zu Mitwissern und Verbindungsleuten.
Wir Kranken ändern ihre Sichtweise des Lebens. Sie sind gezwungen, nachzudenken und zu hinterfragen. Und sie wissen, dass die Wand zwischen ihnen und uns aus Glas ist. Zerbrechlich und dünn. Schon morgen könnten sie theoretisch die Seiten wechseln.
Wir Geschlagenen hingegen werden das nie mehr tun können. Das Stigma der Depression ist keine äußerliche Tätowierung. Unser Brandmal ziert die Seele. Unsichtbar, aber umso unauslöschlicher.

Die dicke Türkin plaudert mit der Putzfrau. Ich hab beide lieb gewonnen. Einfache Menschen ohne Falsch.
Der frisch geschiedenen Mutter geht es immer noch dreckig, aber etwas besser. Ihr Mann hat ihr die Kinder entfremdet und weggenommen. Sie hat meine Anteilnahme.
Der manische Computercrack schwärmt vom U2 Konzert.
Irgendwer spielt Gitarre, und das gar nicht schlecht.
Die jungen Mädchen hier oben sind schön, zu schön offenbar für irgendwelche Schweinehunde, deren Verbrechen sie hierher befördert hat.

Wenn ich mich abends auf mein Rad schwinge, bin ich redlich erschöpft. Ein Arbeitstag liegt hinter mir.

So verbrachte ich die Wochen im wohl tuenden Rhythmus eines geregelten Ablaufs. Meinen leidigen Vermieter sah ich nun als solchen.
Ich entschied mich, fürs erste zweigleisig zu fahren. Eine Option war die Teilnahme an einem einjährigen Wiedereinführungsprojekt in den Arbeitsalltag im Rahmen einer sozialen Druckerei. Dazu freilich war ein Umzug innerhalb der Stadt unvermeidlich.
Die zweite war die Rückkehr in mein Elternhaus zu meinem vergreisten Vater, um dessen Betreuung zu übernehmen. Die nächsten Wochen würden mir eine Entscheidung abverlangen.

Bis dahin nutzte ich meine Zeit. Meine geliebte Frau war inzwischen ebenfalls direkt aus dem Bezirkskrankenhaus in eine Tagklinik gewechselt. Das Modell der therapeutischen Betreuung untertags mit der Rückkehr in das gewohnte Umfeld über Nacht und an den Wochenenden vermied den Effekt des Käseglockengefühls, das ein stationärer Aufenthalt zwangsläufig mit sich bringt.
Die Bewährungsprobe insbesondere an den Wochenenden beinhaltete zugleich die Möglichkeit zu einer Art Standortbestimmung. Die Tagklinik selbst mit ihrer Struktur war durchaus mit einem Arbeitsplatz vergleichbar. Und gearbeitet wurde in der Tat.

Durch die Konfrontation mit der Problematik anderer, überwiegend weiblicher Gruppenmitglieder, war ich ständig gefordert. Innerhalb gruppendynamischer Prozesse, im Verlauf derer sich langsam Unbefangenheit und Freiheit, ja eine Art Vertrauen entwickeln konnte, wuchs nicht nur das Gemeinschaftsgefühl, sondern entwickelten sich positive und solidarische Kräfte, die bei den einzelnen Teilnehmern zum Teil erstaunliche Fähigkeiten freisetzten und zu Tage brachten. So wuchs das Selbstvertrauen und schwand die Selbstverachtung.

Es wurde also viel geredet, erzählt, geweint und gelacht, wobei mein Galgenhumor keine unwesentliche Rolle spielte. Ich war rasch integriert und allgemein beliebt. Zum einen betrachtete ich die Therapeutinnen trotz des üblichen „Sie“ als Gegenüber und nicht als Autoritätspersonen, was zum Teil schon mal zu verbalen Schlagabtauschen führte, zum andern ließ ich keine Gelegenheit aus, die Depressiven als besondere Menschen in einer Ausnahmestellung hervorzuheben.
Insbesondere mit der schwangeren Gruppenleiterin, die es immer wieder mal mit dem therapeutischen Ansatz versuchte und mir mit auffallend viel Kritik begegnete, kam ich immer wieder mal ins Gehege.
Nach zwölfjährigem Zusammenleben mit einer Diplompsychologin fand sie mich allerdings mit allen Wassern gewaschen.

Schließlich verdankte sie es dem werdenden Leben in ihrem Leib, dass ich irgendwann nicht mehr auf ihren Konfrontationskurs einging und ihr beizeiten Recht gab, ja sie sogar bisweilen und bei Gelegenheit mit Anerkennung bedachte, worauf ich fortan mit zurückhaltendem Respekt von ihr behandelt wurde.
Sie hatte ganz nebenbei durchaus ihre Erfahrungswerte und Führungsqualitäten.

Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 12 Juni 2010, 14:43:43
Mit den anderen Therapeutinnen hatte ich keinerlei Probleme, sie fanden meine gewagten Theorien über die Depression eher interessant und lachten außerdem gern über meinen schwarzen Humor.

Ich schwor also meine Leidensgenossen und Innen als Auserwählte und außergewöhnliche Menschen in einer vollkommen aus dem Lot geratenen, kaputten und kranken Gesellschaft ein und machte ihnen immer wieder klar, dass sie von ihren Partnern, Kindern, Verwandten, Freunden und Bekannten keinerlei Verständnis erwarten dürften, geschweige denn von ihren Arbeitgebern.

Es war mir wichtig geworden, allen irgendwie zu vermitteln, dass eine Rückkehr in ihr vorheriges Leben sprich die Normalität für niemanden von ihnen mehr möglich, ja nicht wünschenswert wäre, da sie eben genau diese Situation dahin gebracht hatte, wo sie sich gerade befanden, in der gemäßigten Klapse nämlich.
Und ich wurde verstanden.
Da es mir außerdem spielend gelang, so ziemlich jede Stimmung und Gemütsverfassung erspüren und nachvollziehen zu können, sprich die Löcher, in denen sich meine Artverwandten gerade befanden, gelassen von unten betrachten konnte, mochten mich bald alle gut leiden.

·      Mein persönlicher Durchbruch gelang mir, als ich im Gruppengespräch offen und ungeniert über meinen Suizidentschluss sprach. Ein heikles Thema übrigens, dass die Betreuer fürchten wie der Teufel das Weihwasser aus Angst vor dem möglichen Nachahmungseffekt.
·      Interessanterweise war es aber gerade die Nüchternheit und zwingende Logik, mit der ich meine Absicht erklärte, die bei etwaigen Kandidaten Bestürzung und Nachdenklichkeit auslöste.
·      Sie sahen sich gezwungen, ihre eigenen eher diffusen Beweggründe noch einmal zu überdenken und erschraken vor dem Gedanken, einmal dahin zu gelangen, wo ich mich gerade befand.
·      Kurzum, ich hatte eine heilsame abschreckende Wirkung.

Die Wochenenden waren gefüllt durch die Besuche meiner geliebten Frau. Langsam und schrittweise bereiteten wir uns auf unser zukünftiges Zusammenleben vor, nachdem wir uns ein Jahr lang –bis auf drei Wochen- nur an den Wochenenden und oft wochenlang gar nicht gesehen hatten.
Natürlich fürchteten wir uns bei aller Vorfreude vor dem Alltag, aber jede gemeinsame Stunde machte uns Mut. Wir stritten so gut wie nie und waren uns meistens einig in Urteil und Empfinden.
Die Nähe gab uns Halt und Sicherheit, wir stärkten einander und richteten uns auf. Es geschah das genaue Gegenteil der therapeutischen Unheilspropheten: Unsere gemeinsam erlebte Krankheit schwächte und gefährdete uns mitnichten, sondern gab uns das unschätzbare Gefühl und Wissen, nie und nirgends allein zu sein mit unserer Not und Pein.

Geheimnisvollerweise verlor unsere so vereinigte Seelennacht an Macht und undurchdringlicher Bedrohlichkeit. Außerdem war da kein Druck, anders, besser, stärker, funktionstüchtiger und gesünder sein zu müssen als wir es nun mal waren.
Wir erwarteten nichts voneinander und von uns selbst als füreinander da zu sein in jeder Verfassung und Lebenslage.
Das gelang uns wie selbstverständlich.

Wir waren glücklich miteinander.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 12 Juni 2010, 17:31:54
Displaced Persons

Meine geliebte Frau und ich verließen die jeweilige weit voneinander entfernte Tagklinik fast zeitgleich und konnten endlich zusammenziehen.

Während sich unser gefürchteter Alltag als harmonisch und erfüllend herausstellte, saß uns mein Vermieter mit Rausschmissdrohungen im Nacken. Die Nachmieterin hatte er bereits ausfindig gemacht. Da diese eine Werkstatt im Stall oder Schuppen einrichten wollte, sprang mehr Kohle für ihn dabei heraus.
Hinzu kam die Begattungsmöglichkeit der alleinerziehenden Mutter, zumal mein Vermieter inzwischen zum erneuten Single-Dasein degradiert war.

Der unverhohlene Neid, mit dem er unser Glück beargwöhnte und die mehr oder wenige offene Missgunst gegenüber unserer innigen Zweisamkeit war für mich lediglich eine weitere Bestätigung seines Charakters.
Die Feigheit, mit der er meine Frau verschonte und in Ruhe ließ, um bei Gelegenheit umso heftiger und bissiger über mich herzufallen, erklärte sich recht einfach. Er wusste sehr wohl, dass ich es unter meiner Würde fand, mich vor ihm zu rechtfertigen –für immer abstrusere und absurdere Beanstandungen und Vorwürfe- wohingegen ich nicht gezögert hätte, ihm eine zu verpassen, wenn er es gewagt hätte, meine geliebte Frau zu kränken oder verletzen.

Er verharrte bis zuletzt in dieser Haltung, und ich verlor mehr und mehr das Interesse daran, mich weiter mit seiner Wenigkeit zu beschäftigen.

Unsere Wohnungssuche indes erwies sich als eine nicht abreißende Folge von Enttäuschung und Frustration. Abrissreife Bruchbuden, feuchte Kellerlöcher, verbaute Kammerkabinette, abgelegene Schattenverliese – mit jeder Besichtigung schwand ein Stück Hoffnung, im beschränkten Rahmen unserer finanziellen Möglichkeiten eine auch nur halbwegs bewohnbare Bleibe zu finden.

Wochenende für Wochenende fuhren wir über Land. Wenigstens hatten unsere Ausflüge den angenehmen Begleiteffekt, dass ich meiner geliebten Frau die wirklich schönen und romantischen Flusstäler und Landschaften der Umgebung zeigen konnte.
Ich hingegen fand auch hier nur Altbekanntes und Abgegriffenes fern jeden Heimatgefühls.

Während ich also viermal die Woche zur Arbeitstherapie in Form einer Computerschulung radelte, um mich so auf meinen bewilligten Antritt beim Projekt für Annäherung an Arbeit vorzubereiten, schwand uns Meter für Meter der kalte Boden unter den Füßen.

Alles war unter Dach und Fach, der Betrieb besichtigt, das Vorstellungsgespräch erfolgreich über die Bühne gebracht, die Unterstützung durch das Arbeitsamt genehmigt, was fehlte, war eine Bleibe. Eine Sozialwohnung war auf Grund jahrelanger Wartezeiten pure Utopie, wir standen mit dem Rücken zur Wand.
Die Perspektive kontrollierter Nachbetreuung scheiterte an der Vergeblichkeit, das dafür nötige Dach über dem Kopf zu finden.

Andrerseits entwickelten wir als Paar zunehmende Stabilität. Wir wurden furchtloser und versteckten auch unsere Schwächen nicht länger voreinander.
Was auch immer wir unternahmen wurde zum gemeinsamen Erlebnis. All unsere Eindrücke und Gedanken teilten wir miteinander, bei den einfachsten Erledigungen hatten wir viel Spaß und heiterten uns durch Albernheiten auf, die für gewöhnlich nur bei Kindern zu finden sind. Unser Glück war ungetrübt und grenzenlos, allein, wir schwebten noch immer im leeren Raum.

Alles und jedes schien sich gegen uns verschworen zu haben.

Obwohl uns dies mehr und mehr zusammenwachsen ließ, tauchte vor mir die Unausweichlichkeit einer Entscheidung auf. Der Tag oder besser die Stunde der Wahrheit rückte erbarmungslos näher.
Meine geliebte Frau gab mir mit ihrem Versprechen, mir überall hin zu folgen, den nötigen Rückhalt, gleichwohl aber verlangte sie eine klare Entscheidung von mir, unmissverständlich und klar. Im Angesicht der Ungewissheit war sie mit ihren Kräften am Ende.

Ich gehe also in mich, wäge ab, fasse ins Auge, lasse das Erkannte sich setzen, prüfe für und wider, berücksichtige diese und jene Eventualitäten- und komme keinen Schritt weiter.

Letzter Anstoß schließlich ist ein recht schönes und ruhiges Häuschen irgendwo im Niemandsland, das wir mieten könnten. Als ich den Vertrag unterschreibe, überfällt mich eine jähe Umnachtung, ich falle regelrecht in Angst und Albdruck.
Mit einem Mal wird mir klar, was zu tun und was zu lassen ist.

Wer einen Neuanfang wagen will, muss erst einen Schlussstrich ziehen. Wenn es sein muss, einen dicken.
Und der Weg führt unweigerlich zurück zum Anfang, zum Ausgangspunkt, wenn eine Irrfahrt kein Ziel mehr erkennen lässt. Mitunter braucht es einen klaren und deutlichen Bruch mit allem, was ohne Zukunft ist.

Zum Glück macht die freundliche Vermieterin keinerlei Probleme, als wir den Mietvertrag rückgängig machen.
Ebenso ist der Leiter des Wiedereingliederungs-projektes zwar nicht gerade begeistert über meine kurzfristige Absage, genauer gesagt einen Tag vor meinem Antritt, da aber hinter mir eine Schlange wartet, nimmt er es hin und wünscht mir sogar Glück.

Ich sage also meinem alten Vater zu. Dieser wartet bereits. Er ist nicht nur einverstanden mit unserem Einzug, sondern für seine Verhältnisse hocherfreut. Das halbe Jahr des Alleinlebens im Haus hat offenbar seine Wirkung gezeitigt.
Dieser alte Mann hat mit dem Dämon unseres ersten Fehlversuches nichts mehr zu tun.

Wir packten unsere sieben Sachen zusammen und waren bereit für den Sprung ins kalte Wasser.


Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 12 Juni 2010, 17:42:23
Abflug

Meine geliebte Frau nutzte die Gelegenheit des Auszugs, meinem Pseudofreund ihre Meinung zu geigen. Er schmetterte ihre Anklage mit seiner üblich ratlosen Strategie ab, die ihr keinerlei Angriffsfläche mehr bot und jede weitere Auseinandersetzung unmöglich machte.
Ich verweigerte mich ihm, indem ich mich ohne Gruß und Abschied aus dem Staub machte.

Der Umzug war der erwartete Kraftakt. Erst rauschte mein letzter Freund mit einem zu klein geratenen Möbelwagen in den Hof. Es bedurfte meiner ganzen Erfahrung als professioneller Umzieher, durch Nutzung jeden Quadratzentimeters unser Zeug im Laderaum zu verstauen.
Als der Kasten endlich verzurrt und verschlossen war, blieben sogar ein paar Hohlräume frei. Frohgemut stürmte ich in die leere Bude, um feststellen zu müssen, dass noch allerlei Krimskrams rumstand. Niemand hatte mir darüber bescheid gegeben.

Ich verlor tatsächlich Fassung und Nerven und fuhr meine geleibte Frau zum ersten mal heftig an. Nachdem ich das Gerümpel erfolgreich in ihrem PKW verstauen hatte können, versprach ich ihr ernst und zerknirscht, dass es auch das letzte mal gewesen sei.

Ich hatte weiß Gott genug gestritten in meinem Leben, genug verletzt, genug gekränkt. Sollten sie mir die Füße abhacken oder die Haut abziehen, nie mehr wollte ich mich hinreißen lassen zu Zorn und Aggression, nie wieder meine Liebe angreifen.
So ließ ich denn diese emotionale Entgleisung mit aller Entschiedenheit in der leergeräumten Bude, zusammen mit meinem alten Leben, und war auch schon verschwunden- endgültig und für immer.

Nicht eine Träne ließ ich zurück.

Mein Bruder und seine Gefährtin, die uns beim Auszug große und unschätzbare Hilfe geleistet hatten, kamen beim Elternhaus an, als wir mit tatkräftiger Unterstützung meines letzten Freundes den Kübel bereits ausgeleert und alles erst einmal untergestellt und in den leergeräumten Zimmern verstaut hatten. Es war geschafft.

Allerdings vergingen volle drei Wochen, bis alles an Ort und Stelle war.
Angesagt war eine große Entrümpelungsaktion, da nicht nur das Gästezimmer randvoll mit alten Möbeln gefüllt war. Mein Vater zeigte sich erstaunlich wendig und kooperativ, da er von sich aus eine Möbelfirma anrief, die den Plunder tatsächlich entsorgte.

Außerdem galt es, den vermoderten Kellerflur zu streichen und zur Garderobe umzufunktionieren, die bodenlos chaotische Werkstatt in einen Abstellraum zu verwandeln, den Speicher mit bergeweise Altkleidern und Gerümpel aller Art und Epoche zu füllen und bei alledem meinem verunsicherten und aufgescheuchten Vater nicht das Gefühl einer Hausbesetzung zu vermitteln.
Was mit das Schwierigste an der Unternehmung war.

Als ich schließlich erschöpft und rundum zufrieden in unserem gemütlichen Wohnzimmer saß, war ich angekommen, bevor ich es richtig gemerkt hatte. Zum ersten mal seit achtzehn Monaten genoss ich das Gefühl, in meinen eigenen vier oder besser acht Wänden zu Hause zu sein. Ein unbeschreibliches Aufatmen löste mir das Gemüt, ein Gefühl, das nur kennt, wer ein unstetes Leben zwischen Tür und Angel hinter sich hat.

Meine reichen Umzugserfahrungen zeitigten nun ihre Früchte. Improvisationstalent, systematisches und schrittweises Vorgehen und nicht zuletzt ein Fass voll Geduld und Ausdauer brachten meine Heimkehr schließlich zu einem guten und befriedigenden Ergebnis.

Wir hatten endlich ein Heim.

Das Zusammenhausen mit meinem zugegebenermaßen etwas sonderlichen Vater indes erwies sich als wesentlich reibungs- und problemloser als erwartet. Er war erstaunlich entgegenkommend und einsichtig, woraus ich schließen konnte, dass er tatsächlich froh war darüber, nicht mehr allein vor sich hin krautern zu müssen.

Bald stellte sich heraus, dass ihn das Jahr des Alleinseins psychisch enorm mitgenommen hatte. Einen im Grunde glimpflichen Autounfall, den Zusammenstoß mit einer deutschrussischen Familie, der bis auf Blechschäden ohne Folgen blieb, wertete er als geplante Verschwörung, eigens ihm gestellte Falle und feigen Anschlag auf sein Leben.
Absichtlich seinen diese Russen ihm in die Tür gerammt, um sich so ein neues Auto zu finanzieren. Nur durch ein blitzschnelles Ausweichmanöver hätte er sein Leben retten können. Personenschaden hätten sie billigend in Kauf genommen, um seine Kosten noch erhöhen und ihn regelrecht ausrauben zu können. Unsummen hätten sie ihm abnötigen wollen. Falsche Zeugen hätten sie bestellt und am Unfallort in Position gebracht. An der Haustür hätten sie ihn bedroht. Sein Rechtsanwalt glaube ihm nicht und unternähme nichts. Und so fort.

Niemand konnte ihn von dieser Räuberpistole abbringen, nicht einmal die seit langem bekannte Zugehfrau. Als er zu aberwitziger Letzt seinen Enkel, einen Militärpolizisten, per Telefon um eine Pistole bat, war das Maß des Erträglichen und zu Verantwortenden überschritten.
Uns blieb nichts anderes übrig, als ihm per Hausarzt und heimlich per Gute Nacht Tee ein Neuroleptikum zu verabreichen, um ihn von seiner bereits seit Wochen anhaltenden Paranoia herunterzuholen Heimlich deshalb, weil er bereits auf eine geringe Menge übersensibel reagierte und sich schwor, dieses Teufelszeug nie mehr zu nehmen.

Mit halber Menge ging ´s dann doch. Er kam wieder zu sich und wurde ruhig, sein Schlaf kehrte zurück, seine Zuckerwerte normalisierten sich. Langsam wurde mir bewusst, dass er sich durchaus in einer lebensbedrohlichen Situation befunden hatte.
Wir waren ganz offensichtlich gerade noch rechtzeitig gekommen.
Jedenfalls war der kleine Akt der Entmündigung besser als die Einweisung in die Psychiatrie, auf die sich das Ganze hinauslief. Ich wusste nun in etwa, was auf uns zukam. Wir betrieben Altenbetreuung. Wieso auch nicht, fragte ich mich. Sinnvoller allemal, als in einer verhassten Stadt in irgendeiner Druckerei die Zeit tot zu schlagen.

Es war weniger ein Wagnis als eine Verzweiflungstat, in mein Elternhaus zurückzukehren. Obendrein ein gewaltiges Risiko, weil ich meiner geliebten Frau den täglichen Umgang mit meinem Vater zumuten musste. Bei genauer Betrachtung hatte ich die Wahl zwischen Scylla und Charybdis.

Seltsamerweise konnte meine Frau von Anfang an gut mit ihm. Was mich aber noch mehr erstaunte, war die Erfahrung, dass ich nicht wie bisher nach wenigen Tagen Aufenthalt von quälender Verfinsterung heimgesucht und von massiven Fluchtinstinkten gepackt wurde wie bisher all die Jahre, sondern mich im Gegenteil von großer innerer Gelassenheit und abgeklärter Ruhe erfüllt wiederfand.

Es war, als würde ich meinen inneren Prozess des geschlossenen Kreises und der Lebensabrundung auch äußerlich vollziehen.

Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 12 Juni 2010, 17:44:26
Meine Erinnerungen hatten alles Bedrohliche, Bedrängende und Bedrückende verloren, grad so, als gehörten sie zu mir wie meine Haut.
Die Vergangenheit gleich welcher Phase war abgeschlossen und erledigt, ich atmete auf und schaute auf die Summe des Ganzen. Und fand mich reif, erfahren und auf gewisse Weise altersweise.

Mein Weggang von und Bruch mit der Stadt meines Gestern stellte sich als Erlösung heraus, als Befreiung und Erleichterung ohne Maßen, als hätte ich Zentnerlasten von mir abgeschüttelt.
Ich fühlte mich wie ein Schmetterling, der dem Grab seiner eigenen Puppe entstiegen war und sich nun leicht und frei dem Sonnenlicht entgegenstreckte, bereit zum Abflug. Wer weiß, vielleicht gibt es doch so etwas wie Auferstehung.

Die tiefgreifende und grundlegende Veränderung, die sich in den letzten zwei Jahren in mir vollzogen hatte, wurde mir erst jetzt in der ehedem verhassten Umgebung vollends bewusst.
Sie war anhaltend und geschah im tiefsten Wesen. Alles, was bisher in meinem Leben geschehen war, hatte seinen endgültigen Abschluss gefunden. Ich kehrte nicht mehr in ein Vorher zurück, um es nach kurzer Zeit als Kerker und Enge zu empfinden, weil das Gestern zu meinem Heute keinen Bezug mehr fand.

Ebenso war jeder Drang und Eifer von mir gewichen, diese Welt wie ein schier Besessener ändern zu wollen und ihre Feindlichkeit zu besiegen. Die Welt wird sich niemals ändern, aber sie ist bereits besiegt.
Alles was ich wollte und brauchte war die Liebe meiner Frau.

So begann unser neues Leben. Bald zog die alte Dackeldame meiner geliebten Frau bei uns ein nebst drei kleinen Meerschweinchen, die unsere Bude mit Leben füllten.

Im großen Obstgarten, der genug Arbeit abwarf, zwitscherten die Vögel. Der Wind wehte über das weite Land. Am Horizont leuchteten bei Fön die mächtigen Berge in der Abendsonne. Am Himmel zogen die Wolken vorbei.

Und ich sah, dass es gut war.



Das Leben an sich

Oft habe ich mich gefragt, woran es wohl liegt, dass ich verzweifelt bin. Ich forschte in meiner Kindheit, meiner Jugend, den Jahren als Vater, den Jahren danach. Gründe gab es etliche, aber keiner schien mir triftig genug.

Heute habe ich die Antwort gefunden. Es sind nicht die Widrigkeiten, die mich zerbrechen ließen, nicht die Frühgeburt, nicht Angst und Gewalt im Elternhaus, nicht der Leistungsdruck der Schule, nicht der Alkohol und die Drogen, nicht die gescheiterte Ehe und der Verlust meiner Söhne, nicht die einsame Zeit zu zweit und die Heimatlosigkeit, die enttäuschten Hoffnungen und vergeblichen Mühen, die mich zermürbt und zerrieben haben.

Nein. Nichts von alledem.

Es ist das Leben an sich. Das Leben mit seiner Dynamik, seinen Erwartungen und Versprechungen, seinen Leidenschaften und Träumen. Das Leben und nur das Leben allein hat mich vernichtet.

Alle Menschen zerbrechen daran. Die Meisten jedoch können es verbergen und verdrängen. Dazu jedoch bin ich zu sensibel. Zu empfindsam oder empfindlich, je nach Betrachtungsweise. Auf alle Fälle zu wach und bewusst.

Das Leben selbst zerstört den Menschen. Das ist mein Fazit. Meine Erkenntnis. Meine Einsicht. Es ist das Leben selbst, das uns tötet.


Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 15 Juni 2010, 17:10:52
Kleine Hundeseele

Sind wir Funken? Glühwürmchen? Sternschnuppen? Tanzende Irrlichter über dem Moor der Zeit? Blendet unser Licht, erleuchtet es das Dunkel und Wirrwarr der Zeiten, weist es einen Weg, führt es in die Irre?

Der letzte Reim ist zerbrochen. Splitter und Scherben wollen nicht mehr zueinander finden. Niemand kann die ursprüngliche Form erkennen. Keiner ihre Reste zusammenfügen. Babylonische Wortfetzen in allen Sprachen. Sinnentleert und ohne Inhalt.

Leben wir? Oder sind wir längst tot und wissen es nicht? Unsichtbare Schatten einer bereits vergangenen Epoche? Werden all die Sterbenden um uns her geboren ins Licht der Wirklichkeit hinein, wir aber verharren trauernd im Tod und Dunkel der Illusion und des Trugs?

Der schwarze Hund zu meinen Füßen, was unterscheidet ihn vom Menschen? Wir behaupten ohne besseres Einsehen, er verfüge nicht über die Gabe des Denkens. Er wisse nicht um sein Selbst. Ja, er habe nicht einmal erkannt, dass er sei.

Woher nehmen wir die Gewissheit dieser Mutmaßung? Wir benutzen unsere Maßstäbe, um ihn zu beurteilen. Macht er es nicht ebenso mit uns? Wie wird wohl sein Urteil ausfallen?
Wir sprechen ihm die Gabe der Abstraktion ab? Was aber, wenn er sie einfach nicht braucht? Oder aber wenn die seine eine andere, uns verborgene ist?

Das Hündchen träumt. Es bellt im Schlaf, zuckt und zappelt mit den Beinen. Es erlebt. Sind seine Traumbilder von weniger Bewusstsein bestimmt als unsere? Ist sein Unterbewusstsein von weniger Gedanken durchsetzt als Unseres?

Wir wissen nicht, was in seinem Kopf vorgeht. Wir wissen so gut wie nichts von seinem Fühlen, Trachten, Sehnen. Wir sagen, er handelt instinktiv. Ist beherrscht von Fresssucht und Trieb. Was aber sind wir? Ich frage, was?!

Wir sprechen ihm jede Fähigkeit ab, spirituelle Welten zu erreichen. Kennen wir die seinen? Wissen wir um seine Religion, um seinen Gottesbegriff? Wie archaisch war unserer noch vor wenigen Jahrtausenden, wie entsetzlich ist er zum Teil heute noch? Woher nehmen wir die Gewissheit, seine Seele auf ein dumpfes Etwas zu reduzieren, woher diese Anmaßung?

Er kann Freude empfinden und Leid wie wir. Schmerz und Trauer, Begeisterung und Sehnsucht, Angst und Kummer wie wir. Er kann hassen. Und er kann lieben. Selbstlos und leidenschaftlich. Er ist uns ähnlich, mit uns verwandt. Beseelt und lebendig.

Wieso sagen wir, dass er nicht um seine Sterblichkeit weiß? Wissen wir das? Wir vermuten es, nichts weiter. Nichts, so gut wie Nichts wissen wir von ihm.

Wir verachten ihn wegen seiner Scham- und Zügellosigkeit. Er treibt es mit Verwandten, lässt keine Gelegenheit aus, beschnüffelt die Ausscheidungen seiner Artgenossen. Was aber lese ich Tag für Tag in der Zeitung? Und wo hinein stecken wir unsere Nase?

Er tötet grausam und ohne Gnade, wenn er kann. Wie aber gehen wir mit unseren Beutetieren, unserem Nutz- und Schlachtvieh um?

Er ist blutgierig und erbarmungslos, so er entfesselt. Ich beobachtee dasselbe Verhalten bei uns in den Nachrichten, Abend für Abend. Und doch, da ist ein kleiner Unterschied. Wir morden Unseresgleichen, wir töten Artgenossen.

Unser Leben, unsere Ethik, ist bestimmt von Verzicht und Selbstbeherrschung. Wir praktizieren sie, um zu überleben, weshalb sonst? Was aber wissen wir von seinem Verzicht und seiner Selbstbeherrschung?
Der Rahmen mag ein anderer sein, die moralische Leistung deshalb geringer anzusehen ist nichts als selbstgefälliges Gutdünken. Außerdem widerspricht dieses unser Urteil der Relativitätstheorie, also einem wesentlichen Bestandteil unserer sogenannten Erkenntnis.

Was also unterscheidet mich wirklich von meiner liebgewonnenen Hündin? Ist es lediglich der Dünkel der Überlegenheit, der mir dabei hilft, die eigene Erbärmlichkeit besser ertragen zu können?

Oh ja, wir haben uns die Erde untertan gemacht. Wir taten es mit rücksichtsloser roher Gewalt, ohne Gnade und Gewissen, mit entsetzlicher Zerstörungswut und Grausamkeit. Und, so frage ich, warum tun die Tiere nicht dasselbe mit uns? Sind sie es am Ende, die uns überlegen sind, irgendwo tief in ihrem Innersten Wissende und Verstehende, auf einer Ebene, die wir längst verloren oder nie besessen haben?

Ich weiß es nicht. Ich erziehe. Auch Menschenkinder müssen erzogen werden. Der Unterschied ist nicht allzu groß. Und der Erfolg ebenso ungewiss.

Bei genauer Betrachtung kann ich nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob es nicht vielleicht umgekehrt ist. Ich werde von ihr erzogen. Hundgerecht gemacht sozusagen. Nach ihrem Bild geformt und erschaffen. Ihr Kompromiss ist der Gehorsam, ein Verhalten, dass ihr auch im Wolfsrudel abverlangt wäre.

Wer also lernt eigentlich von wem? Und wer beherrscht, manipuliert, konditioniert, dressiert wen? In jedem Falle ist mir der Gedanke, die Krone der Schöpfung zu sein, verhasst. Und ich fürchte, sie nutzt das gnadenlos aus...

Wie dem auch sei, ich habe einiges gemeinsam mit ihr. In jungen Jahren soll ich ein rechter Hundesohn gewesen sein, was mir so zugetragen wurde, doch in späteren Tagen war mir immer öfter hundeelend zumute ob des Hundelebens, das zu führen ich blöder Hund mich gezwungen sah und das mir nur allzu oft hundsgemein mitgespielt hat.
Immer öfter fiel der Schatten des Höllenhundes auf meinen Weg, und nicht nur einmal hatte ich das Gefühl, vor die Hunde zu gehen.

Hunde wollt ihr ewig leben, mittlerweile bin ich ganz schön auf den Hund gekommen. Meine arme Hundeseele heult den Vollmond an, wenn ich wieder mal leide wie ein Hund und es mir hundsmiserabel geht.

Diese winselnden Zeilen schreibe ich unter wolkenverhangenem Himmel, aus dem es Cats and Dogs regnet, nicht einmal einen Hund würde man bei diesem Hundewetter vor die Tür jagen.
Aber scheiß der Hund drauf, ich will keine schlafenden Hunde wecken und mag bekannt sein wie ein bunter Hund, nur glücklicher Fügung verdanke ich es, kein Schweinehund geworden zu sein, und anhänglichen sensiblen Wesen wie diesem, dass sich unter meinen Händen streckt und räkelt.

Für das Alles und Jedes Spiel ist, das Dasein pure Freude, das Erleben hemmungslose Begeisterung und Ausgelassenheit. Ein Kind der Unschuld.
Eine kleine Hundeseele, die nicht gebrochen, ein Welpe, der nicht getreten, geschlagen und misshandelt, ein Hündchen, das nicht verraten, verlassen, missbraucht und entwürdigt wurde. Ein unversehrtes kleines Ich.

Das ist es, was mich von ihm trennt. Was mich ab und an mit Wehmut und Traurigkeit erfüllt. Wenn ich in seinen Augen das Strahlen von Glück, Liebe, Geborgenheit und Zufriedenheit sehe.

Dann möchte ich die Welt da draußen vergessen. Sie nie gekannt haben. Dann möchte ich ein kleiner schwarzer Hund sein.
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 18 Juni 2010, 07:54:46
Abgesang

Das Leben um uns her kümmerte sich nicht um unsere Befindlichkeit. Es blieb erbarmungslos und grausam wie eh. Mit dem einen Unterschied, dass mich seine üblen Machenschaften nicht mehr sonderlich interessierten. Weder bäumte ich mich auf noch rannte ich dagegen an.
Ich ließ einfach alles geschehen, entlud zur rechten Zeit meinen Zorn und fügte mich dann umso geduldiger in seine Ränkeschmiede. Sollte es doch mit uns machen, was ihm gefiel. Ich ließ mich von seiner Unberechenbarkeit nicht mehr aus der Ruhe bringen.

Ich hatte jedes Interesse an seinen Fügungen und Schicksalsschlägen verloren. Diese waren ohnehin die öde Aneinanderreihung von Wiederholungen und Bekanntem. Bist Du glücklich, kommt mit Sicherheit ein Unglück, hast Du keine Sorgen, stellen sie sich hundertprozentig ein, bist Du fröhlich, hat sich die Trauer längst herangeschlichen, hast Du keine Pläne, sind die finsteren seit langem geschmiedet, hast Du keine Probleme, tauchen sie unweigerlich auf.

Das ewig alte Lied, dessen Klänge mir derart vertraut waren, dass sie mir längst zur Hintergrundmusik alltäglicher Erledigungen gerieten. Ich tat, was zu tun war, und ließ das Leben toben. Offenbar hatte es nichts Besseres zu tun, als seine Untertanen zu quälen und drangsalieren, nun denn, das war sein Problem und nicht das meine.

Meine Depression wollte partout nicht abklingen und machte auch keinerlei Anstalten, es in absehbarer Zukunft zu tun. Ich gewöhnte mich an ihre Gegenwart und beschäftigte sie artig mit Antidepressiva.
Ein scharfer Hund braucht Auslauf und Aufgabe, und so rieb sich meine Seelennacht an den Tabletten auf bis zur Ermüdung Tag für Tag, geiferte immer wieder mal, knurrte, bellte und schnappte auch ab und zu, aber im Zwinger der Chemie kläffte sie ungefährlich und gebändigt.
Ansonsten schenkte ich ihr weiter keine allzu große Beachtung. Die Anwesenheit lebensmüder Gedanken und Gefühle verlor ihre Schrecken, ich dachte sie, fühlte sie, akzeptierte ihre Dringlichkeit und stellte sie in den Medizinschrank.
Sollten sich die Ärzte damit auseinandersetzen, diese absonderliche Spezies, die wider besseres Wissen und alle Erfahrung an das Leben zu glauben schien.

Ich machte es uns urgemütlich in der Wohnung, auf den Regalen standen allerlei Figuren und Tiergestalten, und jede Neuerwerbung erfüllte mich mit Befriedigung und Freude. Ich hörte gern und mit Vergnügen Musik, bastelte Kassetten und CDs zusammen, las allerlei Bestseller und abgedrehte Krimis, genoss den ausgedehnten Fernsehabend und die Leckereien, die meine geliebte Frau zur rechten Zeit aus der Küche zauberte.
Die Gartenarbeit verschaffte mir die nötige Beschäftigung, die Tierhaltung ebenso. Im Garten scharrten sechs braune Hühner, die uns fleißig mit Eiern versorgten, die mittlerweile fünf Meerschweinchen erquickten mein Gemüt und bereiteten mir nicht unerhebliches Vergnügen, in den Spaziergängen mit dem alten Dackelmädchen und dem schwarzen Hundekind fand ich Entspannung und innere Klärung. Ich war rundum zufrieden und hatte weiter nichts mehr vor.
Kurzum, ich führte ein ruhiges Rentnerdasein und wollte nichts anderes.

Alles war bestens, die Welt mochte getrost untergehen, ich würde es wahrscheinlich erst hinterher bemerken und auch dann wäre es mir ziemlich egal.

Die täglichen Schreckensbilder und Horrormeldungen aus Zeitung und Tagesschau registrierte ich mit wissender Abgeklärtheit.
Ich litt mit den Opfern und verachtete die Täter, die Mächtigen rissen mich höchstens zu einer spöttischen Bemerkung hin, an eine Besserung von was auch immer wo auch immer glaubte ich definitiv nicht mehr. Leere Versprechungen und inhaltlose Plattitüden langweilten mich zumeist, ab und zu amüsierten sie mich, bisweilen ärgerten sie mich.
Jedwede Bedeutung für mich hatte das Weltgeschehen ebenso verloren wie die Prozesse der Gesellschaft, in der ich lebte. Ihr vorprogrammierter Verfall war offensichtlich und unaufhaltsam, Kinder in Scheinwelten finden sich in der wirklichen nicht zurecht, wie auch? Weltfrieden ist eine Utopie, weil der Mensch kein friedliches Geschöpf ist.

Die Erde ist dem Untergang geweiht, was auch sonst. Alle Nationen haben es seit Jahrzehnten gewusst, nichts dagegen getan und offenbar so gewollt oder zumindest gedankenlos und fahrlässig in Kauf genommen. Warum also plötzlich die große Aufregung? Unsere Hühner kümmerte das ebenso wenig wie die ersten Krokusse.

Wahnsinn, Gewalt und Mord nahmen zu, Säuglinge wurden umgebracht, Kinder zu Tode geprügelt, Familien von durchgeknallten Vätern ausgelöscht, Jugendliche von ebensolchen erschlagen, minderjährige Amokläufer setzten ihre blutrünstigen Computerspiele in die Wirklichkeit um, Schüler wurden bis zum Zusammenbruch gemobbt.
Kinderpornographie erreichte ungeahnte Ausmaße, Menschen- und Frauenhandel florierten. Kapitalverbrecher kauften sich schamlos frei. Die Lüge war längst salonfähig und genoss gesellschaftlichen Status.

In den Medien regierte die Blödheit mit unerträglichen Entgleisungen, Widerlinge und Zyniker schoben die fette Kohle, das Volk ließ sich nach Herzenslust verarschen.
Die orientierungslose und angepasste Jugend schob eine Altenüberschuss- Paranoia und hatte Panik vor einer ungewissen Zukunft ohne Job. Zahllose Rentner nagten am Hungertuch.

Kurzum, es herrschte eine Bombenstimmung im Lande, und je trüber die Aussichten wurden, desto tiefer steckten die Leute ihre Köpfe in den Sand.
Das Kabarett hatte definitive Probleme mit der Steigerung seiner Pointen, da es immer mehr hinter der irrsinnig gewordenen Wirklichkeit hinterherhinkte.

Es gab keine Unschuld mehr und keine Aufrichtigkeit. Der rücksichtslose Egoismus hatte Religion, soziales Denken und politisches Bewusstsein ersetzt. Die Frage ist müßig, wie zwei schwermütige Seelen auf diesen kollektiven Wahnsinn reagieren, ja reagieren müssen: mit Rückzug.

Es blieb uns nur übrig, auf das wenige Gute zu schauen, das sich an den Rändern und in Nischen der Gesellschaft einem Kaffeesatz gleich festgesetzt hatte, in kleinen Seelen und unbedeutenden Persönlichkeiten ohne Falsch und Arg.

Und da waren ja noch die Tiere. Noah füllte seine Arche auf Gottes Geheiß damit, während die Menschheit absoff. Das sollte uns zu denken geben. Unter gewissen Umständen zieht der Schöpfer seine animalischen Wesen der Krone der Schöpfung, dem Homo sapiens vor.

Vielleicht bin ich noch zu jung, um mich enttäuscht und desillusioniert von der Menschheit ab und zur Tierwelt hinzuwenden. Andrerseits habe ich diesen Punkt längst überschritten, und außerdem fühle ich mich wie neunundneunzig oder hundertzwo.
Es gibt zwei Alterserfahrungen in meiner Seele. Zum einen bin ich ungefähr siebzehn und werd es bis zum Ende meiner Tage bleiben. Zum andern dürften es so an die zweitausend Jahre sein.

Für gewöhnlich halte ich mich irgendwo dazwischen auf.

Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 18 Juni 2010, 07:56:57
Jedenfalls sind mir die Menschen in der Regel zu böse. Ich liebe ihre Gesellschaft nicht besonders. Tiere hingegen sind angenehme Zeitgenossen, listige kleine oder größere Kobolde, im Gros friedliche Seelen und berechenbare Charaktere. Sie sind durchschaubar und zumeist einfach, vor allem aber ehrlich und liebebedürftig.

Diese neue Einsicht verdanke ich meiner geliebten Frau. Sie hat mich erinnert an meinen Draht zu unseren tierischen Geschwistern, meine Gabe der Telepathie, mit Hilfe derer ich mit ihnen kommuniziere, meine Hochachtung vor ihren Fähigkeiten und Begabungen, die unsere zumeist bei weitem übertreffen. Ich war reif für diese Rückbesinnung. Überreif.

Es tut mir leid sagen zu müssen, dass ich mit der Menschheit fertig bin, aber es ist nun mal so. Alle meine Erfahrungswerte kommen unterm Strich zu diesem Ergebnis. Die Menschheit taugt nichts.

Tja, das wäre alles so weit. Es gibt eigentlich nichts mehr zu sagen. Und hier endet dieses Buch, weil jedes irgendwo enden muss, irgendwann. Und hoffentlich zur rechten Zeit. Im Grunde ist alles gesagt.

Oder?


Niedergeschrieben 2007
Titel: Re: Die Reise durch das schwarze Loch
Beitrag von: Sintram am 20 Juni 2010, 08:19:13
Nachruf

Wo Worte keinen Raum mehr finden
bleibt nur das Schweigen
wozu noch reden
der letzte Spruch gesagt ist
will meines Vaters Tod verkünden
geschlossen ist sein Reigen
so wie bei einem jeden
ein anderer die Lebensspanne misst

Gar mancher Apfel fällt doch weit vom Stamm
und kullert tief den Hang hinab
bis nicht mehr seine Frucht zu finden
die Wurzeln seines Ursprungs sind verloren
gar mancher Löwe zeugt ein Lamm
die Blumenkränze auf dem frischen Grab
sie können Tod nicht an das Leben binden
denn wer da stirbt ist anderswo geboren

Es waren gute Tage
was bleibt ist ungewisse Leere
verschachert wird was Heimstatt uns gewesen
noch gestern Hilfe sind wir heute Ärgernis
ich habe anderes geerbt ganz ohne Frage
Verfall und Alter gab ich Ehre
und konnt´ dabei im Innersten genesen
mir heilte mancher Schlangenbiss

Ich sehe alles etwas anders
die Sicht der Dinge ist verschoben
das Wesentliche hat sich neu gestaltet
Erkenntnis ist ein leises Säuseln
wenn einer biegt das Leben überspannt er´s
wer´s tragen will der hat sich überhoben
denn ohne unser Tun das Schicksal waltet
so wie die Wasser sich im Winde kräuseln


2007