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Autor Thema: Kein Vertrauen in die Menschen-Immer wieder Flashbacks  (Gelesen 6197 mal)

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Engelchen

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Hallo!

Mir geht es momentan wieder ziemlich schlecht. Meine Anspannung habe ich nicht unter Kontrolle, das heißt, dass ich mich selbst verletze.
Ich war nun in stationärer Behandlung und momentan ambulant. Wieder vollkommen zu Hause ist nicht einfach. Zuma ich hier wieder mit viel konfrontiert werde.
Ich habe etliche Probleme, find aber nicht den Mut meiner Psychiaterin es so zu sagen, wie ich denke und fühle. Ich zeige generell keine Emotionen mehr. Heute habe ich aber den Mut gefasst und eines meiner für mich schrecklichen Erlebnisse in Worte gefasst,, in der 3. Person und als Geschichte. Es war sehr schwer für mich, aber ich werde sie euch zum Lesen geben. Kann man die meiner Psychiaterin dann zeigen?
Weil alleine durch Tücher, etx. das Gefühl nicht genug Luft zu bekommen, beim Schwimmen... werde ich daran erinnert und durchlebe es innerlich nochmals.
Oder ist das einfach nur lächerlich???

Angst um mein Leben
Marie besuchte die 8. Klasse eines altsprachlichen Gymnasiums. Das Klassenzimmer befand sich im 1. Stock. Raum 220. Die Tische waren in Reihen hintereinander aufgestellt, sodass etwa 8 Schüler in eine Bankreihe passten. Seitlich standen auch noch ein paar wenige Tische, die ebenfalls besetzt waren.
Marie saß in der letzten Reihe zwischen zwei Klassenkameraden, mit denen sie zu dieser Zeit nicht viel zu tun hatte. Wie auch mit dem Rest der Klasse nicht. Denn dieses Schuljahr war eines von vielen, in denen sie am liebsten im Erdboden verschwunden wäre, auch mit dem Gedanken spielte, ihrem Leben ein Ende zu setzen.
Dieser eine Tag in der 8. Klasse, es war Sommer, brachte für Marie innerlich das Fass zum Überlaufen. Diese Situation hatte sie nie im Leben erwartet, zumal sie diese schon einmal zu Hause erlebt hatte, in der Marie das erste Mal in ihrem Dasein als Mensch Angst um ihr Leben hatte und kurz davor war den Kampf gegen das Böse aufzugeben. Aber sie hat gesiegt, ist noch am Leben und fasst nun den Mut ihre Geschichte aufzuschreiben.
An dem oben genannten Tag geschah es, dass Marie das zweite Mal panische Angst um ihr Leben hatte. Die große Pause war vorbei, die Schüler betraten nach und nach den Klassenraum, setzten sich an ihre Plätze, nur die Lehrerin war noch nicht anwesend.
Marie packte die Unterlagen für die kommende Unterrichtseinheit aus und wartete nur noch darauf, dass die Lehrerin den Raum betritt. In ihren Gedanken ging sie noch einmal grob den Stoff der letzten Stunde durch. Von links sah sie einen Klassenkameraden, Paul, der aufstand und eine Plastikflasche in der Hand hielt. Marie dachte sich nichts Weiteres dabei, er würde die Flasche bestimmt in den Mülleimer werfen.
Doch Paul ging nicht an Marie vorbei, sondern blieb hinter ihr stehen, nahm die gefüllte Plastikflasche in beide Hände, legte sie Marie vorne an ihren Hals und drückte sie mit aller Kraft nach hinten gegen ihren Hals.
Reflexartig versuchte Marie ihre Fingerspitzen zwischen die Flasche und ihren Hals zu schieben um Luft zu bekommen. Verzweifelt versuchte sie die Flasche wegzudrücken, doch Paul ließ nicht los, sondern drückte mit gleicher Kraft weiter.
Nach einer, für Marie empfundenen, sehr langen Zeit, verließ sie Ihre Kraft, wollte die Fingerspitzen, ihren Schutzwall, wegziehen und aufgeben. Innerlich hatte sie mit ihrem Leben abgeschlossen. Doch kurz bevor sie ihren Entschluss in die Tat umsetzen konnte lockerte Paul seinen Griff, nahm die Plastikflasche von ihrem Hals und ging wieder an seinen Platz, so als wäre nichts passiert.
Marie musste sich zunächst wieder orientieren, wo sie war, was gerade passiert war und bemerkte, dass ihr Hals, ihr Kehlkopf schmerzte. Innerlich war sie in Tränen aufgelöst, kurz davor den Raum fluchtartig zu verlassen und nicht mehr zurückzukehren. Aber sie war nicht in der Lage Schwäche zu zeigen, sich es anmerken zu lassen, dass sie jemand verletzt hatte und es sie sehr traf.
Als Marie die Situation gedanklich Revue passieren ließ, kam es ihr blitzartig in den Sinn, dass keiner ihrer Klassenkameraden etwas dagegen unternommen hatte, sondern lediglich zuschaute, sich innerlich vielleicht darüber amüsierte, dass die hässliche Marie vor den Augen aller gedemütigt wurde. Als die Situation ein Ende fand, lächelten die Klassenkameraden und unterhielten sich miteinander weiter, als ob nichts geschehen wäre.
Aber für Marie war dies ein Moment, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der Moment, in dem sie ihr Vertrauen in die Mitmenschen verlor und ihnen nur noch mit Skepsis gegenübertrat, ihnen nichts mehr anvertraute und gegenüber ihnen auch keinerlei emotionale Regungen mehr zeigte. Außer die Emotion der Freude. Immer. Wenn es Marie schlecht ging, ging es ihr äußerlich gut. Nach außen immer lächelnd, aber innerlich schon lange zerfetzt, gebrochen und zutiefst verzweifelt.
Den Mut zu fassen und die Lehrerin unter vier Augen auf das Vorgefallene anzusprechen, dazu fehlte Marie das Vertrauen in die Lehrerin, dass sie das Thema ernst nimmt. Hätte sie den Mut jedoch aufgebracht, hätte die Klasse sie noch mehr gedemütigt. Dann wäre es die hässliche Petze Marie gewesen. Das wollte sie nicht. Wäre die Situation in der Klasse noch schlimmer geworden, wenn diese Erlebnis zu einer Gewohnheit geworden wäre, würde Marie jetzt definitiv nicht mehr dazu fähig sein diese Zeilen zu schreiben.
Das Resultat war, dass Marie es erneut mit sich selbst ausmachte, sich zu Hause wieder alte Wunden aufkratzte bis sie bluteten. Danach fühlte sie sich erleichtert, denn irgendetwas musste an ihr falsch sein und zwar gewaltig, dass die Mitmenschen sie so demütigen. Dafür hatte sie sich zu Hause bestraft, danach ging es ihr besser, die Narben trägt sie heute noch auf ihrer Haut, für immer.
Der große Haken an der Sache war, dass Marie diese Situation zuvor schon einmal erleben musste. Zuhause, in ihrem Zimmer im Dachgeschoss, im Jahr 2007. Sie saß an ihrem Schreibtisch, mit dem Rücken zur Tür, in das Lesen eines Textes am Computer vertieft. Die Eltern waren außer Haus, sprich Marie war mit ihrem Bruder alleine, der ebenfalls sein Zimmer im Dachgeschoss hatte und heute auch noch hat.
Der Bruder, Simon, wird in einer weiteren Geschichte von Marie ein sehr großes Thema spielen, aber erst wenn Marie auch bereit dazu ist, dass Geschehene in Worte zu fassen.
An dem Tag im Jahr 2007 hatte Marie den Ratschlag ihrer Eltern beherzigt ihren Bruder zu ignorieren, ihm keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken. Ein fataler Fehler, dass weder die Eltern noch Marie selbst wussten konnte.
Er riss die Tür zu ihrem Zimmer auf, kam rein und fragte Marie, wo die Eltern seien. Marie folgte dem elterlichen Ratschlag und gab ihm keine Antwort. Simon fragte sie erneut. Wieder keine Reaktion seitens Marie. Er kam näher und drohte ihr, wenn sie ihm nicht antworten sollte. Doch sie bliebe standhaft in der Hoffnung, dass er das Zimmer wieder verlässt. Marie hätte es besser wissen müssen und können.
Er positionierte sich hinter ihr, nahm seinen rechten Arm, und sein Unterarm schlang sich um ihren Vorderhals und er drückte zu. Fest, sehr fest. Er ermahnte sie mit zischender leiser Stimme, dass er ihr endlich eine Antwort geben sollte, sonst würde er noch fester drücken.
Seine Drohung machte er war, Marie begann sich endlich zu wehren, versuchte mit letzter Kraft seinen Unterarm von ihrem Hals zu lösen. Ihr Bruder bemerkte den Widerstand, ließ los und verließ mit den Worten, dass sie es noch bereuen würde ihr Zimmer.
Zurück blieb eine in Tränen aufgelöste Marie, alleine, in ihrem Zimmer. Nach Luft schnappend. Mit schmerzendem Hals.
Die Eltern kamen nach Hause und Marie hatte zu diesem Zeitpunkt noch großes Vertrauen in ihre Eltern und berichtete das Vorgefallene zunächst ihrer Mutter. Diese war geschockt, erzählte es ihrem Mann und gemeinsam sprachen sie Simon darauf an. Wie hätte es anders sein sollen, als dass Simon alles abstritt und den Eltern erneut zu verstehen gab, dass seine Schwester halluzinierte und sich alles nur einbildete. Die Eltern ließen die Sache dabei beruhen, bestraften den Bruder in keinerlei Hinsicht und die Demütigungen zu Hause gingen psychisch und physisch weiter wie Jahre zuvor auch.
Als sich diese Situation in einem größeren Rahmen, in der Schule, erneut zutrug und Marie von zu Hause wusste, dass nichts ernsthaft dagegen unternommen worden war, versuchte sie erst gar nicht sich nach dem Geschehenen anmerken zu lassen, dass es sie innerlich und äußerlich extrem verletzte hatte.
Die Jahre 2007 und 2008 waren nur zwei Jahre von vielen, in denen sie in der Schule verbal und körperlich gedemütigt wurde und als sie nach Hause kam erneut. Ein Teufelskreis, dem Marie am liebsten entkommen wäre, auch wenn es ihr Leben gekostet hätte. In diesen Jahren empfand sie dies als den besten Ausweg. Aber der Mut fehlte ihr und andererseits wollte sie es den anderen nicht gönnen, dass sie über Marie gesiegt  und sie zu Fall gebracht hatten.

Ich weiß nicht weiter. Ich habe Panik vor der Zukunft, weil mich dies und vieles mehr immer wieder einholt.
Oder sollte ich mich einfach nur zusammenreißen und alles erneut verdrängen?
Ich kann mit niemandem so offen darüber reden, weil mir das Vertrauen in andere Menschen fehlt.

Ich hoffe ihr könnt mich wenigstens ein wenig motivieren oder hilfreiche Antworten geben.

Liebe Grüße
Engelchen



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nisma

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Re: Kein Vertrauen in die Menschen-Immer wieder Flashbacks
« Antwort #1 am: 06 Juni 2015, 20:30:32 »

Hey du,
erstma möchte ich sagen dass ichs toll finde dass dus hingekriegt hast deine Erfahrungen in Worte zu fassen.

Ich seh keinen Grund wieso du das deiner Psychiaterin nicht zeigen könntest. Im Zweifelsfall könntest du ihr ja erstma sagen dass du etwas aufgeschrieben hast dass du in nem Gespräch nich rauskriegst und sie dann fragen ob du ihr das mal mitbringen kannst. Ich an ihrer Stelle wär sehr interessiert daran.

Lächerlich finde ich das übrigens auf keinen Fall. In keinster Weise.

"Zusammenreissen" oder verdrängen würden dir auf lange Sicht nich gut tun glaub ich, mit ziemlicher Sicherheit eher schaden. Lass dir bitte von niemandem sagen dass du dich zusammenreissen sollst. Auch von dir selbst nich.

Falls Marie und Simon noch unter einem Dach leben würde ich Marie übrigens ans Herz legen da so bald wie möglich wegzuziehen. Mir is nich wohl bei dem Gedanken dass sie da täglich aufs neue schlimmste Erinnerungen durchleben muss.

Liebe Grüsse
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Engelcen

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Re: Kein Vertrauen in die Menschen-Immer wieder Flashbacks
« Antwort #2 am: 07 Juni 2015, 12:29:48 »

Es wäre schön, wenn mir noch weitere antworten könnten und wenn es nur ein kleiner Ratschlag ist, ich bin sehr dankbar darum.
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Crying Angel

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Re: Kein Vertrauen in die Menschen-Immer wieder Flashbacks
« Antwort #3 am: 07 Juni 2015, 13:04:54 »

Hey Engelchen

Ich kann mich meiner Vorschreiberin anschließen.

Auch ich finde es toll, dass du die Kraft hattest diese Zeilen zu verfassen.
Ich habe es bei meinem letzten Klinikaufenthalt ähnlich gemacht, ich habe mich in Gedichten und Bildern versucht auszudrücken und hatte den Mut, diese Dinge meiner Thera zu zeigen. Sie war total erstaunt, was in mir vorgeht, denn sonst habe ich immer meine Maske getragen. Sie war mir sehr dankbar, dass ich ihr so viel Vertrauen geschenkt habe, denn danach wusste sie, was in mir vorging und wir konnten mit der Therapie richtig beginnen
Also, ich weiß, wie schwer diese Entscheidung ist, aber ich würde es immer wieder so machen.
Ich hoffe, ich konnte dir nen bischen helfen.

Alles Liebe dir

Gruß Michi
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Pietsen

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Re: Kein Vertrauen in die Menschen-Immer wieder Flashbacks
« Antwort #4 am: 07 Juni 2015, 13:36:36 »

Hey Engelchen,
hab eben deine bzw. Maries Geschichte gelesen. Da ist viel Übles geschehen, was sich leider einbrennt. Du solltest darüber reden, das wird dir helfen. Die Kraft dazu hast du, ganz bestimmt, du hast schließlich auch schon die Kraft gehabt, die Geschichte hier im Forum zu schreiben! Versuch es einfach, deine Psychiaterin wird dir helfen! Melde dich nochmal, wenn du es "vollbracht" hast!
Wünsche dir ganz viel Kraft und drück dir die Daumen!!
              Lieben Gruß, Piet
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Engelchen

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Re: Kein Vertrauen in die Menschen-Immer wieder Flashbacks
« Antwort #5 am: 07 Juni 2015, 22:01:01 »

Hallo!
Ich danke euch schon für eure Mut machenden Antworten.
Jedoch kenne ich mich und weiß, dass ich den Mut nicht aufbringen werde meiner Psychiaterin zu sagen:
Ich habe eines meiner großen Probleme, die mich bis jetzt verfolgen in eine Geschichte verpackt. Anders kann ich mich nicht
mitteilen. Würden sie die mal lesen?

Ich mache mir jetzt schon den Kopf darüber, was sie antworten würde oder wie sie reagiert, wenn sie es gelesen hat.
Bei mir schaltet der Kopf da schon auf Panik..

Am besten wäre ich könnte das alles vergessen, was mir meinen Selbstwert geraubt hat...
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Crying Angel

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Re: Kein Vertrauen in die Menschen-Immer wieder Flashbacks
« Antwort #6 am: 07 Juni 2015, 22:25:20 »

Hey Engelchen

Nur mal so ne Idee.
Würdest es dir leichter Fallen, wenn sie die Geschichte liest, wenn du nicht dabei bist?
Also du könntest ja quasi als Vorwort schreiben, dass es dir schwer fällt darüber zu reden und das sie den Brief nicht in deiner Anwesenheit lesen soll, sondern dass ihr euch in einer anderen Stunde darüber sprechen könnt, wenn du bereit dafür bist. Dir wäre es nur wichtig, dass sie weis, was in dir vorgeht.

Mach dir keine Gedanken, wie sie reagiert, ich weiss, ist leicht gesagt, mir geht es meist auch so. Aber ich denke, das sie froh sein wird, dass du dich ihr gegenüber geöffnet hast, egal ob mündlich, schriftlich oder durch Bilder.

Ist nur ne Idee, ich hoffe, ich habe mich einigermaßen verständlich ausgedrückt?

Lg Michi
« Letzte Änderung: 07 Juni 2015, 22:28:36 von Crying Angel »
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Engelchen

  • Gast
Re: Kein Vertrauen in die Menschen-Immer wieder Flashbacks
« Antwort #7 am: 08 Juni 2015, 08:51:21 »

Hallo!

Ihr habt alle Recht, dass ich es ihr geben sollte.
Es wird im Verlauf der Tage noch eine zweite Geschichte hinzukommen, die sich hauptsächlich mit dem Bruder
beschäftigen wird.

Aber wie schon gesagt, da ist Panik in meinem Kopf, dass sie es lächerlich findet, dass sie sagt, dass ich die Vergangenheit einfach abhaken soll, dass sich daran nichts ändern wird und ich nur lernen muss damit zu leben.

Wahrscheinlich wird sie das nicht so knallhart sagen, aber in meinem Kopf spielt sich das andauernd ab.

Liebe Grüße
Engelchen
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Engelchen

  • Gast
Re: Kein Vertrauen in die Menschen-Immer wieder Flashbacks
« Antwort #8 am: 08 Juni 2015, 10:30:31 »

Gerade habe ich mir erneut 2 Stunden Zeit genommen und den Mut gefasst, eine weitere Geschichte zu formulieren.
Ich möchte sie erneut mit euch teilen.
Aber den Mut sie meiner Psychiaterin zu zeigen, werde ich nicht aufbringen, weil die Szenarien, die sich in meinem Kopf abspielen, ein schlechtes Ende haben.

Alltägliche psychische und physische Malträtierungen
Marie hat einen Bruder, Simon, den sie schon in der ersten Geschichte erwähnt hat bezüglich der Erfahrung mit dem Leben abzuschließen. Er ist 5 Jahre älter als sie, studiert Lehramt nachdem er etliches ausprobiert und auch pausiert hatte.
Hier gab es also die kleine Schwester Marie, die schon seit ihrem Kindergartenalter Grundschullehrerin werden wollte und den großen Bruder, der sich letztendlich auch für Lehramt entschied. Ein höheres Lehramt, er steht also erneut über ihr, leistet mehr als Marie, die sich nach anfänglichem Studieren gegen das Studium und für eine Ausbildung im therapeutischen Bereich entschied.
Sein momentanes Auftreten etwas Besseres zu sein als sie, lässt er Marie durch sein provokantes und arrogantes Verhalten spüren. Auch wenn er indirekt und passiv agiert, registriert Marie jede Geste und Anmerkung, weiß, wie diese zu verstehen ist, nimmt es in ihren Kopf auf und dort verweilt es, bleibt möglicherweise für immer im Gedächtnis.
Doch Simons Verhalten war nicht immer passiv und auf verbale Äußerungen beschränkt. Marie kann sich nicht mehr genau daran erinnern, wann es begonnen hat, die für sie scheinende psychische und physische Gewalt, die Simon gegen sie ausspielte.
Marie meint um die elf Jahre gewesen zu sein, als sich das Verhalten ihres Bruders wandelte. Den genauen Verlauf kann sie nicht reflektieren, aber umso besser, die einzelnen Anmerkungen und Handlungen, die er gegenüber ihr angewandt hat.
Die verbalen Malträtierungen schlossen zum größten Teil Beleidigungen mit ein. Auch wenn die nun aufgelisteten Worte für Außenstehende lächerlich erscheinen, waren sie und sind sie für Marie Worte, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt haben und die sie mit der Zeit auch für wahre Münze gehalten hat und immer noch hält.
Marie war eine „fette Planschkuh“, eine „Schweinebacke“, ein „Zottelbock“, „dumm wie Stroh“, ihre Leistungen basieren nur „auf Zufall und Mitleid, nicht auf Wissen“, hat „kein richtiges Abitur“, da sie es in einem anderen Bundesland absolviert hat, wurde „im Krankenhaus verwechselt“, gehört also gar nicht zur Familie. Des weiteren warf er ihr, egal was sie tat, abwertende Blicke entgegen, die Marie immer wahrnahm, ihr Äußeres machte er einerseits durch seine Blicke nieder und andererseits auch durch seine, oben genannten, Bemerkungen und Kommentare wie „Schämst du dich nicht“, „Wie siehst du denn aus“, „Da muss ich kotzen“.
Diese verbalen Äußerungen fielen natürlich nicht immer in Anwesenheit ihrer Eltern, sondern des Öfteren, wenn sie nur an ihm vorbeilief um in ihr Zimmer zu gelangen oder etwas anderes zu tun. Marie tat ihm nichts, aber er konnte sie nicht in Ruhe lassen.
Wenn Marie ihre Eltern darüber aufklärte, war die erste und einzige Maßnahme, dass sie mit ihm in Maries Abwesenheit sprachen und er den Eltern erneut zu verstehen gab, dass seine Schwester halluziniere und er ihr gar nichts angetan hätte. Die gleiche Antwort fiel auch, wenn Simon seine Schwester in Anwesenheit ihrer Eltern demütigte. Sie halluzinierte, egal an welchem Ort, zu welchem Zeitpunkt, in welcher Situation.
Zu einer gewissen Zeit ist der Punkt erreicht, dass der Mensch, in diesem Fall Marie, die andauernden Bemerkungen und Beleidigungen aufnimmt , im Gedächtnis speichert, nicht mehr löschen kann und von sich in der Weise denkt, wie er es täglich mitgeteilt bekommt.
Bei Marie war es in einer Zeit anders. Es waren ungefähr zwei Jahre, in denen sie sowohl ihrem Bruder als auch ihren Schulkameraden ausgeliefert war im Zusammenhang der verbalen Demütigungen.
Morgens ging sie in Schule. Sie war alleine. Ihre Freunde hatten sich schon lange gegen sie gestellt. Täglich musste sie sich dieses anhören: „Du bist so hässlich wie dein Schulranzen.“, „Du bist so hässlich wie deine Schuhe.“, „Schämst du dich nicht wie du rumläufst“, „Schämst du dich nicht wie du aussiehst“, „Schau‘ dir mal deine Haare und dein Gesicht an, das ist doch total ekelhaft.“ Neben diesen Anmerkungen schenkten sie Marie keinerlei Beachtung. Sie war alleine und blieb in diesen zwei Jahren alleine. Wenn im Sport Gruppen gewählt wurden, blieb sie als letzte auf der Bank zurück, in Gruppenarbeiten arbeitete sie alleine, war kein Teil der Gruppe. Wenn sie jedoch beachtet wurde, dann nur um sie auszunutzen. Marie wusste dies durchaus, aber sie versuchte diesen Moment zu „genießen“, in dem sie, wenn auch nur zum Schein, ein Teil einer Gruppe war.
Marie ließ dies fast jeden Tag über sich ergehen, traute sich nicht zu der Vertrauenslehrerin oder Klassenlehrerin, weil sie wusste, dass wenn sie das Geschehene mit einer dritten Person teilen würde, die Klasse sich noch mehr gegen sie wenden würde. Sie hatte Panik, dass die verbalen Äußerungen noch schlimmer werden würden.
Zu Hause gingen die Malträtierungen durch ihren Bruder weiter. Es war auch hier ein Teufelskreis, dem sie nicht entliehen konnte. Sie baute sich einen Schutzwall auf, war nach außen immer die Starke, ihre Eltern hatten keinerlei Kenntnis über das Geschehene in der Schule. Nach Maries Worten war in der Schule alles bestens. Sie wollte keine Schwäche zeigen, ihren Eltern nicht zur Last fallen. Die Eltern gaben sich damit zufrieden, vielleicht trauten sie sich auch nicht, Marie darauf anzusprechen ob wirklich alles in Ordnung sei. Die Schulzeit ist jedoch ein weiteres Thema, dass separat seine Aufmerksamkeit bekommen wird.
Neben den verbalen Äußerungen ihres Bruders, wandte dieser auch körperliche Gewalt an. Marie weiß nicht mehr was vor den Aktionen geschehen war, dass es soweit kommen konnte, aber sie erinnert sich noch daran, was er ihr angetan hat.
Er packte sie an den Handgelenken, manchmal auch nur an einem Handgelenk und drückte so fest zu, bis Marie Blutergüsse rund um das Handgelenk hatte. Auch hier war die Begründung der Herkunft die, dass Marie sich dies selbst zugefügt hatte um ihren Bruder erneut in ein schlechtes Licht zu stellen. Auch gegenüber ihrer Großmutter war Marie machtlos. Sie machte sich darüber nur lustig, „Simon, das macht man doch nicht.“, aber sie stand auf Simons Seite, auch hier brauchte Marie sich keine Unterstützung zu erhoffen.
Es kam auch vor, dass er ihre Hand packte und die Finger so lange und so fest zusammendrückte, dass Marie dachte er würde ihr die Finger brechen. Schmerzen ließ sie sich nicht anmerken. Sie blieb stark bis er den Griff löste und erst in ihrem Zimmer brach sie in Tränen aus, war verzweifelt, zerbrach sich den Kopf darüber warum er ihr das antut.
Manchmal zog er ihr so fest an den Haaren, dass Marie sich mit aller Kraft versuchte, aus dem Griff zu befreien, doch ihr Bruder ließ nicht locker und zog sie von einer Seite auf die andere bis sie am Boden lag. Dort hielt er sie noch eine Weile fest, bis er sie gehen ließ, in sein Zimmer verschwand und erneut so tat, als ob nichts geschehen wäre. Marie heulte sich erneut die Tränen aus dem Kopf, nach der Sicht ihres Bruders halluzinierte sie, ihre Eltern sprachen mit Simon und gaben ihr den Ratschlag ihm aus dem Weg zu gehen, ihn zu ignorieren. Was konnten sie sonst anderes tun? Es stand Aussage gegen Aussage und Simon und Marie waren beides ihre Kinder.
Marie stand die Jahre durch, wurde älter, lernte sich so gut es ging zu wehren, zog sich in den Jahren aber immer mehr in sich zurück, baute nach außen eine Mauer auf, zeigte keinerlei emotionale Regungen nach außen, lächelte oder blieb neutral.
Während dieser Zeit, als sie noch jünger war, war sie hilflos, lebte in der Angst, dass ihr Bruder ihr schlimmeres antun könnte, aber soweit kam es nicht. „Zum Glück“. Marie weiß nicht, was sie zu dieser Zeit in dem Kopf ihres Bruders abspielte und wird es wahrscheinlich nie erfahren. Heute beschränkt er sich auf verbale Äußerungen, die Marie so gut es geht versucht zu ignorieren.
Jahrelang hatte sie Angst um ihr Leben. Er hat ihr andauernd das Gefühl der Nutzlosigkeit und Wertlosigkeit vermittelt, die Menschen in der Schule ebenfalls. Dieses Gefühl trägt sie heute immer noch in sich. Sie ist wütend auf sich und enttäuscht von sich, dass sie nicht früher ihren Mund aufgemacht hat, sich gewehrt hat, sich äußerlich geändert hat. Es wäre vielleicht nie so weit gekommen, wenn sie anders wäre.

Liebe Grüße
Engelchen
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nisma

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Re: Kein Vertrauen in die Menschen-Immer wieder Flashbacks
« Antwort #9 am: 08 Juni 2015, 14:07:43 »

Zitat von: Engelchen
Aber wie schon gesagt, da ist Panik in meinem Kopf, dass sie es lächerlich findet, dass sie sagt, dass ich die Vergangenheit einfach abhaken soll, dass sich daran nichts ändern wird und ich nur lernen muss damit zu leben.

Falls sie dir sagen würde, dass das lächerlich ist und dus einfach abhaken sollst, hätte sie wohl ihren Beruf verfehlt und du solltest dir jemand Kompetenteres suchen. Aber falls sie derart grob und wenig einfühlsam wäre hättest du das wohl schon gemacht, schätz ich.

Ich befürchte höchstens dass sie etwas sagen könnte das deinem Kopf die Möglichkeit gibt deine Befürchtungen hinein zu interpretieren.

Ich weiss nich wie lang und gut ihr euch kennt und ob dein Vertrauen zu ihr auch stark gehemmt ist, aber vielleicht brauchst du auch noch ein wenig Zeit sie kennenzulernen und noch ein wenig davon aufzubauen. Vielleicht würds auch helfen das Thema "Vertrauen" nochma explizit mit ihr durchzugehn. Aber deine Panik wird dir niemand komplett nehmen können.
Wichtig wär die Erfahrung zu machen, dass deine Befürchtungen nicht immer zutreffen. Vielleicht sogar komplett daneben lagen. Dies dann für dich selbst auch zu betonen und zu verinnerlichen. Dabei können dir auch die Reaktionen hier im Forum helfen, denn lächerlich fand deine Erfahrungen hier niemand.

Liebe Grüsse
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Engelchen

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Re: Kein Vertrauen in die Menschen-Immer wieder Flashbacks
« Antwort #10 am: 08 Juni 2015, 15:47:55 »

Vielleicht kann ich diese Woche in dem Gespräch den Mut fassen und ihr mitteilen, dass mich diese Woche das Thema "Vertrauen" sehr viel beschäftigt hat und ich merke dass mein Vertrauen gegenüber Menschen sehr gehemmt ist und ich merke wieder in alte Muster zu verfallen, weil ich sage, dass es mir gut geht auch gegenüber Leuten, denen ich dachte zu vertrauen und die mir wahrscheinlich vertrauen.

Und dass ich die Kraft gehabt habe all dass was mich in meinem Kopf verfolgt aufzuschreiben.
Vielleicht wird sie dann von sich aus fragen, ob sie es lesen dürfte?

Ich mach mir viel zu viel Panik und Gedanken. Das ist so ätzend.
Wenn es die Möglichkeit gäbe, Gehirne auszutauschen, ich wäre dabei.
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Engelchen

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Re: Kein Vertrauen in die Menschen-Immer wieder Flashbacks
« Antwort #11 am: 08 Juni 2015, 23:10:13 »

Da ich merke dass es mir irgendwie hilft meine Gedanken aufzuschreiben und zu teilen werde ich morgen die dritte verfassen. 

Wenn ich es hier teile, müsste ich doch auch meine Psychiaterin darauf ansprechen können.
Aber ich habe Panik.
Schon das  belastet mich wieder.  Also denke ich warum ich die blöden Geschichten geschrieben habe ,wenn sich für mich daraus die nächste Angst entwickelt.

LG Engelchen
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Bella

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Re: Kein Vertrauen in die Menschen-Immer wieder Flashbacks
« Antwort #12 am: 09 Juni 2015, 10:55:17 »

Liebes Engelchen,

deine Geschichten machen mich sehr betroffen. Ich möchte dir Mut machen, sie deiner Therapeutin auf jeden Fall zum Lesen zu geben. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass ihr das in der Therapie behandelt. Marie ist sehr tief verletzt worden. Ich wünsche ihr von ganzem Herzen, dass sie erkennt, was für ein wunderbarer Mensch sie ist und dass sie liebenswert ist und diese schlimmen Dinge, die man ihr gesagt und angetan hat, nichts über sie selbst aussagen sondern nur über die Menschen, die sich so verhalten haben. Und nur diese sollten sich schämen, nicht Marie!

Ich wünsche dir alles Gute!
Bella
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Engelchen

  • Gast
Re: Kein Vertrauen in die Menschen-Immer wieder Flashbacks
« Antwort #13 am: 09 Juni 2015, 14:45:13 »

Liebe Bella, vielen Dank für deine einfühlsamen Worte!

Ich habe es heute erneut geschafft eine Geschichte zu verfassen. Hier werden wieder Punkte geschildert, die zu meinem fehlenden Vertrauen in die Menschen geführt haben und warum ich mich so wertlos und hässlich fühle.

Liebe Grüße
Engelchen

Geschichte 3
Marie erwähnte bereits in den ersten beiden Geschichten, dass ihre Schulzeit nicht einfach war und diese sie in tiefste Verzweiflung stürzen konnte. Die bereits geschilderten Vorgängen fanden lediglich auf dem Gymnasium in der 7. und 8.Klasse statt.
Ihre erste Erfahrung von Ausgrenzung durfte sie bereits in der 1.Klasse machen. Als sie von dem, was auf sie zukommen würde, noch nichts ahnen konnte, freute sie sich auf die Einschulung und die danach anstehende Schulzeit.
Es kam der Tag der Einschulung. Marie konnte es kaum erwarten. Das Kleid war angezogen, der Schulranzen war auf dem Rücken und die Schultüte in der Hand. Als Marie mit ihren Eltern, Patentante und Patenonkel die Grundschule betrat, wurde jedem Einschulungskind ein Bär mit einer Farbe umgehängt. Die Farben wurden nacheinander aufgerufen, die Klassenlehrerin genannt. Dann war endlich die Farbe von Maries Bär an der Reihe. Stolz ging sie mit den anderen Kindern nach vorne. Sie setzten sich auf die aufgestellten Bänke um alle zusammen mit der Lehrerin fotografiert zu werden und dann folgten die Kinder der Lehrerin in das Klassenzimmer. Ein Tag voller Freude, Stolz und Neugierde wie dieser neue Lebensabschnitt sich gestalten wird.
Zu dieser Zeit war Marie ein  lebensfroher, aufgeschlossener und auch selbstbewusster Mensch, der präsent war. Sie machte sich keinerlei Sorgen darum sich nicht in die Klasse integrieren zu können oder das sonst irgendetwas Unangenehmes vorfallen könnte. Anscheinend hatten aber speziell die Mitschülerinnen von Anfang an etwas gegen sie. Dies bekam Marie im Laufe der 1.Klasse zu spüren. Ab dem Tag als der Unterricht begann. Am Tag nach der Einschulung.
Marie kann sich an eine Situation ganz genau erinnern. Was davor im Detail passiert ist, kann Marie nicht rekonstruieren. Es war kurz vor 8 Uhr, der Unterricht hatte noch nicht begonnen. Marie trug eine Jeans und ein rotes Sweatshirt mit einer Bärenfamilie darauf. Durchaus ein Motiv, dass ein sechs Jahre junges Mädchen tragen kann oder etwa nicht?
Die klare Einstellung der Mitschülerinnen war: Sowas kann kein Mädchen tragen. „Was hast du denn da an? Ist das noch vom Kindergarten?“ Mit verachtendem Blick teilten sie Marie ihre Meinung mit. Sie versuchte sich zu verteidigen. „Ich finde es schön. Ich mag Bären.“ Wie sollte eine Sechsjährige auf solch einen Angriff reagieren, den sie so noch nie in ihrem Leben kennengelernt hatte? Marie stand kurz vor den Tränen, schämte sich daraufhin für ihr Oberteil und würde es in Zukunft nie wieder tragen, was sie ihren Eltern auch mitteilte.
Dies war aber nur der Anfang von der Schulzeit, deren Illusion, die Marie sich ausgemalt hatte, jeden Tag mehr zerstört wurde. Die nächsten Tage und Wochen erfuhr sie, was es bedeutete ausgegrenzt zu werden, nicht dazu zu gehören, alleine zu sein.
Wenn die Klasse eine Aufgabe in Gruppenarbeit erledigen sollte oder in Einzelarbeit, ließen es besonders die Mitschülerinnen sie spüren, dass sie nicht dazu gehörte. Wenn Marie versuchte, sich einzubringen, eine Lösung mitteilte oder durch Loben anderer, wie schön sie doch das Schreibschrift-M schreiben könnten, versuchte in die Gruppe aufgenommen zu werden, wurde sie jedoch entweder ignoriert oder durch eine Bemerkung abgestempelt. Die Mauer zwischen Marie und den Mitschülerinnen wurde immer höher und war eigentlich nicht mehr zu durchbrechen. In der großen Pause spielte die Klasse entweder Verstecken oder Fangen, aber sobald Marie fragte, ob sie nicht mitspielen könne, wurde sie mit einem „Nein.“ abgewiesen und links liegen gelassen.
Marie war alleine. Es fiel ihr auf, dass die Jungen und Mädchen größtenteils getrennt voneinander spielten. Also fasste Marie den Mut, ging auf ihre Mitschüler zu und fragte sie, ob sie bei ihnen mitspielen könne. Sie sagten ohne zu zögern zu und Marie durfte mitspielen. Die nächsten Wochen hielt sie sich also an ihre Mitschüler, verstand sich gut mit ihnen und verbrachte die große und die kleinen Pausen mit den Jungs.
Einerseits war sie froh Anschluss gefunden zu haben, aber wenn sie immer wieder ihre Mitschülerinnen sah, wie sie zusammen lachten, spielten, sprachen und arbeiteten, empfand Marie Traurigkeit, warum sie nicht dazugehören durfte. Lag es an ihrem Äußeren, an ihrer Art? Sie wusste es nicht.
Da Marie sich sehr gut mit ihrer Klassenlehrerin verstand, die herzlich und sehr freundlich war, fasste sie eines Tages den Mut und sprach ihre Lehrerin auf ihre Situation an, in der sie sich befand. Die Lehrerin nahm Marie auf ihren Schoß und ließ ihr die Zeit alles zu schildern, was vorgefallen sei und dass die Mitschülerinnen sie ausgrenzen würden. Marie sollte die Namen derer nennen, die sich ihr gegenüber so verhalten würden. Diese, Vanessa, Sara, Daniela, Lisa, Julia und Jessica, wurden von der Lehrerin nach vorne gerufen und sie fragte die Mädchen, warum sie Marie so behandeln würden. Diese verneinten natürlich Maries Schilderungen und gaben zur Antwort, dass Marie sie nur fragen müsste ob sie mitspielen darf und dann wäre das kein Problem. Es war aus Maries Sicht sinnlos in dieser Situation in die Offensive zu gehen, ließ es dabei beruhen und die Mädchen bejahten die Anweisung der Lehrerin, dass sie Marie in die Gruppe aufnehmen sollten.
Marie nutzte diese Aussprache um am nächsten die große Pause dazu zu nutzen herauszufinden, ob sie eine Chance hatte in die Gruppe integriert zu werden. Die Mädchen ließen sie mitspielen, aber natürlich nicht ohne Hintergedanken. Marie weiß nicht mehr, was sie getan hatten, aber sie hatten Marie veräppelt, sie stand da wie ein Depp.
Die 1.Klasse war für Marie alles andere als ein angenehmer Start in die Schulzeit. Es kamen die Sommerferien und sie hatte Angst, dass es in der 2.Klasse eine Fortsetzung der vorherigen Klasse geben würde. Zu Anfang war sich Marie dessen auch sehr sicher, aber die Klasse bekam eine neue Mitschülerin. Selina. Sie war mit ihren Eltern und Geschwistern in den Sommerferien hierher gezogen. Marie hatte zunächst die Hoffnung aufgegeben, dass sie in Selina eine Freundin finden würde, da diese sich zunächst an die anderen Mitschülerinnen hielt.  Doch mit der Zeit kamen Marie und Selina immer mehr ins Gespräch, verbrachten die Pausen zusammen mit den Jungs und saßen auch im Klassenzimmer nebeneinander.
Marie fand in Selina eine beste Freundin mit der sie auch außerhalb der Schule fiel unternahm. Selina war auf Maries Seite und Marie auf Selinas Seite. Die 2. Klasse ging vorüber. In der 3. Bis zur 4. Klasse bekam Marie eine neue Klassenlehrerin, die eindeutig ihre Lieblingsschüler hervorhob und Marie öfters traurig gemacht hat.
Wenn Marie sich im Unterricht beteiligte, besonders Musik und Deutsch lagen ihr, kamen von Seiten der Lehrerin Kommentare wie: „Das interessiert uns momentan nicht.“, „Das tut nichts zur Sache.“, „Wir sind in der 3./4. Klasse, nicht mehr in der 1.Klasse.“ Einmal gab es auch einen Aufsatz. Sie sollten einen Bericht schreiben anhand eines ihnen vorgelegten Bildes. Marie schrieb den Aufsatz mit Begeisterung. Bei der Korrektur waren keinerlei Rechtschreibfehler, Inhaltsfehler oder sonst etwas. Aber sie bekam eine Zwei. Ihre Lieblingsschüler, die eindeutig Fehler hatten, die auch markiert waren, bekamen die besseren Noten.
Diese vier Jahre in der Grundschule führten dazu, dass Marie sich an der Teilnahme am Unterricht zurückzog, sich zehn Mal überlegte, was sie nun genau sagen sollte und dürfte, wurde verschlossener und zurückhaltender.
Der Schulwechsel stand an. Marie entschied sich für ein altsprachliches Gymnasium in einem anderen Bundesland. Selina wechselte auf die gleiche Schule. Selina sollte ihr jedoch nicht mehr lange erhalten bleiben. Sie suchte und fand andere Freunde, Marie auch. Diese wollte jedoch den Kontakt, die Freundschaft zu Selina aufrechterhalten. Es funktionierte nicht. Die Freundschaft ging auseinander. Irgendwann sprachen sie noch nicht einmal mehr miteinander. In der Oberstufe war absolute Funkstille.
Die 5. Klasse war in Ordnung für Marie, die sechste ebenfalls. Sie hatte nicht viele Freunde, aber welche, mit denen sie sich sehr gut verstand, mit denen sie auch oft ihre Freizeit verbrachte, denen sie vertraute. Das hätte sie nicht tun sollen. Die Sommerferien kamen und die 7. Klasse stand an. Neuzugänge, neuer Klassenlehrer, neue Fächer, neue Situation für Marie.
Marie ging wie gewöhnlich auf ihre Freunde zu, aber diese behandelten sie sehr distanziert und gingen auch immer schnell von ihr weg. Sie suchten sich wiederum andere Freunde, stellten sich gegen Marie. Tuschelten, wenn sie in Maries Nähe waren, lachten sie aus, beleidigten sie. Die Beleidigungen hat Marie bereits in der 2. Geschichte genannt und kann sie nicht noch einmal hier schreiben. Marie war eine Außenseiterin, sie spürte es täglich, sehr deutlich, verbal aber auch durch die Mimik und Gestik ihrer Mitschüler. Marie war anders, schminkte sich nicht, hatte ihren eigenen Kleidungsgeschmack, hörte klassische Musik, las viel, spielte Klavier. Diese Eigenschaften reflektierend, ist es kein Wunder mehr, dass Marie gemobbt wurde. Ihre Art, ihre Interessen, ihr Aussehen, alles die besten Gründe nicht gemocht zu werden, alleine zu sein, beleidigt zu werden, sein Selbstbewusstsein zu verlieren, sich zu fragen, was Marie eigentlich wert ist, das Vertrauen in Menschen zu verlieren.
Wenn sich Menschen, denen Marie vertraut hat oder zumindest glaubte ihnen Vertrauen schenken zu können, sich gegen sie wenden und sie permanent, täglich fertig machen, wird Marie zur Einzelkämpferin, nach außen emotionslos, stets lächelnd. Innerlich gebrochen und verzweifelt.
In der 8.Klasse geschah das Ereignis, dass Marie in der 1.Geschichte schilderte und auch hier nicht wiederholen oder weiter darauf eingehen möchte. In diesem Jahr fand auch noch eine Klassenfahrt statt. Marie war in einem Zimmer mit Mädchen, mit denen sie nichts zu tun hatten, die sie aber auch in Frieden ließen. Auf dieser Klassenfahrt war auch noch eine Parallelklasse dabei. Sehr viele selbstbewusste Mädchen und Jungen, selbstbewusst, alle gut aussehend und Marie als hässliches Lebewesen mittendrin und zeitgleich alleine.
Mit der Zeit kristallisierte sich für Marie ein Mädchen aus der Parallelklasse heraus, die ebenfalls nicht zu den anderen passte. Sportlich gekleidet, ungeschminkt, völlig normal. Es war das Mädchen, das oft mit mir im Musikunterricht verwechselt wurde und Marie auch mit ihr. Leider lernte sie sie erst am letzten Tag der Klassenfahrt kennen, doch sollten die beiden sich bis zur 10. Klasse als sehr gute Freundinnen verstehen.
Marie war froh, als sie den Rückweg antraten, sie hatte die ganze Woche über abends Herzrasen und es war ihr nur zum Heulen, aber sie staute es in sich auf und hielt es durch. Die restliche 8. Klasse, die 9. und die 10. Klasse verstand sie sich sehr gut mit Tina, dem Mädchen aus der Parallelklasse. Die 9. Und 10. Klasse war mehr oder weniger erträglich für Marie. Sie fand zwei Mädchen in ihrer Klasse, die all die Jahre auch sehr zurückhaltend waren, sich im Hintergrund hielten. Marie ging auf sie zu, sie kamen ins Gespräch, blieben Freundinnen bis zum Ende der 10. Klasse. Marie hatte zwei Menschen an die sie sich halten konnte in ihrer Klasse und eine Person außerhalb der Klasse. Dies waren die Punkte, die die zwei Jahre für Marie mehr erträglich machten. Die für Marie weniger erträglichen Punkte waren die anderen Mitschüler, besonders eine Mitschülerin, die zuvor auch eine Freundin von Marie gewesen war. Sie beleidigte sie ständig in der Schule, sie solle sich doch mal im Spiegel anschauen, wie hässlich sie wäre, was für altbackene Kleidung sie tragen würde und ob sie sich für sich nicht schämen würde. Das Mädchen, Hannah, machte Marie auch bei den Mitschülern noch schlechter, als sie sowieso schon war, hetzte sie gegen Marie auf.
In ICQ schrieb Hannah Marie immer wieder an, beleidigte sie, machte sie runter, so dass Marie sich noch wertloser fühlte, in ihrem Zimmer nur noch am Heulen war. Es musste doch irgendwann besser werden. Sie blockierte Hannah in ICQ. In der Schule konnte sie dies leider nicht.
Die 10. Klasse überstand Marie ebenfalls. Kurz vor den Sommerferien sprach Tina mit ihr. Wollte sie unter vier Augen sprechen. Sie sagte Marie, dass sie mit ihren Eltern in den Sommerferien nach Berlin ziehen und dort auch bleiben würden. Marie blieb gegenüber Tina stark, innerlich brach eine kleine Welt für sie zusammen, zu Hause ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Entweder stellten sich die Menschen, denen sie ihr Vertrauen geschenkt hatte, gegen sie oder sie zogen weg. Marie und Tina versuchten Kontakt zu halten. Er ging jedoch auseinander. Momentan versuchen die beiden wieder mehr miteinander zu reden. Tina würde bald in die Nähe kommen und dann könnten die beiden sich vielleicht wiedersehen.
Dann kam die Oberstufe. Die Klassen wurden aufgelöst. Leistungskurse gewählt. Fächer wurden abgewählt. Drei letzte Jahre begannen. Alle waren in den Kursen durcheinander gemischt. Die zwei Mädchen, mit denen sich Marie auch gut verstand, wurden in andere Kurse eingeteilt. Marie sah die beiden nur in Freistunden oder in den Pausen. Da auch nicht immer. Auch dieser Kontakt lebte sich mit der Zeit auseinander. An einem Tag wurde sie von einem der beiden Mädchen ignoriert, gab Marie keine Antwort, behandelte sie wie Luft.
Marie fasste den Mut, ging auf sie zu und fragte, was denn los sei. Das Mädchen klärte sie auf. Über das, was alles falsch an Marie war. Marie ist arrogant, bedankt sich nie, wird immer bevorzugt von den Lehrern, meint etwas Besseres zu sein und sie wäre froh, mit Marie in keinem Kurs zu sein, sonst würde sie immer die schlechteren Noten bekommen. Die beiden vertrugen sich zwar wieder, aber es war nicht wie vorher. Diese Freundschaft, oder was auch immer es war, hatte keine Zukunft. Es bewahrheitete sich.
Marie war wieder alleine. In allen Kursen. Sie war verzweifelt, traurig, spielte mit dem Gedanken die Oberstufe zu verlassen, die Schule abzubrechen. Denn alle Mädchen und Jungen aus ihrer Stufe hatten etwas gegen Marie. Sie lästerten über sie, warfen ihr verachtungsvolle Blicke zu. Alles offensichtlich. Stellten sie vor den Lehrern bloß. Machten sie fertig, wenn sie eine gute Note schrieb, aber auch wenn sie eine schlechte Note schrieb. Wenn Marie sich über eine Leistung freute, wurde es mit Lästereien und Verachtung bestraft. Marie freute sich nicht mehr. Nam ihre Arbeiten mit gesenktem Blick entgegen und setzte sich mit gesenktem Blick wieder auf ihren Platz. Zu Hause freute sie sich ein wenig. Aber es war keine richtige Freude. Auch diese Menschen lästerten nicht nur wegen den Noten über Marie sondern auch wegen ihrem Aussehen. Sie wollte sich nicht schminken, war immer noch „sportlich“ gekleidet, so wie sie sich eigentlich wohl fühlte. Aber wohl fühlte, konnte Marie sich in diesen 3 Jahren nicht mehr. In der Oberstufe gab es ein Mädchen, das von einer anderen Schule neu hinzugekommen war. Das Mädchen, Phine, war sehr selbstbewusst, schlagfertig, offen, modern gekleidet, geschminkt. Sie blieb an Maries Seite, sie verstanden sich recht gut. Sie gab Marie Halt, dass sie die Schule nicht abbreche und sie unterstützte Phine im Wissen, dass sie es auf die Leistungen bezogen schafft. Sie haben sich gegenseitig bis zum Abitur gestützt. Sie haben es beide bestanden.
Dann kam der Abiball. Marie ging mit ihren Eltern mit sehr gemischten Gefühlen dahin. Was sollte sie dort? Danach würde doch keiner mit ihr Kontakt halten wollen oder? Maries Kleid machte Probleme, sie war verzweifelt, fragte Phine um Hilfe. „Du, ich habe keine Zeit, wir müssen die Instrumente auf die Bühne bringen, sie einstellen und ich muss mich einsingen. Du musst alleine damit klarkommen. Und besorge dir Schminke. Du bist so blass.“ Dann war sie weg. Ich sah sie erst bei ihrem Auftritt wieder. Selbstbewusst wie immer. Sie feierte mit den anderen „Bandmitgliedern“ den gelungenen Auftritt, ließ Marie an diesem Abend links liegen. Ab und zu kamen sie ins Gespräch. Gegen Ende kamen dann noch andere Freunde von Phine, die sie schon viel länger kannte. Nun war Marie noch mehr abgestempelt. Nach dem letzten Auftritt verabschiedete sich Marie von Phine, diese warf ihr nur ein flüchtiges „Tschüss.“ entgegen und Marie führ mit ihren Eltern wieder nach Hause. Ein Abend, der glücklicherweise vorüber war, an dem sich Marie sehr unwohl in ihrer Haut gefühlt hat, sich noch hässlicher als sonst fühlte unter all den anderen.
Aber dieser Tag war der letzte Tag, der mit der Schulzeit in Verbindung gebracht werden konnte. Die Schule war vorbei. Marie hatte ihr Abitur in der Tasche, aber in dieser Tasche war noch viel mehr drin: Ich bin wertlos, kein Selbstvertrauen oder Selbstbewusstsein, ein sich immer schlechter machen als die anderen, Selbsthass, verlorenes Vertrauen in die Menschen.
Diese Tasche trägt Marie immer noch mit sich herum. Gefüllt auch mit den Erfahrungen, die sie in den ersten beiden Geschichten schilderte. Die Tasche war schwer. Erdrückte und zerbrach Marie innerlich, aber nicht äußerlich. Der äußerliche Bruch folgte erst Monate später, aber in einem komplett anderen Zusammenhang. Aber durch die dadurch eingehende extreme körperliche Schwächung war alles geschwächt. Psyche und Körper. Marie stürzte in ein tiefes Loch. Dieses Loch will Marie wieder verlassen. Sie sieht ein Licht am Ende des Tunnels. Aber bis es dazu kam, hat es auch wieder Monate gedauert. Diese Monate wird Marie in einer weiteren Geschichte Revue passieren lassen und reflektieren.
Momentan ist sie aber wieder so stark, dass sie es sogar schafft, all diese Seiten zu schreiben. Dinge, die sie noch nie jemandem so detailliert berichten konnte und auch niemals werden kann. Aber vielleicht helfen den Mitmenschen diese Zeilen um Marie besser zu verstehen und das, was im Inneren bei ihr vorgeht.
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Engelchen

  • Gast
Re: Kein Vertrauen in die Menschen-Immer wieder Flashbacks
« Antwort #14 am: 09 Juni 2015, 21:04:17 »

Hallo nochmal.

Ich weiß, dass ich mittlerweile nerve, aber ich bin momentan in einer Phase in der ich das Gefühl habe, dass alles raus muss.
Durch all die Gedanken, die ich nun aufgeschrieben habe, und die Erfahrungen, die ich machte, gerate ich auch oft in Menschenmengen unter große Anspannung, mache mich schlecht, fühle mich schlecht, schuldig für alles was mir zugestoßen ist. Diese Anspannung und Wut auf mich lasse ich eben auch an mir aus.
Ich habe Skills etc. aber ich kann sie momentan nicht einsetzen. Mein Oberschenkel sieht nicht gerade schön aus , ebenso wenig mein Bauch.

Ich müsste all das meiner Psychiaterin sagen, ihr einfach die Blätter in die Hand geben, und sagen, lesen sie das bitte. Ihr meine Selbstverletzungen zeigen.
Ich habe einfach keinen Mut, bin feig.

Im Moment ist alles sch****. Es könnte so gut laufen. Bewerben für eine Ausbildung, den Sommer genießen, aber es geht einfach nicht.
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