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Allgemeines Nur-Ruhe Forum => Gedichte => Thema gestartet von: Hobo am 29 November 2011, 10:17:26

Titel: Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 29 November 2011, 10:17:26
Geschichten erzählen ist eine Sache. Geschichten erleben, das ist was ganz anderes. Ich mag Geschichten, gerade die kleinen Geschichten, die jedem von uns passieren und auch und gerade jedem früher passiert sind. Das geht ja nun früh los...

Die erste, an die ich mich noch erinnern kann war heftig aber auch lustig, na ja, zumindest fast...

Ich war damals 7 Jahre alt. Ich war stolzer Erstklässler, da ein Schulrat beschlossen hatte, dass ich mit 6 Jahren noch nicht reif genug für die Schule sei. Heute weiß ich, dass ich eine Frage zu einem Berg vor den Toren der Stadt, hm, hinter den Toren der Stadt eher, nicht beantworten konnte. Das war im Jahre des Herrn 1960. Heute weiß ich, dass dieser Hügel "Weinbiet" heißt. Damals nicht. Was ein Glück, durft noch ein ganzes Jahr Kind sein und tun und lassen was ich wollte. Aber auch dieses Jahr ging vorbei und es war soweit.

Ich kam in die Schule. Klar, damals noch mit Tüte und Tamtam und allem, was man zu dieser Zeit so veranstaltet hat. Ich kann mich auch nicht erinnern, davor Angst gehabt zu haben oder Abneigung. Man hatte es mir wohl sehr gut verkauft. Also meine Eltern und mein älterer Bruder. Der hatte ja nur noch von der Schule erzählt und wie toll da alles sei. Gut, ich habe mich zu der Zeit lieber im Schlamm eingegraben und Eidechsen gefangen. Also wirklich wichtige Sachen. Aber egal, ich bin hin und fand es auch nicht schlecht.

Der Lehrer war nett. Klar, damals waren alle Kinder noch so erzogen, dass sie auf Kommando aufgesprungen sind und im Chor "Guten Morgen, Herr Lehrer" gekräht haben. Ich natürlich auch. War halt so. Gut, ist über 50 Jahre her, heute ist das anders. Da kommen die Lehrer mit Polizeischutz ins Klassenzimmer und die Schüler werden an der Tür nach Waffen durchsucht. Nein, so war das nicht damals. Leider weiß ich nicht mehr, welche Art von Kleidung ich damals getragen habe. Oder vielleicht zum Glück. Aber auch das war damals nicht wichtig, keiner hat sich darum gekümmert. Die Schüler, die einen älteren Bruder hatten, die haben logischerweise die abgelegten Klamotten des großen Bruders aufgetragen. Das war normal und hat keinen geschert.

Soviel zu der Welt der Schule damals. Und ja, glaubt mir keiner mehr heute, ich war ein braver Junge und habe immer mitgearbeitet. Gut, im Schulhof in den Pausen, da gab es schon mal Auseinandersetzungen, aber das ist eine andere Geschichte. Erzähle ich später mal.

Natürlich waren die Ferien damals wie heute sehr beliebt. So auch die Osterferien. Wir wohnten in einer Wohnung im 1. Stock und es gab keine Wiesen weit und breit. Auch der Wald war ziemlich weit weg, wir waren eben mitten in der Stadt. Also war das Ostereiersuchen auf die Wohnung beschränkt. Es hat dem Spass keinen Abbruch getan, meine Eltern haben immer tolle Verstecke gefunden. Was sie nicht ahnen konnten war, dass sich der Jüngste schlaflos schon mitten in der Nacht auf die Suche machte. Alle haben tief geschlafen und ich war sehr stolz, vor meinem Bruder auf die Suche zu gehen. Das weiß ich noch genau. Ich hätte im Bett bleiben sollen...

Meine Eltern hatten einen Musikschrank. Also so eine Art Sideboard, links war ein Plattenspieler eingebaut und rechts eine Glasscheibe. Hinter dieser Glasscheibe standen Gläser und Flaschen. Mir hatten es die bunten Gläschen in einem Sechsertrageset angetan. Das war so ein goldverziertes Metallgestell mit 6 Schnappsgläsern in verschiedenen Farben. Man darf nicht vergessen, es war 1960 und zu dieser Zeit der letzte Schrei. Die habe ich mir auf meiner Suche nach Ostereiern erst mal geholt. Natürlich kann man mit sowas nicht spielen, wenn man nichts hat, das man da auch reinschütten könnte. Aber das war kein Problem, da Stand eine Flasche und ich habe dann wohl munter eingegossen und von einem Gläschen ins andere geschüttet. Wie das Kinder halt so machen. Ab und an habe ich ein Schlückchen getrunken und wieder nachgeschenkt. Heute weiß ich, dass diese kleinen Schlückchen ungefähr 33cl waren. Und in der Flasche war echter Strohrum, von meinen Eltern aus Österreich mitgebracht mit satten 80% Alkohol ungefähr.

Genau dort haben sie mich gefunden als die Sonne aufging. Sturzbetrunken und fast bewusstlos. Sie haben mich ins Bett gesteckt, einen Notarzt gerufen, ja, das Theater war komplett. Wobei ich davon nichts mitbekommen habe. Der Arzt hat auf die alte Art den Magen frei gemacht, also ohne Pumpe, eher rustikaler und ich war fast eine Woche im Bett. Hab wohl von schwarzen Männern und anderen Albtraumgestalten gelallt und alle sehr gut unterhalten. Heute weiß ich, dass ich fast über die Wupper, na ja oder den Jordan, gegangen wäre.

Noch heute bin ich dankbar, dass meine Eltern zu mir standen. Ich habe keine Strafe bekommen, keine lauten Worte oder sowas. Gar nichts. Allerdings gab es keine Flaschen mehr danach. Zumindest nicht in Reichweite von Erstklässlern. Nach der Woche bin ich etwas blass aber durchaus wieder gesund zurück in die Schule gegangen. Niemand hat je davon erfahren. Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass ich immer noch der Promilleweltmeister aller 7-jährigen bin. Immerhin Weltmeister...

Klar, die Schule ging weiter, das Leben auch, aber beides hatte noch einige interessante Geschichten. Doch für heute nur diese...

Ja, so war das, Ostern 1960.

Falls es hier Menschen gibt, die auch eine kleine Geschichte aus ihrem Leben erzählen könnten, macht doch, ich fänds schön, lese gerne kleine Geschichten.

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 01 Dezember 2011, 11:29:17
Gerade habe ich den ersten Teil meiner kleinen Geschichten nochmal gelesen. Und siehe da, es ist erstaunlich, was da alles an Erinnerungen wieder aufsteigt. Ja, das Jahr 1960, aus der Zeit vorher könnte ich auch noch eine Geschichte erzählen, aber es ist eine Unfallgeschichte, blutrünstig und wenig erfreulich. Ich hatte wirklich schon einen Roller. Sogar mit Luftreifen. Das war damals der letzte Schrei. Ok, man sollte damit halt nicht unter Fahrräder kommen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Anscheinend ist vieles, was ich für immer vergessen glaubte, doch noch irgendwo in diesem seltsamen Gehirn vergraben. Ich habe einfach mal über die Zeit nach Ostern 1960 nachgedacht. Zum Beispiel mein erstes Schuljahr. Das ist ja nun für die Entwicklung eines noch sehr kleinen Menschen nicht ganz unwichtig. Klar, ich konnte errechnen, dass es  60/61 war. Allerdings sind viele Details dieser Zeit wirklich vergessen und somit verloren. Aber einiges, das weiß ich noch recht gut. Davon handelt die kleine Geschichte heute. Da ich gerade ohnehin über diesen Thread nachdenke, auch über die Reaktionen darauf, werde ich für weitere Geschichten Überschriften wählen. Auch für mich, da ich diese Geschichten zusammen fassen und daraus vielleicht etwas mehr machen werde, als kleine Geschichten im Forum... Heute:

Mein erstes Schuljahr

Erstaunlich, was da, wenn auch vage, doch noch erinnerbar ist. Stolze 7 Jahre alt, neugierig, auch nervös und hauptsächlich abwartend, so habe ich die Schule angefangen. Das allererste was mir dazu einfällt, das ist natürlich meine Tafel. Nein, keinen Tablet-PC ihr Jungnasen, eine Schiefertafel. Vorne Zeilen und hinten Karos. Halt zum Schreiben und zum Rechnen. Daran hing ein Wischlappen und im Schulranzen hatten wir alle einen Schwamm. Der war gut, weil er regelmäßig die 2 Bücher, die wir hatten eingesaut und ziemlich durchweicht hat. Es gab dann aber schnell so eine Art Seifendose, die war recht dicht und das Problem war gelöst. Geschrieben wurde mit einem Griffel. Ist wahr, jeder hatte eine Schiefertafel und Kreidegriffel. Die waren im Griffelkasten, der aus Holz war. Das hat beim Rennen mit dem Schulranzen auf dem Rücken ein ganz typisches Geräusch gemacht und immer wieder zu abgebrochenen Spitzen bei den Griffeln geführt.

Das war aber längst nicht so schlimm wie ein Sturz. Der hat meist zum Tod der Schiefertafel geführt und zu richtig großem Ärger zu Hause mit den Eltern. Warum? Familienetats waren damals anders als heute... Aber das ist eine andere Geschichte. Ich weiß nicht mehr wieviele Tafeln ich im ersten Schuljahr gehimmelt habe, ich schätze aber mal so alle 6 Wochen eine.

Das Lernen ging damals auch ganz anders als heute. Ich glaube, ich habe ein halbes Jahr lang Spazierstöcke auf meine Tafel gemalt. Griff links, Griff rechts, Griff unten, Griff oben. Es waren bestimmt 100.000 Spazierstöcke. Zumindest empfinde ich das heute so. Erst dann wurden Buchstaben geschrieben. Immer als Pärchen. Großes A mit kleinem a usw. Und natürlich alles in Druckschrift. Das ganze Alphabet und natürlich auch wieder gefühlte 100.000 mal. Und auf der Rückseite die Zahlen. Ungefähr genauso oft. Soviel nur zum Schreiben lernen.

Viel lustiger war das Lesen lernen. Wir hatten eine Fibel. Nein, nicht Bibel. Lesebücher für Schüler hießen damals Fibel. Sehr beliebt waren Familiengeschichten, also Alltagssituationen. Wobei die es in sich hatten. Ein paar dieser Sätze weiß ich noch. "Die Mutter macht das Frühstück für die Kinder" oder "Die Mutter putzt die Wohnung" oder "Der Vater kommt abends von der Arbeit nach Hause" und "Die Mutter hat das Essen für den Vater und die Kinder vorbereitet und alle essen zusammen. Der Vater spricht das Tischgebet". Auch schön war "Die Mutter hat die Wäsche gewaschen und legt dem Vater frische Kleidung hin".

Niemand hat damals darüber gelacht. Ehrlich nicht, es war 1960, da war das normal. Es war nur eine Abbildung des damals üblichen täglichen Lebens. Ich kannte niemandem, dessen Mutter gearbeitet hätte. Die war zu Hause und die Väter haben das Geld verdient.

Ansonsten kann ich mich noch sehr gut an den Religionsunterricht erinnern. Die Klassen waren ja damals getrennt nach Geschlechtern. Außer in Religion, die Katholen und Evangelen wurden da aus beiden Klassen zusammen gefasst, also auch die Mädchen. Heute eher lustig, Koedukation ausgerechnet in Religion. Aber das ist eine andere Geschichte, die es durchaus Wert ist erzählt zu werden...

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Epines am 01 Dezember 2011, 16:28:35
Hallo lieber Hobo, welche gute Idee einen solchen Thread zu eröffnen.

Ach die Schulzeit... beim Lesen deiner Erlebnisse sind bei mir auch so einige Geschichten hoch gekommen.

Mit Argwohn hatte ich auf die Schule gewartet, die mir den "Ernst des Lebens" beibringen würde, so die Worte meines   Vaters damals.
Irgendwie hatte ich das Gefühl entscheiden zu können, ob ich dort hin will oder nicht. Also beschloss ich es mir vorerst einmal anzusehen.

Es war absolut fürchterlich. 30 Kinder die nicht lesen konnten, die herum stotterten und nicht einmal die Buchstaben kannten. Ich langweilte mich vom ersten Tag an. Nach einigen Wochen war mir klar, dass dies nichts für mich ist, dass es nichts gibt, was mir in der Schule noch beigebracht werden könnte. Denn lesen und schreiben konnte ich schon lange und was man sonst noch braucht war mir irgendwie total unklar.

Also beschloss ich da nicht mehr hin zu gehen. Anfangs fiel es gar nicht auf, denn meine Eltern waren beide berufstätig und hatten mit sich selbst so viel zu tun, dass ich irgendwie zwar da war, aber kaum beachtet wurde.

Bei schönem Wetter fuhr ich schon morgens mit meinem "Trottinet" in den nahegelegenen Park und spielte auf dem Spielplatz und wenn es regnete bot mir die Kirche, die meist total leer war Unterschlupf.

Nach drei Wochen, ich saß gerade wieder auf der Bank im Park und schrieb einige selbsterfundene Hausaufgaben in mein Schulheft. Da hörte ich wie hinter mir jemand unglaublich verärgert und wutschnaubend laut einen Namen rief; es war meiner...
Meine Mutter stand da mit hochrotem Gesicht und sie schäumte vor Wut. Ich kann mich noch gut an den Schrecken erinnern, ich hatte mir vor Angst beinahe in die Hosen gemacht.

Ich Depp hatte an diesem Tag den Hausschlüssel vergessen und meine Mutter hatte in der Pause meine Lehrerin angerufen und diese war sehr erstaunt, dass ich nicht krank und meine Mutter um so erstaunter, dass ich nicht in der Schule war.

Dieses mein Versagen hatte mich damals sehr geärgert, denn ich dachte naiverweise, dass man es sonst nie gemerkt hätte.

Also musste ich wieder hin und es war übel... Schule war so was von langweilig.

In der Folge machte ich Bekanntschaft mit meinem ersten Psychologen, denn etwas musste mit mir ja nicht stimmen, grundsätzlich gehen Kinder doch gerne in die Schule und haben viel Spaß daran :-).

LG
Epines

Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 01 Dezember 2011, 18:01:23
Freut mich, dass es jemand wagt, Epines^^. Es sind wohl wirklich die "gravierenden" Erlebnisse, die sich tief in unser Gedächtnis eingraben. Leider verdrängen wir sie dann meist im Laufe eines ganzen Lebens. Finde ich schade, weil man diese Dinge heute natürlich viel besser beurteilen kann, viel besser erkennt was damals tatsächlich passiert ist und natürlich auch, ob diese alten Geschichten vielleicht schon Einwirkungen auf unser späteres Leben hatten. Wenn ich lese, dass du früh schon mit Psychologen zu tun hattest, dann drängt sich der Verdacht wohl auf.

Aber nicht nur bei Dir war das so. Meine nächste kleine Geschichte hat mich definitiv schon im zarten Alter von 7 geprägt. Auch wenn ich es erst später realisiert habe und natürlich auch erst später die Konsequenzen gezogen habe. Aber ich muss noch eine Weile nachdenken, es ist halt verdammt lang her. Sie wird von Religionsunterricht und auch vom Sittenbild des Jahres 1960 handeln. Und von den Betroffenen. Mal sehen, später vielleicht oder morgen. Ich brauch immer ein Bild einer Geschichte im Kopf. Es ist noch nicht komplett, aber es wächst...^^

lg
Hobo (kleine Geschichten sind toll...)
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Nicki am 01 Dezember 2011, 23:16:19
Auch eine kleine Grundschulgeschichte:

Ich ging auf eine katholische Grundschule, bei der es üblich war, das regelmäßig in der ersten Stunde ein Gottesdienst stattfand.
Meine zwei Jahre ältere Schwester hielt insgesamt nicht so viel von der Schule und eines morgens überredete sie mich, nicht zum Gottesdienst zu gehen, sondern die Stunde lieber auf dem Spielplatz zu verbringen und zur zweiten Unterrichtsstunde in der Schule zu erscheinen.
Leider hat sie versäumt mir zu erklären, das das Schwänzen war und man das eigentlich nicht darf. Ich habe es mittags also ganz fröhlich meiner Mutter erzählt und meine Schwester und ich bekamen eine ordentliche Tracht Prügel!
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: nubis am 02 Dezember 2011, 08:40:32
Puh.. - also traue ich mich auch mal :-)

Mich hatte schon @hobos erstes Posting inspiriert auch etwas aufzuschreiben - inzwischen ist ein halber Roman daraus geworden, weil mir immer noch mehr in den Sinn kommt^^

Aber keine Angst: ich schreibe hier jetzt mal nur einen Teil - sonst schlaft ihr nachher beim lesen noch ein ;-D


Also:

Ich wurde bereits mit 5 eingeschult: in eine belgische Grundschule.
Ich erinnere mich noch an eins von den Aufgabenheften – Bilder, die man ausmalen konnte und dann daneben schreiben sollte was es darstellt – vor allem an das Bild mit dem bärtigen Mann mit der Axt, und ich wusste nicht, ob es ein Holzfäller sein sollte, einfach ein Mann oder ein ‚Opa’, an den Einzelunterricht, den ich in der Zeit hatte, wo die anderen Religion hatten und ich,  weil ich nicht getauft bin, so tolle Sachen wie das Schälen eines Apfels mit einem echten (!) Küchenmesser gelernt habe – und an den Zaun, der den Schulhof in zwei Hälften geteilt hat…

Klingt komisch – aber war so: Flamen und Wallonen getrennt… - keine Ahnung, ob das heute noch so ist, ich nehme es mal nicht an …aber wer weiß das schon?
Irgendwann hatte ich mal Zweifel, ob mich meine Erinnerung da nicht trügt, aber meine Mutter hat es bestätigt.
Soviel zum ‚vereinten Europa’, denke ich immer, wenn es in so einem kleinen Klitsche-Land wie Belgien nicht mal die beiden Bevölkerungsgruppen schaffen miteinander auszukommen…

Man muss sich mal vorstellen: meine Mutter wurde als Deutsche geächtet – klar, Nachkriegszeit – armes, besetztes Belgien -  mein Großvater auch noch nach Belgien deportierter russischer Jude (man merkt: das war brisant) – jedenfalls war die Familie meines Vaters entsprechend schockiert …bis seine Schwester (also meine Tante) mit einem Wallonen ankam… - man glaubt es kaum – aber DAS stelle meine Mutter glatt in den Schatten^^

Wie gesagt: Grundschule mit 2 Meter hohem Maschendrahtzaun auf dem Schulhof… aber vielleicht hatte er ja auch eine ganz andere Bedeutung, die sich mir nur nicht erschlossen hat...


Aber ich bin abgeschweift…

Die Schule... - wir sind nach meinem ersten Schuljahr nach Deutschland umgezogen und ich habe hier dann das Jahr wiederholt.
Ich erinnere mich noch an vieles: die erste Klassenlehrerin - der erste Streit mit einer Mitschülerin, die dann ihre ältere Schwester rief um mich zu verkloppen^^

Wir haben uns später vertragen und uns sogar ein paar Mal getroffen zum spielen - aber das Wertvollste, was ich damals gefunden habe, war meine Freundin ...wir treffen uns heute noch regelmäßig: nach 37 Jahren und unendlich vielen gemeinsamen 'Geschichten'...





nubis *offensichtlich auch schon uuuralt^^ - und grade wieder in Erinnerungen versunken :-)


Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: parapieps am 02 Dezember 2011, 19:17:05
meine peinlichste geschichte aus der grundschulzeit ist ganz schnell erzählt.
da meine eltern arbeiten mussten, bin ich immer in den frühhort gegangen. von da aus wurden wir immer zur schule gebracht. eines morgens bin ich mal wieder mit meinem schulranzen dort noch halb verschlafen aufgekreuzt und traf leider nur die leute von der kita an. als die mich mit dem schulranzen sahen fingen sie laut an zu lachen und machten sich lustig. es waren ferien und niemand zu hause hat daran gedacht.....grml das liegt mir heute noch irgendwie im magen
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Nicki am 02 Dezember 2011, 23:21:39
@Pieps: Ich stand auch mal an einem Feiertag vor der verschlossenen Schule :( Das ärgerlichste daran war das frühe Aufstehen!

Eine kleine Weihnachtsgeschichte (schmunzel):
In der Mittelstufe hatte ich zwei Jahre Unterricht bei einem Lehrer, der bekannt war für seinen Sadismus gegen Schüler und unfaire Benotungen. Wenn er jemanden nicht mochte, sorgte er dafür, das derjenige nichts mehr zu lachen hatte und trotz aller Mühen sitzen blieb.
Einige Fälle sind bis zum Schulamt gegangen.
Nun ja, es begab sich in der besinnlichen Adventszeit, das meine Klasse eine Unterrichtsstunde bei diesem Menschenquäler hatte. Wie üblich saßen wir mit eingezogenen Köpfen, bloß nicht seine Aufmerksamkeit auf einen lenken!
Er lehnte vorne am Lehrerpult und redete. Hinter ihm auf dem Tisch standen zwei brennende Adventskerzen.
Bei uns machte sich eine gewisse Anspannung breit, er achtete nämlich nicht auf die Kerzen und fuchtelte mehrmals mit dem Ellenbogen über den Flammen herum! Keiner von uns sagte etwas, wir warteten ab, hofften, das ihm etwas passieren würde!
Dann stellte er sich leider anders hin, die Kerzen jetzt hinter ihm, Enttäuschung ging durch die Bankreihen. Wir hätten es ihm so gegönnt, das er verbrennt.
Er redete immer weiter, doch auf einmal wurde er unruhig, meinte, es würde so heiß. Dann ein entsetztes:"Ich glaube, ich brenne!" - Und tatsächlich, die Kerzen hatten seinen Pullover am Rücken in Brand gesteckt! Keiner von uns hat sich auch nur bewegt während er den brennenden Pulli über den Kopf zog, auf den Boden warf und die Flammen austrat.
Er hat sich dabei nichts getan, aber ich glaube, wir hätten ihm noch nicht einmal Hilfe gerufen, weil er so ein fieser Hund war.
Wir hatten aber eine kleine Adventsfreude durch dieses Erlebnis!
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Epines am 03 Dezember 2011, 04:34:52
Ach die Schulzeiten, leider habe ich teilweise grosse Erinnerungslücken und wie du @Nicki, hatten wir auch einige sadistische Lehrer, aber es gab auch wundervolle Pädagogen wie den Herrn Straumann, "Sträussel" wie wir ihn heimlich nannten.

Unser Klassenlehrer war damals  sehr krank und wurde durch einen total unfähigen Ersatzmann ersetzt,  frisch vom Seminar.
Wir, ca. 20 pubertierende und aufmüpfige 14 jährige Teenager, tanzten ihm sehr schnell auf der Nase herum. Er erlaubte uns einfach alles,  sogar während den Schulstunden Musik zu hören. Ich hatte eigens dafür meinen Plattenspieler von zu Hause mitbringen dürfen.
Als eines Tages der Lärm, - und Musikpegel  wieder so richtig heftig war, wurde plötzlich die Türe zum Klassenzimmer aufgerissen und der ältere Lehrer von der Klasse nebenan stürmte hinein und brüllte, dass sofort die Musik ausgemacht werden sollte. Unsere Aushilfe stand nur doof da und sagte kein Wort.

Der wutschnaubende, eher kleine und zierliche Mann zeigte auf mich, ich saß ganz vorne und sagte: "Du bringst sofort diesen Plattenspieler in mein Zimmer". Ich erwiderte aufmüpfig:" Nein ganz sicher nicht, unser Lehrer erlaubt uns die Musik". Worauf er entgegnete:" Ist mir egal, mein Unterricht wird dadurch gestört, los bewege dich". Ich frech wie ich war weigerte mich, da knallte er mir eine, worauf ich natürlich sofort gehorchte...

Kurz darauf wurde uns mitgeteilt, dass unser Lehrer  keine Schule mehr geben könne und wir darum einen neuen Klassen-Lehrer bekämen.
Und oh Schreck und Graus, es handelte sich um diesen Kindermisshandler, der mir eine geknallt hatte.
Er musste nur noch ein Jahr arbeiten bis zur Pensionierung und da hatte man ihn uns, der angeblich schwierigsten Klasse im Schulhaus zugeteilt. Boahhhh....schöne Aussichten, na dem würden wir die Tour vermasseln!
Wir fingen an fiese Pläne zu schmieden, um den richtig fertig zu machen.

Mit einem Fußtritt flog die Türe  am ersten Tag auf und der nasse Schwamm, den wir auf der Türkante oben platziert hatten,  fiel auf den Boden, ohne sein Ziel zu erreichen.

Freundlich lächelnd schritt er herein , stellte sich als Herr Straumann vor und bat mich als erstes nach vorne zu kommen. Er öffnete den Schrank, holte meinen Plattenspieler heraus und sagte, dass es ihm leid tue, dass er mir damals eine geknallt habe, es sei falsch gewesen und er habe überreagiert und er hoffe sehr, dass ich seine Entschuldigung annehmen würde.

Wir waren alle beeindruckt, dass ein Lehrer sich entschuldigt, aber noch mehr von der respektvollen Art und Weise wie er uns fortan behandelte. Wir konnten einfach nicht glauben, dass Lehrer so geduldig und immer freundlich sind, irgendwie trauten wir dem Frieden nicht und glaubt mir, wir versuchten jeden Trick um ihn zu ärgern, zogen alle Register, aber er freute sich sogar über unsere derbsten Scherze und war gespannt welche Überraschung wir ihm wohl als nächstes bereiten würden, wir lachten oft zusammen. Irgendwann gaben wir es einfach auf ihn zu ärgern.

Einmal schrieben wir nachmittags an die Tafel: "Uns stinkt es". Er kam herein, sah es, nahm sofort die Kreide und schrieb darunter:" Mir auch, gehen wir nach Hause". Wir durften damals wirklich gehen, einfach so!

Er  unterrichtete uns in Chemie und Geschichte und eines Tages sollten wir im Chemieunterricht Schnaps brennen. Eine wertvolle Erfahrung, an die ich mich heute noch gerne erinnere und nicht zuletzt verdanke ich Sträussel ein Wissen, was mir später sehr zu Gute kam.

Wir bauten also einen Destillierapparat auf und Sträussel brachte vergorene Kirschen mit, es sollte also Kirsch gebrannt werden. Es roch wunderbar und gespannt warteten wir auf die ersten Tropfen des klaren und durchsichtigen Alkohols, dem sogenannten Vorlauf,  den man aber nicht trinken dürfe, erklärte Sträussel, da er schädlich sei und früher viele Männer deswegen blind geworden sind.
Nach einiger Zeit tropfte dann unser eigener Hausbrand aus der Spirale und wir durften ihn auf Würfelzucker geträufelt kosten. Es ging lustig zu und her, nicht zuletzt auch, weil wir vermutlich alle einen heftigen Schwips hatten.
In der nächsten Chemiestunde sollten wir lernen, wie man aus 40° Schnaps, 80° macht und er bat uns die Eltern zu fragen, ob sie irgendeinen Schnaps hätten, der keine Verwendung mehr findet.

Ich fand  zufällig eine Flasche Wodka im Schrank meines Stiefvaters, ich glaube er hieß Moskowskaya, oder so ähnlich. Na ja egal, auf jeden Fall lernten wir, dass man Schnaps immer zweimal brennen muss, um eine gute Qualität zu erhalten und wenn er dann auf 80° ist, was ja keiner trinken kann, soll man ihn mit destilliertem Wasser wieder auf 45° herunter verdünnen.
Was wir dann irgendwie aus zeitlichen Gründen versäumten und so wanderte die Flasche Wodka, in der nun nur noch die Hälfte drin war, wieder in den Schrank meines Vaters und bescherte mir später einen Satz Ohrfeigen, denn als er einen kräftigen Schluck trank, spuckte er sofort aus und zwar auf den frisch geputzten Parkettboden, was meine Mutter überhaupt nicht lustig fand.

Leider unterrichtete uns Sträussel nur ein einziges Jahr und wir alle vollbrachten erstaunlicherweise in seinen Fächern Höchstleistungen, weil lernen plötzlich richtig viel Spaß machte. Im Geschichtsunterricht durften wir auf Blättern herum kritzeln und malen, während er uns von den alten Griechen von Zeus und Hera erzählte und dies gestaltete er so spannend, dass die Figuren beinahe lebendig wurden.
Ich denke gerne an dieses eine Jahr zurück, er war der beste Lehrer den ich je hatte.

10 Jahre später an einem Klassentreffen, sah er immer noch genau so aus wie früher und  hatte noch die selben schwarzen Haare. Da  stellte ich staunend fest, dass  noch kein einziges graues Haar sein Haupt ziere. Da lachte er schallend und sagte, dass sie gefärbt sind und zwar schon als er uns noch unterrichtete. Es amüsierte ihn königlich, dass wir es nie gemerkt haben und er sagte, dass dies sicherlich für uns damals ein gefundenes Fressen gewesen wäre. Klar.... denn welcher 60 Jahre alte Lehrer färbt sich schon die Haare schwarz, lach.

LG
Epines

Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Sintram am 03 Dezember 2011, 07:44:56
Guten Morgen, hobo

Deine kleinen Geschichten gefallen mir sehr gut, ich lese sie mit neugieriger Freude, finde mich auf der Schiefertafel wieder, alter Knochen der ich bin, und freu mich schon auf die kommenden. Auch die der andern finde ich interessant, amüsant, anregend und bin der Meinung, dass Du hier was richtig Gutes vom Zaun der Lebenserinnerungen gebrochen hast.

Seine Schulzeit in einem Rundumschlag in ein Posting packen, das kann nur der Desperado, der Sintram kann das nicht, weil viel zu viele Anekdoten einer langen Zeit ihn darin hemmen.
Geschichten, die erst vor gar nicht langer Zeit ein erneutes Mal wachgerufen wurden, als ich für ein paar Jahre in meinem Geburtsort weilte.

Die Lehrerin meines ersten Schuljahres war zugleich meine Nachbarin, die mich von kleinst auf kannte und sich in mich verschossen hatte, was mir einen gewissen Sonderbonus garantierte. Sie schob mir immer ein Stück Kuchen durch die Zaunmaschen, aber nur für ein Bussi, ein Küsschen auf ihre Wange, nun, was tut man nicht alles für ein Stück Kuchen.
Sie war eine dieser Jungfern, die zu einer Zeit Lehrerein geworden war, als die „Fräulein“ noch nicht heiraten durften, das blieb auch nach der Abschaffung noch eine Weile ungeschriebenes Gesetz, auf meiner Schule gab es mehrere davon.

Nach der ersten Klasse bestehend aus fünfzig Köpfen kam ich nach Hause und teilte meiner Mutter meinen gefassten Entschluss mit, jetzt alles fürs Leben Nötige zu beherrschen, weshalb ich nicht mehr zur Schule gehen werde (hab das schon mal irgendwo erzählt), aber sie wollte nicht auf mich hören.

Ab der zweiten sammelte ich dann mit ein paar gleichgesinnten Freunden eifrig die „Tatzen“, (mindestens) ein Schlag mit einem dünnen Rohrstock auf die ausgestreckte Handfläche, zog ganz schön und brannte eine gehörige Weile, gab auch Striemen ab und an, ein Spezl hat sogar mal anhaltend geblutet, musste nach Hause geschickt werden.
Am schlimmsten schlug die Musiklehrerin zu, die teilte auch heftige Ohrfeigen aus und Schläge auf den Hinterkopf, einmal legte sie einen Freund übers Knie und malträtierte ihn so lange mit dem Stock, bis dieser brach. Die war auch eine Jungfer, allerdings eine bösartige Frömmlerin, die fürchteten wir alle, wenn der „heilige Zorn“ sie überkam, wie sie selbst immer wieder betonte.

Der Kooperator, also der Hilfspfarrer, zog uns Buben immer an den Schläfenhaaren hoch, bis wir auf den Zehenspitzen standen, und ließ uns endlose Sekunden so stehen, das tat höllisch weh, auch noch lange hinterher.
Eckenstehen war sowieso an der Tagesordnung, das Knien auf einem kantigen Holzscheit war er vor kurzem aus den Klassräumen verbannt worden, sonst wären wir regelmäßig gekniet.

Im Pausenhof wurde so gut wie täglich gerauft, gehauen und gerungen, gekratzt und an den Haaren gezerrt, aber niemals(!) getreten, höchstens mal ans Schienbein, es dauerte jedenfalls nicht allzu lange, da war ich immer öfter darin verwickelt, keine Ahnung wieso.
Dann gab´s natürlich wieder Strafarbeiten, seitenlange Texte abschreiben, nachsitzen, auswendig lernen, Brieflein an die lieben Eltern.

Nun denn, soweit.
Erzähl weiter, ich mag Lebenserinnerungen, besonders aus dieser Zeit, weil ich meine eigene verlorene Kindheit darin wiederfinden kann, und lese Deine kleinen Geschichten gern und mit Freude.

Lieben Gruß
Sintram



Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 03 Dezember 2011, 08:46:34
Mit viel Freude habe ich gerade hier gelesen. Ich hoffe, dass es euch nicht so schwer fällt wie mir, diese alten kleinen Geschichten zu erinnern. Ich brauche wirklich recht lange dafür, um aus einem Gedanken, einer isolierten Erinnerung, eine ganze Geschichte zusammen zu kriegen.

Genau das, was ihr schreibt, das habe ich gemeint, als ich diesen Thread begonnen habe. Dinge, die einen schon sehr früh im Leben beeindruckt, beeinflusst und vielleicht sogar geprägt haben. So hat mich beispielsweise der Zaun in der belgischen Schule in der kleinen Geschichte von Nubis sehr beeindruckt. Sowas zeigt einem Kind sehr früh, dass nicht alle Menschen gleich sind, dass es überall Zäune gibt, vielleicht nicht immer so deutlich wie dort beschrieben, doch gleichwohl "Zäune", meist in den Köpfen der Menschen. Es sind eben diese "Bilder", die sich im Gedächtnis der Kinder einbrennen und dort bleiben, meist ein Leben lang.

Auch in meiner heutigen kleinen Geschichte geht es um "Zäune". Um einen unsichtbaren Maschendraht in der Mitte der Gesellschaft des Jahres 1960. Zuvor aber noch eines, mir fällt auf, dass beim Hinabsteigen in die Vergangenheit, in die hintersten Winkel meines Gedächtnisses, immer mehr Details an die Oberfläche kommen. Das macht es fast unmöglich stringent eine für sich isolierte kleine Geschichte zu erzählen. Weil an fast jedem Zipfelchen der Vergangenheit, mühsam ausgegraben, sofort eine neue, eine andere kleine Geschichte hängt und es schwer macht, nicht direkt auch darauf einzugehen und dann gleichzeitig mehrere kleine Geschichten zu erzählen. Deshalb mag es Gedankensprünge geben, die wohl nur ich verstehen kann und ich bitte mir diese nachzusehen.

Der Religionsunterricht (oder Kinder als Waffen)

Es war 1960 in der ersten Klasse der Volksschule, so hieß die damals. Lesen, Schreiben, Rechnen, Naturkunde, Heimatkunde, Singen und Leibesübungen standen damals auf dem Stundenplan. Und natürlich Religion. An das Meiste kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur der Religionsunterricht, der hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt.

Wenn Religion war, dann war erst mal viel los im Schulhaus. Aus allen Klassenzimmern pilgerten die Schüler zu ihrer Religionsstunde. Der Klassenverband war aufgelöst und die Trennung von Jungs und Mädchen war aufgelöst. Es gab eine neue Trennung. Damals ja nur in zwei Lager. Es gab die Katholen und die Evangelen. Da es meine Eltern für richtig gehalten hatten mich taufen zu lassen war ich bei den Katholen.

Ich kann mich noch gut an das unbehagliche Gefühl am Anfang erinnern. Wir hatten ja mit Mädchen sonst nichts zu tun und wollten mit denen auch nichts zu tun haben. 7-jährige Jungs haben damals Mädchen gemieden. Die konnten nicht Fussball spielen, nicht raufen, die konnten eigentlich nichts von dem was uns wichtig erschien. Die konnten noch nicht mal einen VW-Käfer von einem Gogomobil unterscheiden und sie wussten auch nicht, wer der Mittelstürmer der lokalen Fussballmannschaft war. Das machte sie in unseren Augen zu totalen Ignoranten.

Aber das war nur anfänglich ein Problem. Die Lehrerin in Religion, das war Fräulein Spiegel, unverheiratet und uralt, also aus unserer Sicht, die war das größere Problem. Dabei war das ewige Auswendiglernen von Kirchenliedern oder Bibelpassagen noch nicht mal das Schlimmste. Ihr Credo war, katholische Schüler sollen sich mit evangelischen Schülern nicht abgeben. Nicht mit ihnen spielen oder Freundschaften schließen. Weil die schlechtere Menschen und "Ungläubige" seien. Nur der rechte Glaube gefällt unserem Gott. Und die mit dem falschen Glauben gefallen unserem Gott nicht. Also dürfen sie uns auch nicht gefallen.

Gut, man kann kleinen Kindern viel erzählen und die neigen auch dazu vieles zu glauben, was man ihnen gebetsmühlenartig eintrichtert. Ich glaube, ich hatte am Anfang auch kein Problem damit. Das änderte sich allerdings recht schnell. Dazu sollte ich erklären, dass die Lehrer sehr gut über unsere Eltern unterrichtet waren. Das stand alles in einem Buch, dass sie immer bei sich hatten. Also der Beruf des Vaters, Mütter hatten ja keinen, die Straße in der man wohnte und auch, welcher Religion sie angehörten. Und so ergab sich schnell für das liebe Frollein Spiegel, dass ich ein Bastard war. Mutter katholisch, Vater evangelisch. Ein Skandal. Auch die Tatsache, dass ich immerhin katholisch getauft war konnte da nichts mehr retten. Ich war plötzlich ein Mensch zweiter Klasse.

Aus heutiger Sicht ist es nicht nachzuvollziehen, wie ich mich damals gefühlt habe. Hatte ja noch nicht mal was verbrochen oder Unsinn gemacht, was ich durchaus auch konnte. Nein, ich kam aus einer "unreinen" Familie. Alleine, dass ich mich noch so deutlich daran erinnere ist wohl ein Zeichen dafür, dass es mich damals schwer getroffen hatte. Zum Glück war ich nicht der einzige "Bastard". Es gab noch 3 andere Jungs und 4 Mädchen, die auch nicht des reinen Glaubens waren. Das führte unweigerlich zu einer Zusammenrottung der Parias. So gelang es uns ganz gut damit umzugehen und Religion war von da an unser meistgehasstes Fach. Es gab also nicht nur diesen "Zaun" zwischen Katholen und Evangelen, es gab sogar noch Zäune zwischen den halben Katholen, den Bastarden und den reinen Katholen.

Natürlich hatte das Auswirkungen. Wir wurden schlechter behandelt, teilweise geschnitten, mussten um vieles kämpfen. Für mich war dies die erste Erfahrung dieser Art in meinem Leben. Und es war keine gute Erfahrung.

Richtigen Ärger gab es aber erst, als ich das meiner Mutter zu Hause erzählte. Aber das ist eine andere Geschichte..., durchaus wert hier erzählt zu werden...

Ja, so war er, der Religionsunterricht im Jahre "des Herrn" 1960 in der deutschen Provinz...

lg
Hobo





  
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 03 Dezember 2011, 12:53:25
Als Erstklässler lebte man in einer fest umrissenen Welt. Da war die Familie, die Schule und Freunde. Aber im Zentrum stand natürlich die Familie. Früher sagte man "das Elternhaus". Das hatte durchaus eine wörtliche Bedeutung. Wenn das in der falschen Gegend stand oder der Vater Müllmann war, dann hatte man schon sehr früh sehr schlechte Karten. Auch wenn wir Kinder das damals gar nicht realisiert hatten, es hatte Auswirkungen auf uns. Aber diese kleine Geschichte, die handelt von meinem Elternhaus.

Familie

1960 hatte ich wie die meisten anderen Kinder natürlich auch eine Familie. Und wie in fast allen anderen Familien hat mein Vater gearbeitet und meine Mutter war Hausfrau. Ich hatte noch einen 3 Jahre älteren Bruder in der Familie, aber mit dem kam ich nicht so recht klar. Den habe ich schon mit 7 Jahren beim Ringen auf den Boden gedrückt. Ein Weichei eben. Aber in dieser kleinen Geschichte soll es um die Rolle der Eltern für einen Erstklässler gehen. Ich hatte riesiges Glück. Ich hatte tolle Eltern, wenn auch mit Problemen wenn der Kleinste mal wieder Mist gebaut hatte. Aber selbst dann hatte ich vollen Rückhalt, ich konnte mich blind auf meine Eltern verlassen. Meinen Vater habe ich nicht so oft gesehen, der war morgens schon weg und kam erst wieder zum gemeinsamen Abendessen und dann musste ich ja schon wieder schlafen. Aber in Krisen, wenns gebrannt hat, wenn alles zusammenbrach in meiner kleinen Welt, da war er da für mich. Und meine Mutter sowieso.

Auch, als ich ihr diese Sache mit dem Religionsunterricht erzählt habe. Naiv, wie eben Erstklässler sind, habe ich ihr wohl gesagt, dass mein Vater den falschen Glauben hat und Gott ihn deshalb nicht mag. Und mich auch nicht. Und dass Katholen niemals Evangelen heiraten dürfen. Weil das ja Verrat an unserem Katholengott sei. Selbst heute noch kann ich mich an ihre Reaktion erinnern. Mir sagte sie nur, ich solle nicht alles glauben was man mir erzählt und sie würde mit mir darüber noch reden.

Am Abend hat sie wohl mit meinem Vater darüber gesprochen. Ich weiß noch, dass ich große Angst hatte etwas falsches gesagt zu haben und rechnete mit großem Ärger. Ein Gesetz war ja, man darf seine Lehrer nicht anzweifeln. Sie, die Götter aller Erstklässler hatten kritikfrei zu bleiben. Und für Bestrafungen war mein Vater zuständig, meine Mutter hat sich da rausgehalten. Aber es ist nichts passiert, ich hatte umsonst Angst gehabt. Meine Eltern haben Kontakt mit den Eltern der anderen "Bastarde" aufgenommen und ein recht großes Rad fing sich an zu drehen...

Würden meine Eltern noch leben, heute würde ich sie fragen, was damals genau abgelaufen ist. Aber es lief natürlich alles über meinen Kopf und wohl auch über mein Verständnis der Welt hinweg. Heute weiß ich, dass sich die Tageszeitung, das bischöfliche Ordinariat und der Oberregierungsschulrat eingeschaltet hatten. Das wiederum hab ich mitgekriegt und wäre am Liebsten im Boden versunken. Es war ziemlich heftig für einen Erstklässler. Sie haben es mir nie verraten, wie und was genau sie gemacht hatten.

Noch während des laufenden Schuljahrs ging Frollein Spiegel in Rente und wir bekamen einen Pfarrer als Religionslehrer. Das Hetzen hörte auf, nach kurzer Zeit schon hat es keinen mehr geschert, ob sein Freund Kathole oder Evangele war. Und ich, ich war mächtig stolz auf meine Eltern. Auch wenn sie es mir nie genau erzählten, ich weiß genau, dass sie da richtig Feuer gemacht haben...  So wie immer, wenn ich im Mist steckte...

Ja, 1960 ein erstaunliches Jahr für mich, in vielerlei Beziehung...

lg
Hobo

Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 05 Dezember 2011, 10:50:04
Eigentlich wollte ich eine kleine Geschichte mit der Überschrift "Der kalte Krieg und die Kinder" erzählen. Das werde ich auch noch, aber da Weihnachten vor der Tür steht und gestern schon der 2. Advent war, stelle ich um und erzähle eine kleine Geschichte vom Weihnachtsabend.

Weihnachten 1960

Zunächst sollte ich wohl ganz allgemein erklären, dass in dieser Zeit nur die wenigsten Haushalte ein sorgenfreies Leben führen konnten, was die finanzielle Seite des Lebens angeht. Geld war permanent knapp in diesen frühen Jahren, das wurde erst eine ganze Weile später entspannter. Trotzdem hatte ich nie den Eindruck, auf etwas verzichten zu müssen. Aber dadurch waren eben auch unsere "Anspüche" an den Weihnachtsmann bei weitem nicht so hoch, wie man sie heute kennt. An Heiligabend 1960 kann ich mich noch sehr gut erninnern.

Mein Bruder hatte sich ein Fahrrad gewünscht, er war ja auch schon 10 Jahre alt und mir war natürlich klar, das 2 Fahrräder, also für mich auch noch eins viel zu teuer für den Weihnachtsmann waren. Ich wurde auch vorher schon vorsichtig hingeführt mit einem Fahrradwunsch noch zu warten, bis ich etwas größer wäre. Da ich ja einen Roller hatte und mein Bruder versprach mich auch mal fahren zu lassen, hab ich mir kein Fahrrad gewünscht, sondern etwas für unsere Schuco-Autorennbahn. Was das ist weiß natürlich heute keiner mehr, das waren kleine Autos aus echtem Blech, die an einen Spiraldraht entlang fuhren.

Und so kam er dann, der 24.12. und mein Bruder und ich saßen aufgeregt und nervös in der Küche und mussten warten. Meine Eltern haben immer erst an Heiligabend den Weihnachtsbaum aufgestellt und geschmückt. Das hieß, die Wartezeit war recht lang. Ich saß auf einem Dreibeinhocker und schaukelte in banger Erwartung still vor mich hin. Bis es laut knallte und eins von den drei Metallbeinen zusammenbrach und ich auf dem Boden aufschlug. Dummerweise bin ich natürlich nach hinten umgefallen und mit dem Hinterkopf an den Kohleherd geknallt. Ich hatte wohl auch damals schon einen dicken Kopf, aber die Schwarte hat es nicht ausgehalten und ist aufgeplatzt. Und schon lief das Blut wie ein Wasserfall.

Sofort brach die Hölle los. Alle kamen angerannt, es wurde ein Verband gemacht, das ging aber nicht richtig, weil er durchblutete, die Küche war total versaut, das Chaos und der Lautstärkepegel waren gigantisch. Da ja kaum jemand Telefon hatte zu dieser Zeit hatte wurde der Nachbar verständigt, der damals schon Autobesitzer war und ab gings ins Krankenhaus.

Gut, es gab eine neue Frisur,  eine Spritze, 8 Stiche, die Platzwunde wurde zugenäht und eine Gehirnerschütterung konstatiert. Dann zog die Karavane wieder  nach Hause und ich wurde ins Bett gelegt mit der klaren Ansage ruhig liegen zu bleiben. Oh ja, ich habe bittere Tränen vergossen, nicht wegen der Wunde, sowas hatte ich dauernd als Kind, nein wegen dem Weihnachtsmann, der Bescherung und meinem Weihnachtsgeschenk.

Doch kurze Zeit später ging die Tür auf, mein Vater trug einen keinen Tisch an mein Bett und stellte den Adventskranz dazu. Da war ein Weihnachtsteller mit den typischen feinen Sachen, die es nur an Weihnachte bei uns gab, also Feigen und Mandarinen und Datteln und ein paar kleine Weihnachtspäckchen. Und hinter meinem Vater tauchte der Weihnachtsmann auf und schob ein kleines Fahrad neben sich her. Heute weiß ich, dass es unser Nachbar war, aber damals habe ich fest daran geglaubt, dass er nur wegen mir zu uns kam.

Sie hatten mir tatsächlich ein Fahrrad geschenkt. Und ich habe keine Strafe bekommen für das ganze Theater, das ich wieder mal verursacht hatte. Den ganzen Abend saß dann die ganze Familie um mein Bett herum, half mir die Päckchen auszupacken und aus dem Wohnzimmer konnte ich die "Weihnachtslieder-Schellackplatte" hören.

Ja, so war das, mein schönstes Weihnachten...

Meine Eltern hatten damals auf vieles verzichtet, nur um unsere Kinderwünsche an Weihnachten möglich zu machen. Auch später, aber schöner als Weihnachten 1960 wurde es nie mehr...

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Epines am 05 Dezember 2011, 17:05:12
Religion und kindliche Sichtweisen

Als Kind sieht man viele Dinge ganz anders als sie wirklich sind und ich dachte und sinnierte immer schon intensiv über die Dinge des Lebens nach, die in meiner kleinen Welt passierten und vieles entsprang  auch meiner kindlichen Fantasie.

Der Umstand meiner Zeugung und Geburt war wohl mehr dem Zufall zuzuschreiben als einem Wunsch nach Familie, oder er war total einseitig nur auf der Seite meiner Mutter. Mein Vater hatte sie  damals nur auf Druck der Familie geheiratet und da meine Mutter immer berufstätig war und auch bleiben wollte, wussten sie nicht so recht was sie mit mir überhaupt anfangen sollten. Zuerst war die Kinderkrippe aktuell, bis dann meine Großeltern den Vorschlag machten, mich zu sich zu nehmen.

Also lebte ich bis zum Kindergarten bei  meiner schwarz katholischen Großmutter, abgesehen davon war es echt paradiesisch, nie ein böses Wort und ein wohlbehütetes Umfeld. Sie und meine Tanten kümmerten sich liebevoll um mich. Leider starb mein Großvater als ich 3 Jahre alt war. Wir wohnten auf einem Bauernhof und da gab es immer viel zu entdecken. Da waren Heuschober, Schweine, Kühe, Hunde und immens viele Katzen. Dem Hund hatten wir einige Kunststücke beigebracht und als er die gut konnte stellten wir Kisten im Kreis auf und luden alle zur Zirkusvorstellung ein. Leider blamierte uns Bella gänzlich, indem sie unkooperativ die Zusammenarbeit verweigerte.

Ich war immer draussen, egal bei welchem Wetter und dies barfuß bis zum ersten Frost, wo mich meine Großmutter zwingen musste Schuhe anzuziehen. Ich hasste den Tag als der Raureif auf den Blättern zum ersten Mal den Winter ankündigte.

Meist spielte ich den ganzen Tag mit den Mädchen in der Nachbarschaft, es gab keine Straßen und Autos die uns gefährlich werden konnten, wir waren wirklich grenzenlos ungezwungen und frei, spielten im Wald auf den Wiesen und in den Reben meiner Tante.

Es gab natürlich auch Jungs in der Nachbarschaft, aber mit denen verbot mir meine Großmutter zu spielen, als ich einmal fragte warum ich dies nicht dürfe, sagte sie:"Weil die reformiert sind!"
Mit Mädchen dufte ich spielen, weil diese ausnahmslos katholisch waren. Also schlussfolgerte ich lange Zeit, dass der Unterschied zwischen Mädchen und Jungs jener ist, dass Jungs reformiert und Mädchen katholisch sind.
Später als ich den wirklichen Unterschied erkannte, gesellte sich dann jedoch die Annahme dazu, dass im "Zeughaus" geheiratet wird, weil es etwas mit dem zeugen zu tun hat. Also musste man dort hin um Kinder zu zeugen, dachte ich. Als ich dann irgendwann lachend aufgeklärt wurde, dass man im Zeughaus nicht heiratet, sondern dass die Rekruten und Soldaten dort ihr "Zeug" für das Militär abholen müssen, kam ich mir ganz schön doof vor.

Bis ich 15 war verbrachte ich alle Schulferien bei meiner Großmutter und wenn ich so zurückdenke, dann lebte ich nur in diesen Ferien, nur da war ich glücklich. Doch je näher das Ende des Urlaubs rückte um so schwermütiger wurde ich und als ich dann jeweils zurück musste, hatte mich die Depression wieder fest im Griff. Im Grunde war ich mehrheitlich depressiv, nur interessierte keinen wirklich wie ich mich fühlte, es wurde über mich bestimmt, wie wenn ich ein Gegenstand wäre und kein fühlendes Wesen. 
Meiner Großmutter ging es ähnlich, sie lebte nur noch für mich und die Zeit in der ich da war, war für beide immer unvergesslich schön und schon damals wusste ich wie schwer die Trennung auch für sie war. Ich war 17 als sie starb.

Als ich dann zur Kirche musste, wurde mir  schnell klar, dass es auch katholische Jungs gab, meine Cousins zum Beispiel.
In der Kirche waren Frauen und Männer streng getrennt. Links die Frauen und Mädchen, rechts die Männer und Jungs.
Beim Hinausgehen stand der Pfarrer an der Türe und man musste ihm die Hand schütteln, er kannte jeden beim Namen und einmal getraute ich mich zu fragen, ob Gott denn im Altar sei, worauf er dies bejahte und ich dann wissen wollte, warum man ihn einschließen müsse und ob er sonst abhauen würde.
Dieser Gedanken hatten mich nämlich schon beschäftigt seit man mir erzählte, dass der Altar aus echtem Gold war und in ihm ein goldener Becher und ein goldener Teller für den lieben Gott bereit stand. Folglich musste er da drin sein und auch da essen. Ich hätte ihn zu gerne einmal gesehen. Also wollte ich unbedingt wissen, ob meine Annahme stimmte und warum er da drin blieb und wie er dann alles sehen konnte was ich so anstellte, wenn er doch eingeschlossen war.
Ich erhielt darauf keine Antwort, aber alle Erwachsenen die um uns standen lachten.
Später erzählte mir meine Großmutter vom heiligen Geist, der alles sehen konnte und immer über uns schwebte, was mich noch mehr verwirrte. Der Gedanke, dass er alles sehen konnte, war für mich sehr belastend, verursachte  oft ein schlechtes Gewissen  und Schamgefühle und war  später auch der Grund, warum ich meinen Glauben an einen allmächtigen , alles sehenden und wissenden Gott verloren habe, aber dies ist eine gänzlich andere Geschichte.

Im Dorf gab es zwei Kindergärten und zwei Schulhäuser eines für die katholischen Kinder und eines für die Reformierten und natürlich auch zwei Kirchen. Sogar zwei Schwimmbäder! Diese Trennung hatte mir lange suggeriert, dass reformierte Menschen schlechter als katholische sind. Und auch in Gesprächen zwischen Erwachsenen glaubte ich öfter gehört zu haben: "Na ja kein Wunder, er ist schließlich reformiert". Natürlich waren auch alle katholischen Ausländer gute Leute und die reformierten, oder Moslems schlecht...
Erstaunlich hingegen war, dass meine Großmutter mehrere Patenkinder in Afrika finanziell unterstützte, ich nahm folglich an, dass Afrikaner katholisch sein müssen. Die Fotos dieser lachenden schwarzen Kinder habe ich mir oft angesehen und sie schickten auch  Zeichnungen zum Dank für die Hilfe.

Was meine Großmutter von meiner Mutter hielt hat sie mir nie direkt gesagt, aber sie wollte keinen Kontakt mit ihr. Sie hat sie wohl abgelehnt, weil sie nicht katholisch war, allerdings war sie dennoch damals die treibende Kraft, dass mein Vater sie heiraten musste.

Es kam mir so vor als würde sie den ganzen Tag beten. Am Morgen als erstes ein Morgengebet, dann vor und nach jeder Mahlzeit ein Dankesgebet. Am Nachmittag eine lange Andacht und auch am Abend vor dem Schlafen gehen als letztes ein Gebet. Einmal in der Woche kam der Pfarrer zu Besuch und sie beichtete dann. Ich habe mich oft gefragt, was wohl eine so alte Frau noch für Sünden hat, dass sie einmal in der Woche beichten muss, darüber hatte ich die wildesten Fantasien, die aber alle nicht sein konnten, denn sie war meiner Meinung nach so brav und fromm.
Wenn es nachts einmal ein Gewitter gab, stand sie auf und zündete am "Altar", den sie im Schlafzimmer aufgebaut hatte, die Kerzen an, kniete sich davor nieder und betete ein spezielles Gebet, an dass ich mich nicht mehr genau erinnern kann, aber es handelte vom jüngsten Gericht und dem Herrn der auf den Wolken daher geritten kam. Sie hatte immer schon extreme Angst vor dem jüngsten Gericht und ich somit auch. Noch heute wache ich manchmal panikartig auf, wenn es nachts einmal richtig laut und heftig donnert, aber Angst vor Gewitter habe ich eigentlich nicht mehr.

Na ja sie war einfach ein Mensch, der mir sehr gut getan und mir die ersten Lebensjahre liebevoll beigestanden hat. Ich denke gerne an sie und an die unbeschwerte Zeit zurück und an den Halt den ich durch sie hatte.

LG
Epines

Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 06 Dezember 2011, 03:56:41
Es ist doch erstaunlich. Ob es nun der Maschendrahtzaun auf Nubis Schulhof in Belgien war, oder meine unsägliche Religionslehrerin oder Epines Erfahrung mit den Reformierten...

Unabhängig von den Familiengeschichten, die da natürlich immer dran hängen, für mich ist es eine kleine Bestätigung, dass es wohl doch nicht nur eine sehr persönliche Erfahrung war. Offensichtlich gab es sowas recht häufig. Alleine, dass in diesem kleinen Forum schon mal drei Menschen ähnliches (im weitesten Sinne) schreiben, das sagt viel aus.

Leider hatten wir früher natürlich keinen Einfluss auf unser Familienleben. Einige hatten großes Glück, so wie ich, andere genau das Gegenteil. Wobei dieses Lotteriespiel heute immer noch das gleiche ist. Und leider immer noch sehr große Schäden anrichtet. Hätten euch meine Eltern damals schon gekannt, sie hätten euch adoptiert und ihr wärt heute meine Schwestern. Und vieles wäre anders.

Aber die Realität geht ihren grausamen Weg, nimmt keine Rücksichten und kann jeden von uns niederschmettern. Aber ja, jederzeit. Selbst einen wohlbehüteten kleinen Prinzen, so wie ich es mal war. Ihr regt mich dazu an, weiter an kleine Geschichten zu denken und ich bin stark beeindruckt von euren Geschichten und eurer Offenheit.

lg
Hobo

Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: nubis am 06 Dezember 2011, 08:57:56
:-)


Zu den Belgiern muss man aber noch sagen: da ging es nicht um Religion.

Tatsächlich ist Belgien in dieser Hinsicht eins der tolerantesten Länder, die ich mir vorstellen kann (wenn nicht das Toleranteste) - ich kann mich nicht daran erinnern, dass es in Bezug auf den Glauben jemals Unstimmigkeiten gab - außer eben innerhalb unserer Familie^^ - was aber weniger mit dem Land als vielmehr an meinem recht dominanten Vater und der speziellen Familienkonstellation lag.

Nein, die Belgier sind zwar mehrheitlich katholisch, aber sie erkennen sogar Kulte an, zu denen zum Beispiel auch eine atheistische 'Freigeistige Weltanschauungsgemeinschaft' gehört, was nichts anderes heißt, als dass da jeder glaubt, was er will^^

Die Barriere zwischen Flamen und Wallonen beruht nicht (wie zB der Nordirlandkonflikt) auf einer unterschiedlichen Religion, sondern auf Sprach- und Standesunterschiede...


Nicht, dass das besser wäre - aber irgendwie ist es doch anders, weil (wie ich es sehe) schlicht 'sachliche' Probleme - da gibt es logische Argumente, die auch nachvollziehbar sind - während Religion ...nun ja: eben Glaubenssache ist^^


In unserer Familie gab es deshalb eine 'Sonderposition', weil mein Großvater eben Jude war und so kurz nach dem Krieg die Glaubensfrage bzw die daraus entstehenden Kriege oft thematisiert wurden.
Mein Vater nahm daher eine extrem Anti-Religiöse Haltung ein, in der er eben nicht nur für sich selber entschied, dass Religion 'nichts taugt', sondern es uns Kindern auch verbot.
Das war auch nichts, was man mit ihm diskutieren konnte: Religionsunterricht, ein Gang in die Kirche, waren tabu.

Ich habe trotzdem irgendwann angefangen (heimlich) zu beten und mich, als ich älter war, auch selbst über die verschiedenen Religionen informiert.
Heute bin ich zwar auch gegen die starren Doktrinen der Kirchen und Religionsgemeinschaften, aber doch ein tiefgläubiger Mensch.



...wenn ich das jetzt so schreibe, sehe ich natürlich, dass es nicht wirklich in diesen Thread zu passen scheint, weil es keine Geschichte meiner Kindheit ist ...oder zu sein scheint ...aber für mich ist es ein Stück Erinnerung... ich kann hier nur nicht so viel dazu schreiben, wie mir dazu einfällt :-)

Mein Vater starb vor 22 Jahren - und er hat nie erfahren, dass ich jeden Tag gebetet habe... - und ich fürchte mich heute noch in eine Messe zu gehen, weil ich das Gefühl habe, als nicht-getaufte kein Recht dazu zu haben...



Ich hatte eine schöne Kindheit und liebe Eltern ...aber es hat eben auch in der besten Familie jeder seine Macken - und in meiner bedeutete das eben, dass man besser heimlich unter der Bettdecke ein Gebet geflüstert hat, als sich erwischen zu lassen...



Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 06 Dezember 2011, 11:46:59
Ach Nubis, die Religion ist nicht der einzige Zaun in unseren Köpfen. Da wären noch Rassismus, Ideologien, der ewige Streit zwischen Bier- und Weintrinkern oder die unendliche Schlacht zwischen den Geschlechtern. Könnte man fortsetzen, muss aber nicht sein. Unsere Feindbilder sind leider nicht mehr so einfach zu defininieren wie in der guten alten Zeit. Da wars einfacher, da gabs halt Juden, Menschen mit dunkler Hautfarbe, Kommunisten, Arbeitslose und Langhaarige. Die Welt hatte eine definierte Ordnung und alles war klar überschaubar für die rechtschaffenen Menschen dieser Welt. So war das noch im Jahre des Herrn 1961.

Neben Familie und Schule gab es natürlich auch damals noch andere Probleme in der Welt. Für uns Kinder war das erst gar nicht so interessant, man hörte was und hats halt nicht verstanden. Man hat versucht es uns zu erklären, aber so richtig wichtig war es für keinen von uns. Raufen, im Schulhof spielen, Lehrer ärgern, das war unsere kleine Welt. Erst nach und nach mussten auch wir Kinder über den Rand unserer kleinen Welt hinaus schauen. Nicht, dass wir auch nur ansatzweise etwas verstanden hätten, aber wir hatten Gespür. Wir merkten und fühlten, dass da etwas war, viel zu abstrakt und weit weg, aber trotzdem mit einem großen Einfluss selbst auf uns Halblinge.

Es war die Angst vor der Bombe, die Angst vor dem 3. Weltkrieg, die sich zu dieser Zeit in der ganzen Gesellschaft breit machte, es war der kalte Krieg.

Cold War Kids...

Es kam irgendwie schleichend. Die Feueralarmübungen in der Schule wurden ausgeweitet. Es gab "Luftschutzübungen". Es wurden Filme gezeigt, tolle Aufnahmen in schwarz-weiß, ruckelig und mit Flimmern. Atombomben wurden da gezeigt. Wie der Atompilz in den Himmel stieg und auch Bilder von Hiroshima, die mit den schwarzen Schatten an den Wänden, von Menschen, die sich in Luft aufgelöst hatten. Und Panzer, die sich in Berlin gegenüberstanden, mit laufenden Motoren und die Kanonen aufeinander gerichtet. Und wie man schnell unter die Schulbank kriechen konnte und die Augen zu machte. Ja, ich habe das geübt 1961. Mindestens einmal jeden Monat. Wir kannten Bilder vom Krieg, selbst damals schon. Fast jede Familie hatte einen Fernseher und die Nachrichten, die ich nicht schauen durfte und sie deshalb natürlich angeschaut habe, die handelten alle meist vom Krieg. Und der Frage, die über allem Stand, "werden sie die Bombe werfen". Und langsam wurde es auch uns Knirpsen klar, dass da etwas schlimmes vor sich geht. Politik haben wir nicht verstanden. Wir wussten auch nicht was Demokratie oder Kommunismus ist. Auch nicht was "freie Welt" bedeutet oder das Gegenteil davon. Es war uns auch egal.

Irgendwann, wohl so kurz vor dem Mauerbau 1961 haben meine Eltern angefangen Vorräte anzulegen. In unserem Keller. Der war recht groß und da passte was rein. Auch die Matrazen, die mein Vater dort hinstellte. Alle zwei Wochen haben die Sirenen geheult, nur zur Übung, aber wir Kinder mussten dann in den Keller rennen. Anfangs war das lustig. Aber irgendwann kam die Angst. Auch zu uns Kindern. Was sollen denn Kinder machen, wenn sie sicher im Keller sitzen und die Welt über ihnen ausgelöscht wurde? Das waren Fragen, die uns beschäftigten. Das wir dann auch tot sein würden, das konnten wir uns altersbedingt natürlich nicht vorstellen. Die Erwachsenen führten mit leiser Stimme Erwachsenengespräche, wohl im Glauben wir Kinder würden nichts mitkriegen. Aber wir haben alles gehört. "Werden sie die Bombe werfen?", "Werden sie die Bombe in unserer Region abwerfen?", solches oder ähnliches hörten wir fast täglich.

In der Schule haben sie "Blendschutz" an die Fenster installiert, als Schutz vor dem Atomblitz. War nur ein dunkles Rollo, aber auch das machte Angst. Wir begannen zu begreifen, dass es kein Spiel mehr war. Wir haben darüber natürlich auch geredet. Jeder hatte was zu sagen, was er von seinen Eltern gehört hatte, was in den Nachrichten war und dass man 2 Matrazen braucht, eine um darauf zu liegen und eine um sich darunter zu verstecken. Wir haben diskutiert, ob es möglich wäre sich auf dem Spielplatz schnell genug einzugraben. Ja, heute lache ich, damals war das sehr ernst gemeint und wir haben es tatsächlich ausprobiert. Vieles veränderte sich in dieser Zeit und wir Kids, wir verloren etwas. Unsere Unbeschwertheit, der Ernst des Lebens hatte begonnen...

Kinder machen aus allem ein Spiel, das ist ihr Privileg. Wir spielten Atomkrieg, dachten uns Verstecke aus und übten mit den Händen vor den Augen Schutz zu suchen. Ja, so war das 1961 aus der Sicht des 8-jährigen Volksschülers...

Aber es kam noch schlimmer, etwas später, als weit weg von uns in Kuba die Welt am Abgrund stand. Aber das ist eine andere Geschichte...

lg
Hobo, mitten drin in Erinnerungen...
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Sintram am 08 Dezember 2011, 10:54:41
Hi Hobo,

schön hast du das erzählt, genau so war das, das Damoklesschwert des Atomkriegs über unsern Köpfen, jeden Tag und jede Stunde.

Keine nachfolgende Generation wird sich mehr vorstellen können, was der Albtraum des kalten Krieges bedeutete und wie sehr seine stete Gegenwart Leben, Fühlen und Denken, Kindheit und Jugend beeinflusste (u.a. Kultur und Musik), das wird hoffentlich so bleiben und nie mehr wiederkommen.

Die Kubakrise, da hockten meine Eltern wie gelähmt vor der Schwarzweißschüssel, die Spannung knisterte förmlich und die Angst kroch aus allen Ecken, jetzt kommt der große Krieg, jetzt ist es soweit, murmelte meine Mutter in einer Art Schockzustand, Vater fluchte grässlich und verdammte Amis samt Iwans, ich erinnere mich genau, sehe die flimmernden Bilder der Flugzeugträger und Kriegsschiffe auf Abruf vor mir.

Bin schon gespannt auf Deine Eindrücke!

Herzlich
Sintram

Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 08 Dezember 2011, 11:45:18
Ja, 1963, die Kubakrise. Wir hatten uns ja schon als alte Hasen des kalten Kriegs gesehen  und eigentlich kehrte nach dem Mauerbau wieder eine trügerische Ruhe ein. Der Blendschutz blieb zwar, aber die Übungen fanden nicht mehr so oft statt. Wir dachten es wäre überstanden und nahmen unseren Schulalltag mit den üblichen Raufereien und Späßen wieder auf.

Aber schon zwei Jahre später bemerkten wir Knirpse wieder eine schleichende Veränderung. Was heutzutage schon seit langem verboten ist, das war früher Gang und Gäbe. Ich meine Tiefflüge von Kampfjets über Städte und mit Schallgeschwindigkeit. Das hat jedesmal unglaublich gescheppert, alle sind furchtbar erschrocken und die Fensterscheiben haben gewackelt.

Cold War Kids II

Im Laufe des Jahres 1963 nahmen diese Flüge drastisch zu. Irgendwann bekamen alle Schulen und Haushalte ein Merkblatt der Regierung, auf dem alles Stand, was im Kriegsfall zu tun sei. Wieder legte mein Vater große unverderbliche Nahrungsvorräte im Keller an. Und in der Schule wurde wieder Klassenweise geübt wegzulaufen. Auf dem Schulhof wurden farblich gekennzeichete Sammelstellen für jede Klasse aufgemalt. Es kamen Polizisten in die Klassen und auch Katastrophenschutzspezialisten und hielten uns Kindern Vorträge. Wir mochten das, es war besser als der normale Unterricht und meist auch recht spannend. So wie Cowboy und Indianer spielen. Sie versuchten uns tatsächlich zu erzählen, dass es Möglichkeiten gäbe, sich vor atomaren Mittelstreckenraketen zu verstecken. Heute hört sich das rührend naiv an. Damals wurde da ein großes Rad gedreht.

Und dann war es in den Nachrichten. Die Amerikaner hatten den Sowjets ein Ultimation gestellt. Wir erfuhren von einem Cousin, der gerade seinen Wehrdienst ableistete, dass es "echten" Natoalarm gab und alle Kampftruppen an die Grenze verlegt wurden. Mein Cousin irgendwo im bayrischen Wald, direkt am "eisernen Vorhang". Die Amis stellten ihre Mittelstreckenraketen entlang der Grenze auf und etliche Schüler kamen nicht mehr in die Schule. Die Klassen wurden zusehends kleiner. Auf meine Frage hin, sagten mir meine Eltern, das seien die Kinder von reichen Leuten, die ihre Kinder in die Schweiz und nach Südamerika gebracht hätten. Viele Reservisten mussten sich umgehend bei ihren Standorten melden, es war gruselig. Nicht nur für uns Kinder.

Auch meine Mutter hat bei den Abendnachrichten oft geweint und vom Krieg gemurmelt und auch mein Vater hat "diese Kriegstreiber" wie er sie nannte lauthals verflucht. Und wir, wir hatten einfach angst und warteten darauf, dass die Bombe auf uns fällt und sich alles in Luft auflöst.

Fast lustig wiederum waren die Bemühungen der Lehrer, uns zum Mitarbeiten in der Schule zu bewegen. Wer soll denn noch rechnen lernen, wenn sowieso alles ausgelöscht wird, durch einen einzigen Knopfdruck in Moskau oder Washington? Letztendlich ist es noch mal gut gegangen...

Noch heute glaube ich, dass diese Ereignisse und Erlebnisse einen entscheidenden Einfluss auf die gesellschaftlichen Bewegungen der 60er Jahre hatten. So wie der Vietnamkrieg. Und ich zweifle, ob es eine 68er Bewegung ohne diese Erfahrungen je gegeben hätte. Und es ist kein Zufall, das die Cold War Kids an der Spitze der Friedensbewegung standen...

Ja, es war prägend, für jeden, der es erleben musste...

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Nicki am 08 Dezember 2011, 13:08:56
@Hobo:
Wenn ich deine Erinnerungen an den kalten Krieg lese und wie es dich geprägt hat, denke ich an Tschernobyl. Das war mein Grundschultrauma.
Morgens wurden wir alle in die Aula gerufen und der Direktor erzählte etwas von einem Unfall. Er sagte, das wir bei Regen nicht mehr raus gehen dürfen, nicht mehr über nasse Wiesen laufen und vor allem nicht in Sandkästen spielen.
Letzteres hatte ich mittags schon wieder vergessen. Es viel mir ein, während ich im Sandkasten saß. Ich bekam Panik, rannte nach hause. Dort traute ich mich aber nicht, davon zu erzählen. Ich war mir sicher, das ich sterben müßte und dachte, meine Eltern würden wütend werden, wewil ich dumm gewesen bin.
Das Jahr 1986 hat mein Verhältnis zu Radioaktivität ( egal ob AKW oder Bombe) nachhaltig geprägt. Nur wegen diesem Themenbereich habe ich in der Schule Physik als Leistungskurs belegt und mich auch privat darüber informiert.
Ich würde bis heute gerne an den zerstörten Reaktor in die Ukraine reisen. Bilder davon lösen bei mir eine Mischung aus Horror und Faszination aus.
Als dieses Jahr das Unglück in Japan passierte begann etwas in mir zu schreien und wenn ich an die armen verstrahlten Menschen denke, die in den nächsten Jahren/Jahrzehnten siechend sterben werden könnte ich vor Mitleid und vor Wut über die japanische Atompolitik weinen.

Solarzellen für alle!

Nicki
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Epines am 08 Dezember 2011, 13:56:06
Hallo lieber Hobo und Mitlesende

@Nicki
Genau über das selbe Thema wollte ich hier eine Geschichte schreiben, auch ich dachte bei Hobos Erzählung vom kaltem Krieg sofort an Tschernobyl.

Bei uns war dies jedoch ganz anders. Meine Eltern, vor allem  meine Mutter war total hysterisch und befand sich in Weltuntergangstimmung, hatte also extreme Angst vor der atomaren Wolke, die sich unausweichlich  auf die Schweiz zu bewegte. Die Fensterläden wurden geschlossen, die Vorhänge zugezogen und das Radio lief die ganze Zeit und berichtete wo die Wolke nun sei.

Anders als du, durften wir nicht in die Schule und durften auch danach tagelang nicht mehr hinaus, wie lange weiss ich nicht mehr, aber es machte mir Angst.

Eine Gefahr die da war, die man nicht sehen, hören, oder riechen konnte und die uns alle umbringen würde schwebte über uns. Ich überlegte was ich machen würde wenn meine Mutter nun daran sterben müsse, ich spielte mit dem Gedanken, dass ich dann zu meiner Großmutter zurück könnte.

Im Garten riss  meine Mutter später den schönsten Salat und die Radieschen die ich gesät hatte aus und warf alles in den Müll. Alles ist verstrahlt, es gab nur noch Fleisch und Nudeln. Anstatt Milch mussten wir morgens Tee trinken und an Ostern wurden alle Osterhasen, die wir bekommen hatten sofort in den Müll geworfen, zu viel Cäsium in der Schokolade befand meine Ma.

Alles hatte plötzlich dieses Becquerel von dem wir nicht wussten was es genau war, aber es war sehr gefährlich und alle Leute die davon zu viel hatten mussten an Krebs sterben. Für meine Mutter war klar, dass sie dazu gehören würde (sie lebt immer noch) und sie weinte deshalb viel.

Die Ostschweiz war heftig betroffen und man machte deshalb aus der Milch Milchpulver für die Armen in der dritten Welt...

Im Herbst danach war der Wald voller Pilze, aber wir durften sie nicht nehmen, weil sie immer noch zu viel von diesem Becquerel und Cäsium hatten. Auch die Jahre danach war im Wild und in den Pilzen ein erhöhter Cäsiumwert messbar. Und auch mit den Forellen die mein Vater immer gefangen hatte war ab Sofort Schluss.

Mein Umweltbewusstsein  entstand früh vermutlich aus diesem Unglück damals und ich engagierte mich jahrelang in der Anti-atombewegung und darum ist auch auf meinem Dach seit 1998 eine Solaranlage.

Noch eine Nebenbemerkung; ich wundere mich darüber, dass genau wie alle Jahre zuvor die Weihnachtsbeleuchtung an den Fenstern und Häuser blinkt, obwohl man doch weiss, dass am Ende der Steckdose ein Atomkraftwerk steht...

LG
Epines
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 08 Dezember 2011, 19:02:13
Da kann man sehen, dass solche Erfahrungen immer etwas mit dem Lebensalter zu tun haben. Als das AKW in Tschernobyl im April 1986 in die Luft flog, da war ich zarte 32 Jahre alt. An dem Abend saß ich in einer Kneipe, die den treffenden Namen "Einstein" trug. Eine Studentenkneipe mit gutem Essen und gutem Bier und guten Bekannten und Gesprächen. Als es durch neue Gäste klar wurde, was passiert war, sagte mein Kumpel, was wollt ihr, haben wir doch noch Glück gehabt. Passieren musste es ohnehin, besser in Sibirien als vor unserer Haustür. Ok, ein Mathematiker eben. Der andere am Tisch, ein früher IT-Nerd, der meinte nur trocken, bis das hier ist und die ersten Krebskrankheiten daraus entstehen, haben wir noch genug Zeit ein frisches Bier zu bestellen.

Also ganz allgemein haben wir es nicht sehr ernst genommen. Natürlich war klar, das Cäsium und jede Menge Becquerel auch uns treffen würden. Aber andererseits war auch klar, dass die Menge nicht ausreichen würde, jemanden direkt zu gefährden. Gut, keine Pilze mehr, schon gar nicht aus Polen und halt hoffen, dass es bei Ostwind nicht regnet. Aus heutiger Sicht würde ich sage, es war viel Panikmache im Spiel damals. Realistisch betrachtet waren die Gefahren aber für uns hier nicht sehr gravierend. Wobei es regionale Unterschiede gab. Bayern und die Ostschweiz waren aufgrund der vorherrschenden Winde viel stärker betroffen als andere Teile Westeuropas. Da wir sowieso alle Atomgegner waren, viele Cold War Kids waren das, haben wir natürlich ohnehin jede Petition gegen Atomkraft, jede Initiative dagegen aktiv unterstützt.

Ich sag mal so, meiner Erinnerung nach war der "Vorfall" ein Jahr später so gut wie vergessen. Die meisten wissen ohnehin nicht was Halbwertzeiten bedeuten und noch mehr Menschen war es schlicht egal. Und für uns Deutsche sowieso ein blöder Zeitpunkt, im Osten hatten sich die Menschen angefangen zu emanzipieren, das war viel spannender als ein paar Hundert Becquerel.

Ja, so sind Menschen halt, aus den Augen aus dem Sinn...

lg
Hobo

Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 10 Dezember 2011, 22:48:17
Viele wichtige Dinge sind einfach nicht mehr da. Ich kann sie nicht mehr in meinem Gedächtnis finden. Andere Dinge, die sind noch zu sehen, ich brauche nur die Augen zu schließen und sehe sie klar und deutlich. Wenn ich mich recht erinnere, dann war das 1961, aber da bin ich nicht ganz sicher. Was passiert ist, das weiß ich jedoch noch sehr genau.

Tod

Damals gab es noch keine Schülerlotsen. Obwohl jeder Schüler, der aus dem Schulgebäude kam über die Straße gehen musste. Gut, es gab einen Zebrastreifen. Und alle sind da auch meist in Gruppen drüber gelaufen und das war deutlich zu sehen. Und es ging immer gut. Bis es schief ging.

Es war Schulschluss. Sonst war ich immer einer der ersten und schnellsten, die raus waren aus dem Bau und mit Höchstgeschwindigkeit erst mal zu unserem Spielplatztreff gerannt bin. An diesem Tag hatte ich was vergessen. Ich war fast schon runter vom Schulhof und dann hab ichs gemerkt. Bin dann schnell zurück gerannt, hab mein was auch immer, das weiß ich nicht mehr, geholt und dann mit Volldampf Richtung Ausgang, der ja direkt auf den Zebrastreifen führte. Vielleich 25 Meter vor mir ging ein Mädchen aus unserem Jahrgang. Ich war gerade am Eisengitter und sie war mitten auf der Straße. Auch ich habe das Auto nicht kommen sehen. Es hat sie voll erwischt, ungebremst und recht schnell. Das Mädchen ist weit geflogen und im Straßengraben liegen geblieben. Ich bin hingerannt und wollte ihr helfen. Sie hatte Nasenbluten und hat mich nicht gehört. Ich hab versucht sie aufzurichten, aber gleich kamen Erwachsene und haben mich weggezogen. Ich saß dann auf den Treppen unsere Schule. Es kam ein Krankenwagen, die Polizei und dann ein Leichenwagen. Es war die Tochter der Schneiderin meiner Mutter, ich kannte sie sehr gut. Ein sehr blasses liebes Mädchen immer ganz toll angezogen. Klar, mit ner Schneiderin als Mutter. Sie war sofort tot.

Die Polizei hat mich gefragt und ich hab denen genau das gesagt, das Auto hat sie mitten auf dem Zebrastreifen umgefahren. Was daraus wurde weiß ich nicht mehr. Was ich noch sehr gut weiß, das war die erste Beerdigung meines Lebens. Ihre Mutter war Witwe und sie war ihr einziges Kind. Ich saß recht weit hinten und hab mich sehr unwohl gefühlt, weil die meisten Erwachsenen laut geweint haben. Klar haben wir Kinder dann auch geweint. Sie wurde nur 9 Jahre alt. Am Grab war es schlimm. Aber es ist immer schlimm am Grab. Ich durfte gar nicht hin. Habs nur aus der zweiten Reihe gesehen.

Als wir dann zu Hause waren haben meine Eltern mit mir darüber gesprochen. Aber ich war wohl auch schon mit 9 Jahren soweit, zu wissen was der Tod bedeutet. In ganz schlechten Nächten, da sehe ich sie heute noch durch die Luft fliegen in ihrem weißen Kleidchen. Und ihr blasses Gesicht, mit ein wenig Nasenbluten...

Wieso bleiben solche Erinnerungen für immer und andere, bessere, die gehen für immer verloren. Sie war der erste tote Mensch den ich gesehen habe. Leider nicht der Letzte...

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Epines am 11 Dezember 2011, 04:10:45
Hallo lieber Hobo

Eine traurige Geschichte! Ein vermutlich sehr  prägendes und verletzendes Ereignis für ein Kind.

Ich hatte in der ersten Klasse einen Schulkameraden  den ich jeden Tag von zu Hause abholte, damit wir die Zeit bis zur Schule gemeinsam schwatzend verbringen konnten. Er hieß René und war wohl wirklich mein erster und bester  Freund, wir verstanden uns super gut.
Eines Tages als ich bei ihm klingelte, öffnete seine Mutter weinend die Türe und erzählte mir, dass René von einem Lastwagen überfahren worden und gestorben sei. Ich war da ca. 7 Jahre alt und es war einfach unfassbar, dass ich ihn nie mehr wieder sehen würde, er verschwand einfach aus meinem Leben und es ging weiter, wie wenn er nie existiert hätte. Er war einfach weg...

Später mit ca. 8 Jahren starb eine Hausangestellte die ich nicht besonders gut gekannt hatte, aber wir Kinder wurden gezwungen sie ein letztes mal im Sarg liegend anzusehen. Ihr die letzte Ehre zu erweisen, was immer dies auch hieß, ich verstand es damals nicht.
Es hatte für mich allerdings verheerende Folgen. Ich hatte wochenlang danach Panik, sah sie immerzu in dunklen Ecken des Hauses stehen und hatte grosse Angst, dass sie mich packen würde.

Mit ca.10 starb dann auch noch eine meiner Lehrerinnen an Nierenversagen und da musste die ganze Klasse an ihr vorbei gehen und da kollabierte ich zum allerersten mal. Ich brach mitten in der Kirche zusammen und es war megapeinlich als ich wieder zu mir kam und alle um mich standen und mich anstarrten.
Lange Zeit danach sah ich immerzu dieses Bild der Leblosigkeit wenn ich an sie dachte.

Von da an beschloss ich nie mehr jemanden anzusehen nachdem er verstorben war. Ich wollte die Erinnerungen an diese Menschen bewahren, wie es war als sie noch lebten. Nur noch ihr Lachen, ihre Lebendigkeit und ihre Fröhlichkeit abspeichern, und nicht die traurige Blässe am Ende ihres irdischen Daseins.

LG
Epines
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Nicki am 11 Dezember 2011, 08:57:10
Makaberer Weise kann der Tod für ein Kind auch etwas Positives bedeuten

Zweite Klasse:

Anfang des Schuljahres kam ein Junge, Michael, aus der Parallelklasse in meine Klasse. Er war mit seinen Mitschülern nicht zurecht gekommen.
Leider lag das wohl an Michael, er prügelte sich gerne und machte nie das, was die Lehrer sagten. Ich bekam irgendwie mit, das die Rede von Sonderschule war.
Für mich bedeutete Michael die Hölle! Er hat sofort gemerkt, das ich zu lieb war, um mich zu wehren. Also demonstrierte er an mir den anderen Jungs Würgegriffe oder ging auf dem Schulhof auf mich los. Ich war nirgends mehr sicher.
Unsere Klassenlehrerin erklärte uns in dieser Zeit mehrfach, das wir, falls wir auf der anderen Seite der großen Straße wohnten für den Schulweg über die Fußgängerbrücke gehen oder die Ampel benutzen sollten. Der Einzige, der drüben wohnte war Michael.
Eines morgens kam Michael nicht zur Schule.
Unsere Klassenlehrerin erklärte, er würde wohl länger nicht mehr kommen... Und dann sagte sie wieder, wie wir sicher über die Straße gelangen könnten.
Michael kam nie wieder!
Ich war damals nicht sicher, ob es einen Gott gibt, hielt Michaels "Verschwinden" jedoch für ein Zeichen, das für Gottes Existenz sprach!

Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 12 Dezember 2011, 21:57:42
Während meiner 4 Volksschuljahre passierte noch eine ganze Menge auf der Welt, in der Schule und der Familie. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr allzuviel davon. Aber ein paar Ereignisse dieser Zeit, die haben sich eingebrannt. Gerade bei uns Halblingen.

1963, das war nach der großen Angst vor der Bombe, da kam der Meister "unserer" Bombe nach Deutschland. Das durften wir gucken. Kennt jeder, es war die Rede in Berlin von J.F.K. mit dem Satz "Ich bin ein Berliner". Das war sehr beruhigend, weil alle immer gemunkelt haben, die Amis lassen uns fallen und ziehen ab. Und wir werden russisch. Ja, kein Witz, so wurde damals tatsächlich gedacht. Und wie ich heute weiß, gab es durchaus Bestrebungen in den USA, die genau das wollten.

Und klar, kurz später diese Fernsehbilder von J.F.K, zusammen gesunken im Auto. Tot. Erschossen.

Aber für uns war natürlich viel spannender was da in Lengede passierte. Es waren Bergleute verschüttet und in meiner Erinnerung gab es vorher noch nie soviele Bilder und Berichte im TV zu einem Ereignis. Jeden Tag gab es neue Nachrichten. Irgendwann hörten sie Klopfzeichen und haben ein neues Loch in die Erde gebohrt, um an die Eingeschlossen zu gelangen. Das weiß ich noch genau. Mehrmals haben sie abgebrochen, weil sie Angst hatten, der ganze Gang stürzt ein. Heute würde man sagen, die erste Realityshow im deutschen Fernsehen.

Ja, und dann der große Tag, sie haben sie raus geholt. Ich kann mich an die Stimmung erinnern. Es war irgendwie, als hätte Deutschland gegen Brasilien die Weltmeisterschaft im Fußball gewonnen. Zumindest so ähnlich. Das war für mich Knirps eine erstaunlich Erfahrung. Alle freuten sich und selbst mein Vater, der alte Brummbär, hat sich lachend gefreut. Eine ganz seltene Sache.

Ja, da hab ich die Fernsehbilder noch deutlich vor Augen. Und in England veröffentlichte eine Musikcombo eine Schallplatte. Die hießen "The Beatles". Das kam in diesem Jahr noch nicht wirklich bei mir an. Aber kurze Zeit später um so mehr. Mit starken Folgen. Aber das ist eine andere Geschichte...

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Sintram am 14 Dezember 2011, 10:03:38
...aber was für eine! We can work it out.

Lengede war schon damals Legende, auch ich erinnere mich sehr gut an die dramatischen Fernsehbilder ihrer Rettung.
Manchmal frage ich mich, was Kennedy wohl in Paris gesagt hätte.
Erinnerungen werden wach, viele Bilder, inzwischen oft durchgekaut, damals aber taufrisch und bewegend.

LG
Sintram
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Epines am 14 Dezember 2011, 12:37:21
Hallo liebe Leute

Als Kind war ich wohl ziemlich schmuddelig, ich hasste es zu duschen, Haare waschen überhaupt und zum Frisör zu gehen war immer ein Drama, also schnitt meine Großmutter mir die Haare selber ab.
Dazu wurde mir eine Schüssel auf den Kopf gesetzt und die Haare die unten noch raus standen einfach gerade abgeschnitten.

Sie sagte dann, dass ich nun eine Pilzkopffrisur hätte und wie ein echter Beatle aussehen würde. Da ich nicht wusste was die Beatles sind, wurde mir erklärt, das dies eine Musikgruppe aus England war, die absolut scheußliche Musik machte und dass sie genau den gleichen Haarschnitt gehabt hätten wie ich nun :-).

LG
Epines

Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 14 Dezember 2011, 15:52:32
Musik

Es war wohl 1964 als diese neue Welle auch bei mir ankam. Wahrscheinlich so früh, weil mein großer Bruder 3 Jahre Vorsprung hatte und sich fast nur noch um Musik kümmerte. Irgendwann in diesem Jahr habe ich meine erste Schallplatte gekauft. Es waren "The Beatles", Vorderseite "Day Tripper", Rückseite "We can work it out". Noch heute wird wohl gestritten, welche die "bessere" Seite war.

Für meine Eltern begann eine schwere Zeit. Selbst im Radio begannen die ersten Sender "unsere" Musik zu spielen. Und in der "Bravo" gab es immer die Übersetzungen der neuesten Lieder. Englisch konnten wir ja noch nicht. Und natürlich Bilder der Bands. Im Fernsehen konnte man die ja noch nicht sehen zu der Zeit. Man musste natürlich die Namen der Bandmitglieder kennen, sonst war man sowas von out und natürlich die wöchentlich Neuausgabe der Hitparade. Und zwar alle Platzierungen. Damals die Englische.

Eine Innovative Zeit war das auch. Es wurde zum Beispiel die Luftgitarre erfunden. Oder Lieder mit englisch klingenden Wörtern singen, die natürlich nichts mit dem Original zu tun hatten. Das kam erst später, als wir anfingen Englisch in der Schule zu lernen. Damals gab es ja noch humanistische Gymnasien, die als erste Fremdsprache Latein hatten. Ich weiß noch genau, dass da kein Schwein mehr hinwollte, weil man mit Latein ja schlecht die Beatles übersetzen konnte.

Ich hatte Glück, kam an ein Naturwissenschaftlich-Mathematisches Gymnasium mit Englisch als erster Fremdsprache. Ich glaube ich habe für kein anderes Fach so eifrig gelernt. Und alles nur wegen der englischen Texte "unserer" Musik. Wirschaftlich ging es uns damals etwas besser, ja, das Wirtschaftwunder kam auch in unserer Familie an und es wurde ein Klavier angeschafft. Mit dazugehörigen Unterrichtsstunden, die ja nun auch nicht gerade billig waren. Ich habe alle Sonatinen und Sonaten über mich ergehen lassen, nur um dann nach der Klavierstunde Beatles nachspielen zu können. Und natürlich die Rolling Stones und dann immer mehr neue, die wie Pilze aus dem Boden schossen, es war eine Lawine.

Unser Musiklehrer hatte die Idee ein Konzert für die Unterstufe zu organisieren und bat um Anmeldungen junger, hoffnungsvoller Talente. Da wir Selbstzweifel in dem Alter noch nicht kannten haben wir uns gemeldet. 2 Gitarren, 1 Klavier und 1 Tambourine. Ich kann mich noch gut erinnern. Die ganze Unterstufe saß in der Aula und auf der Bühne gings los. Es gab klassische Violinkonzerte, ganz tolle klassische Klavierstücke, Flöten, Klarinetten und Trompeten. Und uns. Wir haben "House of the Rising Sun" von den Animals gespielt. Ohne Gesang, singen konnte keiner, die Melodie habe ich auf dem Klavier gespielt. Ich schwöre, es war die schlechteste Interpretation dieses schönen Stücks Musik, die je gespielt wurde. Aber der Saal tobte und wir waren Helden. Gut, sonst hat auch keiner was aus der Hitparade gespielt...

Der Musiklehrer war stinksauer und nie wieder wurde etwas dieser Art an dem ehrwürdigen Gymnasium gemacht. Die Gefahr einer musikalischen Revolution war einfach zu groß. Es war somit unser erster und letzter Auftritt. Zum Glück, die Gitarristen konnten nur drei Akkorde schrummen, ich war unglaublich schlecht am Klavier aber für dieses Stück brauchte man kein Virtuose zu sein.

Ja, die Musik zog sich von da an immer wie ein roter Faden durch mein Leben. Und wenn ich heute "House of the Rising Sun" höre, dann zieht sich immer noch ein breites Grinsen über mein Gesicht...

Keep on Rocking...

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 16 Dezember 2011, 22:10:15
Mitte der 60er Jahre fing der erste Protest an. Ich war noch zu klein, so 11 oder 12, aber meine Eltern glaubten die Zeichen der Zeit zu erkennen. Und meine Mutter hat irgendwo gelesen, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist stecken soll. Also gabs neben Klavierstunden auch die Mitgliedschaft im Turnverein und im Schwimmverein unserer Kleinstadt. Im Turnverein hab ich Tischtennis gespielt, zuerst. Dann haben sie gesehen, dass ich sehr schnell wachse und recht groß für mein Alter war. So kam ich in die Handballabteilung. Beides hat mir großen Spass gemacht. Und es ging ja auch beides, war ja nur einmal die Woche jeweils.

Im Schwimmverein hat es mir nicht so gefallen. Immer rauf und runter schwimmen. Aber meine Eltern sagten, jeder Mensch muss schwimmen können. Gut, gab ja immer diese Nachrichten, dass wer ertrunken ist. Klar, bin ich geschwommen. Und auch da kam mir mein Körper entgegen. Überlange Arme und Körpergröße. Also waren schon drei Abende die Woche verplant. Für mich war das recht früh schon selbstverständlich, ich hab damals keine Sekunde drüber nachgedacht.

Zusammen mit den Klavierstunden war ich eigentlich recht ausgebucht. Am Wochenende war ohnehin die Familienausfahrt mit dem neuen Auto angesagt. Ich weiß noch, wie stolz sie waren auf das erste Auto. Ok, wir Kinder wohl auch. War ja was besonderes damals. Meine Mutter hat großen Wert auf Kultur gelegt. Also schauten wir uns so ziemlich alles an, was man in 3 Stunden Autofahrt erreichen konnte. Burgen, Museen, Felsformationen und Badeseen. Ich glaube ich war der Einzige in der Schule, der alles im Umkreis kannte.

An einem dieser Badeseen ist es dann passiert. Da gab es keine Bademeister oder sowas. Damals wohl noch nicht. Ich bin die ganze Zeit auf einen überhängenden Baum geklettert und von dort oben ins Wasser gesprungen. Als ich gerade wieder fast oben war gab es Geschrei am Ufer. Ein Mädchen war untergegangen. Wir waren glaube ich 6 oder 7 Baumspringer und sind sofort dahin. Einer, der gut tauchen konnte hat sie erwischt und wir haben sie zusammen rausgezogen. Ich weiß noch, dass sie schwer war im Wasser. Aber zusammen ging es. Sie hatte Glück. Wir haben jeder eine große Portion Eis gekriegt und ich habe glaube ich an diesem Tag zum ersten Mal verstanden, dass meine Eltern vieles richtig gemacht hatten. Vorher war ich da nicht so sicher. Und klar, stolz war ich auch und wie...

Von da an habe ich das was meine Eltern sagten nicht mehr nur immer bekrittelt. Und das Schwimmen wurde zu meinem Lieblingssport...

Aber saukalt war der See trotzdem...

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 18 Dezember 2011, 19:11:33
Schon früh, ich glaube so ab 12 veränderte sich einiges. Nicht mehr jedes der Ereignisse kann ich genau einem Jahr zuordnen, in der Rückschau sind die Übergänge wohl auch fließend. So fließend, wie sich "unsere" Musik langsam aber sicher politisierte...

Cold War Kids III

So gut gemeint die Bemühungen meiner Eltern waren, mich mit Sport- und Klavierstunden von der großen Welt abzulenken, so sinnlos war es auch. Es muss 1966 gewesen sein, da hörte ich zum ersten Mal einen seltsamen Menschen, der ohne Band, nur mit einer Gitarre auf eine Bühne kam und mit einer unglaublich schlechten Stimme unglaubliche Texte sang. Stundenlang hab ich über seinen Texten mit meinen damals noch dünnen Englischkenntnissen gesessen und versucht zu verstehen was der da singt. Es war die Zeit, als die sogenannten Protestlieder auch bei uns bekannt wurden. Die erste LP, die ich mir je gekauft habe hieß "The Times they are a-changing". Der junge Mann hieß Bob Dylan.

Es gab ja noch kein Internet, im Fernsehen war der auch nie zu sehen, so hatten wir nur wieder die "Bravo" als Informationsquelle. Dort  las ich auch zum erstenmal von Pete Seeger und Woody Guthrie. Diese drei haben meinen Musikgeschmack bis heute stark geprägt. Aber nicht nur den. Wer Musik von ihnen hört, der erfährt natürlich auch viel über den Vietnamkrieg und auch über die Rassenunruhen in Amerika, besonders zwischen 1966 und 68. Was das Wort "Bürgerrechtsbewegung" bedeutet und wer Martin Luther King ist. Ich war, natürlich in der Spur meines großen Bruders sehr früh dran, aber im Rahmen meiner "kleinen" Möglichkeiten habe ich mich schon damals als Teil der Protestbewegung verstanden.

Nicht nur mir ging das so, es wurde eine erstaunlich große Bewegung. Es gab Demonstrationen und oft eskalierten diese. Es gab regelrechte Studentenaufstände weiltweit und teilweise schlossen sich Arbeiterbewegungen an und die Regierungen gerieten in Not. Bei einer Demonstration gegen den  Schah gab es den ersten Toten. Benno Ohnesorg. In Amerika wurde dann Martin Luther King ermordet.

Selbst im "Ostblock" kam diese Bewegung an, ich kann mich noch sehr gut an den Prager Frühling erinnern und auch an die Niederschlagung durch sowjetische Panzer. Wieder einmal rannte die Bundeswehr an die Grenzen. Alle hatten Angst, dass die Russen an der Grenze nicht halt machen und einfach weiter marschieren würden. Quasi alles in einem Aufwasch...

Wieder gab es Drohungen mit "der Bombe" und wieder wurden die Keller befüllt. Aber zum ersten Mal waren Menschen auf den Straßen und haben dagegen protestiert. Sowohl gegen die Russen, als auch gegen den Vietnamkrieg, eigentlich grundsätzlich gegen Krieg jeder Art. Die Friedensbewegung war geboren. Ich selbst war zum ersten Mal 1968 auf der Straße. Zwar erst 14 Jahre alt, aber trotzdem überzeugt und mit allen Erfahrungen eines Cold War Kids. Und das waren einige und tiefe.

Eine wüste Zeit war es. Aber zum ersten Mal ist den Regierenden wohl damals gezeigt worden, dass sich das "Wahlvieh" nicht mehr alles bieten lässt. Selbst im damals noch total verkrusteten Deutschland, mit seinen nazidurchdrungenen Eliten.

Und erstaunlicherweise waren es oft kleine Dinge, die die Veränderungen deutlich machten. Nicht zuletzt auch meine Haare, die 1968 locker bis an die Schulterblätter reichten. So wie bei allen anderen... Die Keimzellen waren die Familien, die verzweifelten Eltern, die ihre Brut nicht mehr autoritär im Griff halten konnten. Wurde die doch tatsächlich aufmüpfig...

Tatsächlich habe ich während des Schreibens dieser kleinen Geschichte einige Male Grinsen müssen. Bilder sind aufgestiegen und Gesichter haben Konturen angenommen, Gesichter, die ich längst vergessen hatte. Ganze Schulklassen, die ohne Ausnahme spontane Demonstrationen veranstalteten oder Sit-ins. Es war eine erstaunliche Zeit...

lg
Hobo, Cold War Kid

Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 19 Dezember 2011, 13:06:24
Nachtrag...

Wahrscheinlich hält der Link nur ein paar Tage, deshalb jetzt  reinhören.

Bob Dylan - It´s all over now, baby blue

http://youtu.be/aThPbHhvDIc

und

It´s alright ma (I´m only bleeding)

http://youtu.be/hMARixzu6O0

Nur das ihr Kiddies auch wisst, welche Musik ich gemeint habe...

lg
Hobo, it´s alright, I´m only bleeding...

ps

http://youtu.be/mmdPQp6Jcdk
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Sintram am 20 Dezember 2011, 11:35:01
Es kam über Nacht und aus dem Nichts, plötzlich war es da, lag in der Luft, war überall zu spüren und greifen, ergriff die Leute und riss sie mit sich fort, mit einem Mal schien alles möglich, die Vision war gewaltig, das Gefühl der Zusammengehörigkeit unbesiegbar, der Feind übermächtig, aber seine Tage gezählt.
Dieser geradezu kosmische, Länder und Kulturen übergreifende Aufbruch und Ausbruch im wahrsten Sinne des Wortes hat die Welt nachhaltig verändert, nicht allein unsere Gesellschaft wurde regelrecht umgekrempelt.

Wie nachfolgende Generationen damit umgegangen sind, steht wieder auf einem andern Blatt, aber diese Zeit erlebt zu haben, als Kind oder Jugendlicher, ist eine unschätzbar wertvolle Sache, eine Prägung wie ein Brandzeichen, die niemand je verstehen und begreifen wird können, der diese „Revolution“ nicht erlebt hat.
Dafür bin ich dankbar.

Tolle Erinnerungen, Hobo!


Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 23 Dezember 2011, 20:01:32
Oh ja, Sintram. Noch heute bin ich in meinem Denken und Verhalten noch sehr stark von dieser Zeit beeinflusst und das ist auch gut so. Sehr gut kann ich mich an das Jahr 1969 erinnern. Na ja, immerhin an einiges.

Ich war ja damals schon 15 Jahre alt und mit 1,90 m schon bei meiner heutigen Körpergröße angekommen. Auch der Stimmbruch lag hinter mir und ich ging locker für 18 durch. Einige Dinge hatten sich deutlich verändert. Unter anderem das Misstrauen gegenüber dem anderen Geschlecht. Das hatte sich aus irgendwelchen Gründen genau ins Gegenteil verkehrt. Nicht ganz zufällig saß ich in diesem Schuljahr neben einem Mädchen und habe auch nicht ganz zufällig immer mal ein Buch vergessen, was dazu führte, dass wir in einem Buch zusammen lesen mussten. Also etwas zusammen rücken und auch nicht ganz zufällig Kniekontakt haben mussten. Ja, es war die Zeit der roten Ohren, die sich immer in der Nähe meiner Schulnachbarin einstellten...

Aber es war auch die Zeit des Friedensmarsches nach Washington, 250.000 Menschen gegen den Vietnamkrieg. Was hätte ich gegeben dabei sein zu können. Noch mehr hätte ich gegeben, auf einer Wiese vor einer riesigen Tribüne zu stehen. Auf der Wiese in Woodstock. Damals gab es natürlich schon die tollen Radiosender und wir konnten zumindest mithören. Dann der Film später und die Schallplatte. Klar, hab ich gekauft und den Film hab ich bestimmt drei mal gesehen.

Und irgendwann 1969 saßen wir alle vor dem Fernseher und schauten zu, wie der erste Mensch seine Spuren auf dem Mond hinterließ. Und eine andere Sache, die kann ich auch noch erinnern. Jack Kerouac starb im Alter von nur 47 Jahren. Das war keine große Meldung damals. Aber ich kannte ihn. Ich hatte sein Buch "On the Road" gelesen, damals noch in der deutschen Übersetzung, es hieß bei uns "Unterwegs". Neben einem ganz speziellen Lebensgefühls ging es darin unter anderem um Hobos. Anscheinend hat es einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen...

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Sintram am 29 Dezember 2011, 11:25:12
Hi Hobo, ach da hast Du Deinen Namen her. :-)

Vor –was weiß ich, sagen wir mal-  fünfzehn Jahren hat mich mal ein Youngster auf Woodstock angesprochen, hab ihm spontan geantwortet, „ich war dabei“.
„Das hat noch keiner gesagt“, meinte er verblüfft, da versuchte ich ihm zu erklären, was für eine prägende und wegweisende Rolle das Festival gespielt hat damals, das weitaus mehr war als ein Open Air, nämlich das Manifest neuen Lebensgefühls geschaffener (Jugend)Kultur und last not least einer mächtigen Friedensbewegung.

Der Schlachtruf „Fuck“ -von Country Joe McDonald intoniert- etwa bringt mich heute noch immer wieder mal in Verlegenheit, wenn ich die deutsche Übersetzungen „bekackt“ anwende, um meinem Zorn Nachdruck zu verleihen, weil niemand mehr weiß, dass seinerzeit F-U-C-K nichts zotig Unanständiges, sondern etwas sehr brisant Politisches bedeutete. Ebenso Jimis "Star Spangled Banner".

Sicher ist so Einiges des damals „Entdeckten“ in eine falsche Richtung weitergelaufen, Jerry Rubins fantastischem Kultbuch "Do it!" zB. folgte ein übles Machwerk, es brauchte wohl Jahrzehnte, um das Gold auszusieben, das sich den ganzen nostalgisch geringschätzig oberflächlich kommerziellen „Aufarbeitungen“ zum Trotz als kostbarer Schatz herausstellt, den zu verteilen ich keine Scheu habe. Carry On, Love is comin´…

Peace & Happiness
Sintram

Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 31 Dezember 2011, 09:20:41
Oh ja, give me an F, give me a U, give me a C, give me a K. What´s that spelled? FUCK...

Und klar, es war der Ausdruck des Gefühls das wir hatten und was wir von "denen" da oben gehalten haben. Und auch klar, es hielt nicht lange. Es gab eine gewissen Liberalisierung, die Gesellschaft wurde offener. Aber ok, das war ja schon verdammt viel. Anders wäre es nie soweit gekommen. Der Muff unter den Talaren wurde heftigst verwirbelt, Sexualität wurde nicht mehr verheimlicht oder verheuchelt, freie Meinungen waren plötzlich Thema der großen Politik. Ja, es war ein Fortschritt. Spätere Generationen sind leider auf den Trick der Industrie hereingefallen, dass man Lebensgefühl mit Kleidung, Schminke oder anderen für uns damals unwichtigen Dingen ausdrücken könnte. Die Generation nach uns hat eine Innenschau gehalten. Nur sich selbst gesehen. Das "Ich" regierte deutlich über dem "Wir". Aber da war ich schon zu alt. Hatte keine Lust mehr mich einzumischen, schon müde.

Sie haben unsere Musik, handgemacht, mit richtigen Instrumenten, richtigem, echtem Gesang, vernichtet. Playbacks und Tonmischer machten aus totalen Nulpen Stars. Sie brauchten nur die "Looks". Na ja, wohl eher große Titten und gute Kosmetik. Und ja, ich habe es gehasst. Ich habe mich persönlich verraten gefühlt. Ich habe mir auf den Kopf schlagen lassen von einem Polizisten mit dem Schlagstock und musste mit auf die Wache. Es tut weh, dass die Nachgekommenen auf die Geld- und Scheinschiene abgefallen sind.

Trotz allem weiß ich, dass auch diese seltsamen Auswüchse der Freiheit sein "Ding" zu machen, niemals ohne die damalige Bewegung möglich gewesen wäre. Und nebenbei, ich bin Germanist und habe Theater- und Literaturwissenschaft lange studiert. Sag mir doch bitte jemand, was noch lesenswert ist nach 1973. Das war das Ende der 68er Literatur und Kultur. Was kam danach? Welcher Schriftsteller hat in den 2000er Jahren furore gemacht? Und womit? Hm, keiner so richtig...

Anything goes ist liberal und auch ok. Aber selbst Thomas Bernhard konnte da keinen Kontrapunkt setzen. Britney Spears und Paris Hilton haben gewonnen. Und wir? Wir haben es möglich gemacht. Wir haben den Weg in alle Richtungen geöffnet. Auch in diese...

Und es war richtig. Die Erde dreht sich weiter. Niemand mehr denkt an diese alte Zeiten, die ich oben beschrieben habe zurück. Die wenigsten kennen sie überhaupt und den meisten ist das scheißegal. Schlimmer ist ein Serverausfall oder ein kaputtes Smartphone. Wir werden sehen. Ich glaube an die Pendeltheorie. Es pendelt immer mal zur einen Seite und dann wieder zur anderen. Wir waren auf der Revolutzerseite und dann ist es auf die Konsumseite gependelt. Haargeel für Männerund Brustoperationen für Frauen. Schamhaarrasur und Wellness mit Gurkenpackungen. Ist ok. Ich wette, es pendelt zurück, erste Anzeichen sind zu erkennen.

Piraten tauchen aus dem Meer auf, an der Wallstreet zelten Menschen, die gegen den Finanzmarkt demonstrieren. Erste verhaltene Versuche gibt es bei uns und auch weltweit. 2012 wird insofern ein interessantes Jahr. Fällt der Euro, dann werden wir wieder die Straßen belebt von bunten Demonstranten sehen. Nur sind viele heute gewaltbereit. Was ich verurteile. Aber ja, auch ich werde dann noch einmal. ein letztes mal den alten Parka rauskramen und mitlaufen. Einmal 68er immer 68er.

Und all das nur wegen einem lauten "FUCK". Such is Life.

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Sintram am 05 Januar 2012, 10:39:57
Alles im Lot, Hobo?

Heiser geworden vom lauten Schreien? ;-)
Vier Tage Funkstille erscheinen mir lang, brauchst Du eine notwendige Ruhepause in der Unterblätterhaufenhöhle?
Wann geht´s hier weiter?

Ein etwas besorgter
Sintram
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 07 Januar 2012, 15:58:30
Und da war auch noch die andere Geschichte. Der kleine junge wurde immer größer. Mit 15 jahren war er ausgewachsen, ich darf das schreibe, weil ich von mir selbst rede. Er ist dann vom Schwimmen zu den Wasserballern gekommen. 2  Jahre harte Training und Spiele in der Jugendliga. Oh ja, noch heute gibt es Narben aus dieser Zeit. Wasserball ist ein schwieriger Sport. Die Spieler müssen sehr gute Schwimmer sein und gleichzeitig Virtuosen mit dem Ball, den man nur mit einer Hand berühren darf.

Das alles zusammen genommen, vielleicht noch starken Körperkontakt, führt in den frühen Jahren zu Zahnersatz und vielen Einsätzen von Nähern. Also Ärzten, die diese Cuts auf den Augenbrauen oder auch an anderen Stellen im Gesicht wieder zusammen genäht haben. Das war  meine Welt für ein lange Weile. Noch heute trägt mein Gesicht die Narben der alten Zeit.

Dann hat ein Genie bemerkt, dass ich der Längste war. Klar, das hieß Torwart. Ok, hab ich gemacht und klar, auch heute noch kann man nachmessen, dass meine Armlänge im Verhältnis zur Körpergröße extrem ist. Ja, wir wurden Jugendmeister. Dann sind wir hochgerückt und waren die jüngsten Meister der ersten  regionalen Liga.

Dann wurden wir Süddeutscher Meister und im gleichen Jahr, wohl 1971 Deutscher Meister. Wow, was ein Ding. 10 Jungs, alle aus der gleichen Stadt, alles Kumpels drehen so ein Ding. Jou, wir waren stolz. Aber mehr auch nicht. Wasserball war damals und ist heute immer noch eine Randsportart. Wir hatten das in unserer Freizeit gemacht. Immerhin 4 Mal die Woche. Jeweils 2 Stunden. Und ja, wir waren gut, jeder einzelne von uns und wir waren eine Mannschaft, in einem anderen Sinn, wie man heute Mannschaften im Fussball oder jeder anderen Sportart kennt. Es war alles anders, sehr anders. Es gab meinen Nachnahmen 3 Mal im Team, 2 Cousins und ich. 2 mal 2 Brüder, das waren schon mal 7 Spieler mir 3 Namen. Und das waren die besten 7. Verrückte Zeiten, wir haben alles zusammen gemacht. Wir sind nur als Mannschaft aufgetreten, egal wo. Und wenn etwas dumm gelaufen ist, auch mal abends, wo auch immer, wir mussten nur aufstehen, wir waren bekannt. Das war sehr lustig. Manchmal kam eine Wirtin zu uns und bat uns jemanden hinaus zu bitten. Wir haben dann Schnick, Schack, Schuck gespielt und nur 2 sind hin und haben das gewaltfrei geregelt.

Dann kam der Bundestrainer in unsere kleine Stadt. Wir hatten ein Probetraining und danach, ja, da wurde alles anders. Aber das ist eine andere kleine Geschichte.

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 08 Januar 2012, 14:54:46
Der damalige Bundestrainer der Wasserballjugend war ein Ungar. Mir war gar nicht klar, was der bei uns wollte und es war mir auch vollkommen egal. Er hat uns gejagt, immer wieder Spurts und Drehungen und Wendungen im Wasser, immer mit Volldampf. Dann Schusstraining. Ich sehe es noch deutlich vor mir. Erst von 8 Metern, dann von 6 Metern und dann sind sie mir fast ins Tor reingeschwommen, Schüsse aus 3 oder 4 Metern. Aber mir machte das nicht viel. In wirklichen Spielen in der Bundeslige, in der ich ja damals schon spielte war das nicht anders. Man hat halt versucht den verdammten Ball zu erwischen. Und ich hatte eben diese Voraussetzungen. Krakenarme und ein sehr gutes Auge.

Nach zwei Stunden musste ich dann hinschwimmen zu dem Trainer. Miklos Sarkan hieß der, den Namen werde ich nie vergessen. Er sagte ich solle die Arme nach oben strecken und dann so fest Wasser treten wie ich kann. Gut, hab ich gemacht. Dann hat er genickt und mich zum Duschen geschickt. Ich weiß noch, dass ich dachte, was ist denn das für ein komischer Vogel. Gut ich war gerade mal 15 oder 16 und für mich war Wasserball spielen halt mein Ding und es hat mir Spass gemacht.

Nach dem Training, ich kam gerade aus der Umkleide, da standen sie. Mein Trainer, der ja auch Spieler war in der Bundesliga, der Vereinspräsident, noch so ein paar Hanseln und der Bundestrainer. Ich hatte es eilig, mein Vater wollte mich abholen vom Schwimmbad. War ja auch schon 22 Uhr. Dann sagte mir dieser komische Ungar, ich wäre ab jetzt sein Torwart. Erst hab ich das falsch verstanden und wohl geantwortet, aber nein, ich bin der Torwart meines Vereins...

Alle haben natürlich gelacht. Und dann wurde auch mir klar, was er meinte. Ich war Nationaltorwart geworden. In gerade mal 120 Minuten. Von da an hat sich vieles in meinem Leben verändert. Aber das ist wieder eine neue kleine Geschichte...

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Epines am 08 Januar 2012, 18:07:22
Oh wow Hobo!
Da freue ich mich schon wie die Geschichte weiter geht :-)

LG
Epines
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 08 Januar 2012, 21:10:06
Lach, Epines. Eigentlich wollte ich morgen weiter schreiben, aber ich kann Deine Neugierde ja quasi fühlen. Also dann schon etwas früher.

Ich habe ernsthaft noch mal nachgeschaut. Der Besuch des Bundestrainers war 1969. Ich war noch nicht mal ganz 15 Jahre alt.  Aber das ist nicht wirklich wichtig. Wo war ich? Ach so, ja plötzlich war ich Nationalspieler. So richtig wichtig war mir das erstmal nicht. Ja, naiv war ich. Keine zwei Wochen später kam die Einladung. Trainingslehrgang im Bundesleistungszentrum. Das war Berlin. Ich war vorher noch nie geflogen, aber nach Berlin konnte ich nur per Flug von Frankfurt aus kommen. Mein Mentor, für Jugenspieler gab es sowas, der hat das mit meinen Eltern besprochen, hat mein Ticket gebucht und mich zum Flughafen gebracht. Und los gings...

Wenn ich heute daran zurück denke, dann muss ich sagen, ich war entweder zu dumm oder einfach vollkommen angstfrei. Ich hab mir nichts gedacht. Nicht der Flug, fliegen wurde für mich recht schnell zu einer Selbstverständlichkeit. Nein, ich kam aus einer Kleinstadt, war noch nie so richtig irgendwo. Außer halt bei unseren Ligaspielen. Und dann immer Stundenlang im VW-Bus mit der berauschenden Geschwindigkeit von 110 km pro Stunde. Na ja, so war das halt damals. Und es war toll, wir haben Karten gespielt. Mau mau oder Skat, je nachdem, wer mitspielen wollte. Jeder kann recht einfach ausrechnen, wie lange es mit so einem Komfortfahrzeug damals gedauert hat mal eben 600 km quer durch die Republick zu fahren. Ja, stimmt. Lange.

Und plötzlich wurde ich beschleunigt und zwar erheblich. Von Frankfurt durfte damals nur die PanAm nach Berlin fliegen. Beim ersten Mal war mir schon recht komisch. Angst hatte ich nicht. Ich glaube 15jährige Wasserballer hatten damals vor nichts und niemandem Angst. Neugierig war ich schon. Ich musste lernen, dass man eine Platznummer hat. Und dass jede Sitzreihe nach Buchstaben geglieder ist. Also Reihe 12, Sitz C. Oder so. Und ich lernte, dass diese Flieger recht schnell starten. Beim ersten Flug hatte ich Glück, das war schon ein Jet. Eine Superconstellation. Klar, kennt natürlich keine Sau mehr. Sind auch längst ausgemustert die Dinger. Sie waren laut, ruppig und eng.

Als wir oben waren, da kam dann die Stewardess und fragte mich, ob ich was trinken möchte. Etwas verunsichert hab ich frech gefragt, was sie denn anbieten könnte. Aber da hatte mein Nachbar schon einen Martini bestellt und ich habe blitzschnell gesagt, ja, für mich auch. Normalerweise hätte sich der Flugzeugboden öffnen und mich direkt ausspucken müssen. Ich durfte keinen Alkohol trinken, schon gar nicht sowas. Es war auch nur so ein kleines Fläschchen und ein Plastikbecher. Immerhin war Eis drinne. Dann gab es als Essen verkleidetet Pappe und direkt später waren wir im Landeanflug.

Damals war das noch alles ganz anders. Es war Tempelhof. Wir sind eingeflogen, gefühlte drei Meter an den Wohnzimmer der Menschen dort vorbei. Man konnte sie beim Abendessen sehen. Dann die Landung und von wegen Schleuse... Nix war, hinten ging die Tür auf und wir sind brav rausmarschiert, eine seltsame Treppe runter und dann Richtung Tempelhofgebäude. Dort ging es dann eine durchsichtige Metalltreppe hoch und dann stand ich im Weltflughafen Tempelhof. Für mich war das überwältigend. Aber heute, mit etwas Abstand und etwas mehr Realität muss ich schon eingestehen, dass die Halle nicht allzu groß war. Und trotzdem wurde sie so etwas wie mein Wohnzimmer. In 1969 bin ich da ca. 80 mal gewesen. Also 40 mal gelandet und 40 mal abgeflogen.

Recht schnell wurde das für mich zur Routine und ich habe mich wie ein echter Jetsetter gefühlt. Na ja, letztendlich war ich es ja auch.

Aber eins nach dem anderen. Es geht ja immer noch um meinen ersten Flug. Und dann das erste Training, ohne meine Mannschaft, mit Spielern aus allen Teilen der Republik, handverlesen und die Besten von allen.

Aber das ist schon wieder eine andere kleine Geschichte.

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 10 Januar 2012, 11:28:26
In der Rückschau ist es geradezu skurril. Nichts hat mich wirklich beunruhigt, nicht der Flug oder alleine am Flughafen zu stehen und keine Ahnung zu haben, wie man wohl zur Schöneberger Schwimmhalle kommt. Das war alles zu schaffen. Und dann kam ich dort an und den einzigen, den ich da kannte war dieser schrullige Ungar, der Bundestrainer.

Genau dann wurde ich doch nervös. Es sind diese Absurditäten, die einen im Nachhinein lächeln lassen. Der Flug, diese neue Welt, das war alles nicht so mein Ding. Das wurde zwar später anders, aber an diesem Tag nicht. Und ausgerechnet das, was ich im Schlaf beherrschte, nämlich Wasserball zu spielen, das bereitete mir plötzlich Sorgen. Aber auch das legte sich wieder. Sie brachten mich in ein angrenzendes Gebäude, das war ausgestattet wie ein Hotel. Und das war es auch, ein Sporthotel. Aber richtig locker wurde ich erst, als ich in den Besprechungsraum kam. Ich wußte ja nicht, wer da alles war. Und als Neuling kommt man sich da schon blöd vor.

Aber es war fast ein Familientreffen dann. Ich kannte sie alle, es waren Spieler der 10 besten Jugendmannschaften und wir hatten schon etliche Male gegeneinander gespielt. Die meisten hatten den Vorteil, dass sie zu zweit aus einem Team waren. Nur ich war der einzige meiner Mannschaft. Aber es fand sich noch einer, ein lustiger Typ aus Ludwigsburg und wir haben dann ein Zimmer bezogen.

Und dann die erste Trainingseinheit. Er hat uns 1.500 Meter auf Zeit schwimmen lassen. Das werde ich diesem kauzigen Ungarn nie vergessen. Ich wäre fast ertrunken. Aber natürlich ist man dann so ehrgeizig und lässt nicht abreißen. Immer dran bleiben. Dann alle raus aus dem Wasser und rauf auf das Ergometer. Sie haben die Sauerstoffsättigung gemessen. Das war das absolut Neueste in der Sportmedizin. Ich hatte sowas noch nicht gesehen. In meiner Kleinstadt gabs das alles nicht. Zwei mussten dann nach Hause fahren mit der Auflage sich zu Fachärzten zu begeben und auf Herzschwächen untersuchen zu lassen. Erstaunlich, dass es diese Kleinigkeiten sind, die man am Besten erinnern kann.

Aber auch das wurde mit der Zeit zur Routine und wir traffen uns dann fast jedes Wochenende in Berlin. Es wurde fast zur Gewohnheit. Natürlich haben immer alle Dinge zwei Seiten. So auch diese.

Aber das ist wieder eine andere kleine Geschichte...

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 11 Januar 2012, 22:00:23
Das ging eine ganze Weile so weiter. Mit 16 war ich dann schon in der Jugend- und Juniorennationalmannschaft. Mit 17 hatte ich meine ersten Einsätze in der Männermannschaft. Trainiert habe ich mit allen drei. Und natürlich mit meiner Bundesligamannschaft zu Hause. Das hat sich natürlich aufaddiert.

Die andere Seite, die ich gemeint habe ist natürlich die im Vergleich zu anderen Teenagern. Gut, ich hatte Schule und Sport. Sport extrem und bis zu 6 Stunden täglich. Andere haben Dinge gemacht, die eben "normale" Teenies so tun. Es viel mir erst gar nicht auf. Ich war es gewohnt in Budapest ein Jugendturnier zu spielen und von dort direkt nach Barcelona zu fliegen um bei den Junioren weiter zu machen. Oder irgendwo anders auf der Welt. Ich habe dabei wohl den Kontakt mit meinen Gleichaltrigen verloren. Und natürlich auch mit ihrer Art zu leben.

Heute weiß ich, dass dieses Alter eine nicht unwesentlich Sozialisierungsphase für junge Menschen ist. Und dass ich sie verpasst habe. Wenn auch dafür eine andere erlebt habe. Aber die wäre eher für ältere richtig gewesen. Ich hatte halt keine Zeit für Mädchen, tanzen zu gehen oder sich mal mit Kumpels zu treffen. War ja immer auf meinem Koffer gehockt und bin irgendwohin geflogen.

Ja, diese andere Seite hatte ich nicht erkannt. Wie auch in diesem Alter? Heute ist mir klar, dass mir da ein paar wichtige Jahre verloren gegangen sind. Andererseits war ich fast überall auf der Welt. Auf jedem Kontinent und in jedem Meer bin ich geschwommen. Selbst im Toten Meer.

Aber der Sport vergeht, die anderen Erinnerungen an seine Jugend wohl nicht. Da habe ich eine Lücke...

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Epines am 11 Januar 2012, 22:35:18
Eine interessante und spannende Geschichte. Seltsam, dass man erst im Alter darüber nachdenkt was man wohl alles verloren, oder eben nie gehabt hat, geht mir ähnlich.

LG
Epines
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Sintram am 12 Januar 2012, 10:27:06
Was mir besonders auffällt, Hobo, ist die Zuneigung und das Verständnis, die Du für Deinen jugendlichen Helden, also Dich, empfindest. Du kannst ihn offenbar gut leiden.
Das ist beneidenswert. Weit mehr als die große weite Welt und das tote Meer.
Außerdem, eine besondere und etwas andere Jugend muss noch lange keine verlorene sein, viele daheimgebliebene Jugendliche würden Dich darum beneiden.
Deine Erinnerungen jedenfalls klingen sehr versöhnt und aufgeräumt- und sind schön zu lesen.

LG
Sintram


 
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 12 Januar 2012, 12:27:18
Ja, Sintram. Für mich ist das ein zentraler Punkt im Leben. Wer sich selbst nicht mehr mag und sich selbst kein Verständnis entgegen bringen kann, der hat verloren. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Wer sich selbst nicht verzeihen kann, der hat ein großes Problem. Und zu verzeihen hat jeder irgendetwas. Weil der Mensch nicht perfekt ist und natürlich nicht fehlerfrei. Manche Fehler sind gewichtiger und extrem schwer zu verzeihen. Andere weniger gravierend und trotzdem belastend.

Deshalb schreibe ich hier über Vergangenes. Dinge, auf die ich keinen Einfluss mehr habe, die abgeschlossen sind und die ich hier für mich dokumentiere. Ich habe gemerkt, dass sehr vieles wieder aus den hinteren Winkeln des Gedächtisses auftaucht, wenn man darüber schreibt und es schwarz auf weiß vor sich sieht.

Und was ich eigentlich ausdrücken wollte ist, dass es immer problematisch ist, wenn man sehr einseitig etwas in exzessiven Ausmaßen in seinem Leben macht. Oder es zulässt. Meine Situation damals hat mich einiges verstehen lassen. Sehr großes Talent führt zu sehr viel Aufwand. Das Talent wird ausgebaut und der Mensch erreicht unglaubliche Fähigkeiten. Egal, ob im Sport, Kultur oder Naturwissenschaften.

Gleichzeitig wird diese Ausgeglichenheit, die so wichtig für Menschen ist, gekippt. Man ist fokussiert auf eine Sache und andere, gleichwohl sehr wichtige Dinge bleiben zurück. Werden verdrängt...

Aber das ist wohl der Preis den man zahlen muss für einen Höhenflug. Noch härter wird es jedoch, wenn der Höhenflug endet. Wie im Sport eben jede Karriere zu ende geht. Aber das ist eine andere kleine Geschichte.

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: nubis am 13 Januar 2012, 11:35:45
Ich sehe es wie @Sintram: klar war es etwas anderes als der Durchschnitt hatte, aber auch da: was ist schon 'normal'?

Wer weiß, wie man sich entwickelt hätte ohne Mannschaftssport, Zusammenhalt und Ambitionen... - andere hatten in dem Alter erste Mädels, Disco und Kumpels – ja - ...und mancher hing alleine zuhause rum und wusste nichts mit sich anzufangen und hatte all das auch nicht - und eben auch keine Mannschaftskameraden und keine Ziele…


Auch bei mir war dieses Alter eine Zeit des Wandels: ich war bis dahin Stubenhockerin und hatte nur eine Freundin …hätte man mich mit verbundenen Augen um den Häuserblock geführt, hätte ich den Weg nicht mehr nach Hause gefunden, weil ich außer zur Schule nie irgendwo war^^

Und dann durfte ich mir einen Hund holen… - musste eigenes Gespartes dafür hinlegen und es war immer klar: kümmere ich mich nicht – kommt er weg.
Und wer meinen Vater kannte, wusste, dass das keine leere Drohung war.

Ich hab mir einen Schäferhund ausgesucht – und bin mit ihm raus – hab die Gegend erkundet und andere Hundebesitzer getroffen …und bin an jemanden geraten, der in einem Hundesportverein war und unser Potenzial erkannt hat.
Der Verein war das Beste, was uns passieren konnte: mir, weil ich zum ersten Mal Teil einer Gemeinschaft wurde, Ergeiz entwickelte und ein ganz neues Selbstbewusstsein bekam – und dem Hund, weil er seine natürlichen Triebe sinnvoll einsetzen konnte und gefordert wurde.

Im Laufe der Zeit zeigte sich sein außerordentliches Fährtentalent …er war eine geborene Spürnase und wir haben spezielle Fährtenhundprüfungen absolviert – hatten uns für die Kreismeisterschaft qualifiziert …und dann wurde er krank…

Zu der Zeit war ich mit meinem späteren Mann schon zusammen – wir hatten uns im Verein kennen gelernt – und ich musste den Verlust nicht alleine tragen: aber die Entscheidungen, die meinen Hund betrafen, musste ich selber fällen …und auch das hat mich geprägt.

Klar – da war ich inzwischen 22 und kein Teenager mehr – aber es gehört dazu… - zu dem, was ich erlebt habe, was mich geformt hat…

Ok – ja – ich hatte ja meinen Freund dort kennen gelernt und war in einer Gruppe integriert …aber ich war damals die Jüngste dort - und bis heute war ich nicht in einer Disco –  nie auf irgendwelchen ‚Feten’ und hatte keinen Pulk an gleichaltrigen Freunden… - aber ich habe das auch nie vermisst.

Ich hatte 5-mal die Woche Hundeverein – wer braucht da schon was anderes? – wenn ich die Zeit zurück drehen könnte: ich würde es wieder genau so machen :-)
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 14 Januar 2012, 20:53:38
Ja, @Nubis, das mag stimmen. Niemand kann die Zeit zurück drehen. Und auch ich schreibe nur alte, sehr alte kleine Geschichten. Und ich habe mit viel Interesse und Freude Deine kleine Geschichte gelesen.

Gut, in meinem Sport, da gab es eben nur diesen und vollkommen verrückte Typen, die sich das angetan haben, die wirklich ihre komplette Zeit dort eingebracht haben. Andererseits waren wir "Brothers in Arms". Wir haben zusammen gehalten wie Pech und Schwefel. Und wir haben uns in Discos auch immer deplaziert gefühlt. Wir wurden im Rahmen der Sportlerbetreuung auch immer mal in Discos oder Zoos oder Theater oder Kinos geführt. Ja, sie sagten, sie hätten ja auch einen Bildungsauftrag. Das ist wohl deckungsgleich. Hat man uns ins Wasser geworfen, in unser Element, dann waren wir die Besten. An Land eher nicht wirklich.

Aber das meinte ich, es ist dann eine Fokussierung. Klar, geht auch gar nicht anders. Wenn man jede Minute in eine Sache investiert, dann bleibt eben für andere Dinge nichts mehr über. So stelle ich mir Dein Engagement für Deinen Hund auch vor. Na ja, nicht genauso, aber vielleicht ähnlich. Leider gab es bei uns keine Frauen. Sonst, wer weiß?

Und Hunde kann man ja sein ganzes Leben lang haben. Und trainieren. Wenn man aber zu alt wird oder durch die unausbleiblichen Verletzungen irgendwann seinen Sport nicht mehr betreiben kann, dann fällt man in ein ganz tiefes Loch. Hunde kann man immer, sein ganzes Leben lang haben.
Das ist schon ein Unterschied.

Ich hatte mit 27 einen Leistenbruch und beide Bänder im Knie irreparabel zerstört. Insgesamt habe ich meine Nase in diesen Jahren 8 mal gebrochen. Jeden Finger meiner Hände wohl 2 mal. Rippenbrüche und ein Trommelfell nicht mal zu erwähnen. Ist man noch aktiv dabei, dann denkt man nicht darüber nach. Aber was wäre gewesen, wenn Dich Deine Hunde so oft gebissen und dabei auch schwer verletzt hätten?

Schwer zu sagen, oder?

Aber das war ja alles später. In meiner kleinen Geschichte bin ich ja noch 16 und mit großem Eifer bei der Sache. Und eine kleine Geschichte, die werde ich noch aufschreiben. Die Geschichte der Hapoel-Spiele in Israel. Eine seltsame Erfahrung im Jahr 1970. Deutsche waren damals noch nicht wirklich sehr beliebt dort.

Aber das ist eine andere kleine Geschichte.

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 14 Januar 2012, 23:48:56
Es war die Jugendnationalmannschaft. Wir wurden nach Berlin gerufen, wie immer, und mussten für 2 Wochen aus allem raus. Ok, meine Schule war das schon gewohnt und damals hat man Sport noch unterstützt. Wir waren Jugendliche, das ist wichtig für das folgende.

Sie sagten uns, nur lockeres Trainung und am Montag ab nach Tel Aviv. Und von dort dann nach Haifa. Ich war zum ersten Mal in Israel. Und ich war vollkommen locker. So, wie Spanien, Schweden, Australien oder Neuseeland, halt ein neues Land. Mit 16 war ich nicht politisch interessiert und leider historisch auch ungebildet. Wir hatten gerade ein schweres Spiel gegen die Jugos hinter uns und hatten Pause. Das hieß für uns irgendwo im Schatten Wasser trinken und ausruhen. Da kam ein Mann und hat uns angeschrieen. Ich habe nicht verstanden was er sagte, es war wohl hebräisch. Aber die Botschaft war recht eindeutig. Er hat uns auch noch angespuckt bevor er tobend weg ging. Wir hätten es dabei belassen, aber schon kamen mehrere "Offizielle", deutsche und israelische und schon hatten wir einen Skandal. Wegen mir wäre das nicht nötig gewesen. Der Mann hatte bestimmt Verwandte im Holokaust in Deutschland verloren und hat dann eben deutsche Menschen nicht in seinem Israel sehen wollen. Ich hätte das sofort akzeptiert. Ob richtig oder falsch, scheiß drauf.

Aber sie haben ihn weggebracht. Hm, wir waren ziemlich bedröbbelt. Die "Offiziellen" haben erwogen uns aus den Spielen zu nehmen und zurück zu fliegen. Aber wir hatten viel Spass mit den Jungs der israelischen Mannschaft. Der Botschafter kam, das Außenministerium hatte sich eingeschaltet, was ich erst viel später erfahren habe und wir sind geblieben. Mein Eindruck war gut und ich kann das auch für die anderen Jungs von damals sagen. Wir wurden aufgenommen wie Freunde, nicht wie Nazis. Klar, wir waren ja auch zu jung.

Aber es gab in den 2 Wochen meines ersten Aufenthalts in Israel noch ein paar Ausfälle dieser Art. Sie sagten uns, es sind Überlebende aus den Todeslagern und sie hassen Deutsche. Ich kann das Gefühl, das ich damals hatte nicht beschreiben. Ich habe einen alten Mann, der uns nicht in Israel haben wollte in den Arm genommen. Er kam laut schreiend auf uns zu und ich habe ja nichts verstanden. Hab ihm gesagt, dass er das recht dazu hat aber wir halt viel zu jung seinen und halt nur dort geboren sind, auf deutsch und er hat jedes Wort verstanden. Er hat mich angeschaut und genickt. Dann ging er weg...

Ich werde ihn nie mehr in meinem Leben vergessen, er hatte das Tattoo von Dachau, links auf der Innenseite seines Unterarms. Und ich habe mich schuldig gefühlt, sehr schuldig.

Und ich habe mir geschworen, damals schon, dies niemals zu vergessen. Und ich werde es niemals vergessen. Und jeder, jeder der hier geboren ist und lebt, der sollte nach Jerusalem und auch an die Gedenkstätte für die Toten der Konzentrationslager.

Ich war später noch 3 mal in Israel und hatte jahrelang gute Kontakte. Und doch ist es anders als Canada, Schweden oder Südafrika. Man wird als deutscher Mensch hier geboren. In Israel ist das anders als in Timbuktu...

lg
Hobo, weia, tief in Erinnerungen und gerade diese...
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 20 Januar 2012, 01:37:38
Ich habe den Sport über sehr viele Jahre betrieben. Und es gab immer wieder sehr seltsame Situationen. Ich bin nicht mehr ganz sicher, ob es damals Kiew oder Belgrad war. Könnte auch Zagreb gewesen sein, habs vergessen. Wir sind als Juniorennationalmannschaft zu den Europameisterschaften geflogen. Eigentlich keine große Sache. Damals waren wir alle schon sehr vertraut mit den ganzen Dingen, die man da wissen sollte. Damals hieß das ganze allerdings noch Ostblock und man brauchte einen gültigen Reisepass. Das war noch der alte grüne.

Die Zeiten waren halt anders. Wir sind mit der offiziellen Kleidung, also wirklich graue Hose und Jacket mit einheitlichen Hemden und ok, manche mit, manche ohne Krawatte da gelandet. Und man muss wissen, dass so eine Delegation nicht nur aus den 14 Spielern besteht. Da gabs noch Trainer, Masseure, Offizielle, Delegationschefs, Verbandsvertreter und was weiß ich noch.

Auf jeden Fall sind wir dort gelandet und unser Tross schob sich Richtung Passkontrolle. Leider, oder lustigerweise hatte sich einer der Spieler einen Vollbart wachsen lassen. Der Zollbeamte sagte, er müsse sich den Bart abnehmen, er wäre auf dem Foto im Pass nicht zu indentifizieren. Ich stand dahinter und habe laut gelacht. Aber der meinte das tatsächlich ernst. Die Offiziellen haben mit dem geredet, aber der war stur. Und genauso stur war mein Mitspieler. Der hat die nur angeschaut und gesagt, nö, unter diesen Umständen wäre es ohnehin besser wenn er direkt zurück fliegt. Großer Ärger.

Aber es kam nicht zum Eklat. Plötzlich waren da ein paar Männer in zivil, haben den weggeschickt und wir sind durchgewinkt worden. Natürlich war das Staatspolizei, ich weiß nur nicht mehr, wie die in den jeweiligen Ländern genannt wurden. Aber sie hatten eben jede Vollmacht und jede Macht, im wahrsten Sinne des Wortes. Uns hat dann unser Delegationsleiter gebeten, bloss kein Wort über den Vorfall zu verlieren. Trotzdem erinnere ich noch gut, dass ich mich köstlich amüsiert habe. Ein System, das im System gegen das System arbeitet. Soviel habe ich damals schon verstanden.

Man stelle sich vor die Presse hätte geschrieben, deutscher Nationalmannschaft Einreise zur Europameisterschaft verweigert. Ehrlich gesagt, ich hätte mich gefreut. Was ein Hammer, aber sie haben es noch mal hingedreht. Das kommt davon, wenn man Menschen an Schalter setzt, die nichts verstehen und es gewohnt sind ihre Macht zu zeigen.

Es waren gute Meisterschaften, wir wurden dritter hinter den Sowjets und Ungarn (oder war es Italien?, weiß nicht mehr). Aber für unsere Verhältnisse ein sehr gutes Ergebnis. Und mein Kumpel durfte sogar seinen Vollbart behalten...

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 21 Januar 2012, 22:19:39
Dann war da noch das Jahr 1972. Eigentlich ist da in der Welt nicht gar zu viel passiert. Für mich jedoch sehr viel. Ich wurde 18. Es waren Wahlen und ich konnte zum ersten Mal Wählen. Damals war das noch anders als heute. Man konnte echte Alternativen wählen. Heute ist es mehr oder weniger egal, ob man schwarz, rot oder grün wählt. Alles der gleiche Sumpf und gleich traurig. Selbst die Liberalen waren damals liberal. Also nicht im Sinne von bestochen oder gekauft. Oder Postenschieber. Politikverdrossenheit gab es damals auch noch nicht, die Wahlbeteiligung war immer hoch. Heute gehe ich ja auch nicht mehr. Weil alle auf den Wahllisten meine Magenprobleme schlimmer machen, bis hin zum erbrechen.

Aber früher war das anders. Und mit 18 habe ich meinen Führerschein gemacht. War ein Geschenk meiner Eltern, musste nix bezahlen. Und meine Prüfung war genau an meinem Geburtstag. Das war klasse. Ich kam mit dem Lappen nach Hause und mein Vater hat mich lachend ans Fenster gezerrt und gesagt, siehst Du das Auto da unten, den blauen? Klar hab ich den gesehen, es war meiner. Ein Käfer, Baujahr 1963, das schönste Auto das ich je gesehen hatte. Er hat mir den Schlüssel gegeben und wir haben gleich mal eine Runde durch die Stadt gedreht. Ich glaube heute noch, dass der Himmel, wenn es ihn denn gibt, nicht schöner sein kann. Ok, die Kiste war nicht schneller als 120 km/h, bei günstigem Wind und Sicherheitsgurte oder Airbag gab es auch nicht. Aber es war meiner. Und ich war unglaublich stolz. Ich habe mir so einen Fellbezug für das Lenkrad gekauft, das war ja Plastik pur und hab auf den Schaltknüppel einen Ball angebracht. Und Felle auf die Sitze vorne. Ja, so verrückt war ich.

Den hatte ich 3 Jahre. Und nie hab ich einen Kratzer rein gefahren.

Wieder mal muss ich grinsen. Zum einen, weil ich es fast vergessen hatte und zum anderen, weil die Generation Golf nichts verstehen kann. Ich weiß noch genau, dass im Winter die Spikes aufgezogen wurden. Sind ja schon lange verboten. Damals waren sie notwendig. Die Winter waren anders als heute. Immer viel Schnee und jeden morgen glatteis. Aber die Spikes haben das locker weggesteckt. Die Fahreigenschaften des Käfers waren sehr bescheiden, aber man gewöhnte sich schnell daran. Bei Seitenwind ist man schon mal 2 Meter weggeblasen worden, aber da ich es wusste konnte ich vorher schon reagieren.

Es war toll. Im Sommer, mit offenem Fenster und Radio auf voller Lautstärke durch die Stadt. Ja, das war das Größte. Und natürlich lässig den linken Arm aus dem Fenster baumeln lassen. Gute Güte, heute muss ich tatsächlich laut lachen, wenn ich nur daran denke. Damals war es einfach nur toll.

Das Auto hatte 500 Mark gekostet. Gut, der Verbrauch war über 10 Liter auf 100 km. Aber Benzin hat ja auch nur 30 Pfennig gekostet und Umweltschutz oder sowas gab es noch nicht. Mein Käfer hatte 32 PS. Und der Tank fasste 30 Liter. Die Batterie war unter der Rückbank, und der Motor konnte mit 5 Schrauben ausgetauscht werden. Einfach gegen einen anderen vom Schrottplatz. Die Welt war damals anders. Ganz anders.

Mit dieser aufgestylten Limousine bin ich zu meinem ersten Rendezvous gefahren. Blödes Wort, einer meiner Wasserballer kannte da jemand und hat uns da mal "verkuppelt". Aber das ist eine andere kleine Geschichte...^^

lg
Hobo, hach war das schön...
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Paula am 22 Januar 2012, 10:13:45
Ach ja, der gute alte Käfer. Ich hatte auch einen, es war aber nicht das erste Auto. Das erste war ein gelber Fiat 126, 23 PS. Den hatte ich für 400 Mark von meinem Bruder gekauft. War ein tolles Auto, klein, passte in jede Parklücke, fuhr mich überall hin, war im Unterhalt billig und hat nicht viel Sprit gebraucht. Die einzige Macke, die er hatte: die  Zündkerzen haben sich immer losgerappelt. Aber ich hatte immer Werkzeug dabei und das Problem konnte ich im Laufe der Zeit bei Feuerzeugbeleuchtung innerhalb weniger Minuten lösen. Weniger schön war sein abruptes Ende: hab ihm wegen eines Kreislaufkollaps auf die Fahrerseite gelegt. Mir ist zum Glück nichts passiert, aber der Wagen hatte einen Achsbruch - da war nichts mehr zu machen.

Einige Jahre hatte ich dann kein Auto, bis ich jeden Tag von Bochum nach Dortmund zum Abendgymnasium fahren musste, oder besser gesagt: wollte. Erst habe ich es mit öffentlichen Verkehrsmitteln versucht, aber das war zu zeitaufwendig. Ich habe zu der Zeit auch noch Vollzeit gearbeitet und Überstunden gemacht, auch samstags. So habe ich mich nach einem fahrbaren Untersatz umgesehen und über einen Bekannten einen Käfer mit 2 Jahren TÜV für 600 Mark erstanden. Der Typ, der ihn verkauft hat, wollte nach Ausstralien auswandern und die Karre loswerden. Er war weiß und hatte 34 PS. Da ich nicht so besonders groß bin, war das Ding etwas unübersichtlich, aber der Gute hat mich brav jeden Abend zum Abendgymnasium und zurück gebracht - fast drei Jahre lang. Ich weiß nicht, wieviele Stunden ich an dem Auto rumgeschmirgelt und gespachtelt habe - Blech gab es da vermutlich nicht mehr viel. Irgendwann in dieser Zeit wurde er mal rot lackiert. Ich war mit einem Autohändler befreundet, der hat das für mich gemacht. Und so schick, wie er dann aussah, wurde er für 1200 Mark wieder verkauft.

War schon toll ...

Liebe Grüße von Paula
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Epines am 22 Januar 2012, 23:00:50
Hallo lieber Hobo
Ein ehemaliger Nachbar hatte auch einen Käfer, aber einen wirklich ganz alten den er seit Urzeiten gefahren ist. Dieser hatte noch einen Blinker, der auf der Seite heraus sprang um die Richtung anzuzeigen.

Allerdings konnte er kaum mehr gehen und Rad fahren auch nicht, aber Auto fahren hoppla, das konnte er noch gut, nur mit dem Parkieren happerte es meist. Wer je einen Käfer fuhr, weiss , dass die Sicht nach hinten  beim Parkieren wirklich nicht optimal ist. Mit der Zeit hatte mein Nachbar deshalb  eine eigene Technik entwickelt.

Er fuhr wie man es üblicherweise macht neben das Auto vor der Parklücke, dann stieg er humpelnd aus und schob den Käfer so lange hin und her, bis dieser perfekt in der Lücke stand. Den ungeduldig wartenden Automobilisten schenkte er keinerlei Aufmerksamkeit, er ließ sich einfach nie aus der Ruhe bringen, egal wie lange die Schlange war. Unglaublich oft hatte ich dieses einmalige Schauspiel beobachtet und mich köstlich amüsiert.

Zum Thema passend ein Kurzfilm, der mich ein wenig daran erinnert : http://www.youtube.com/watch?v=e7DcrVIdaSk&feature=relmfu

LG
Epines
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Sintram am 23 Januar 2012, 09:52:19
Opel Kadett, Fiat Bambino, Bayerischer Mist Wagen Flitzer, Merzedes Brummi mit lachendem Gesicht, Benz mit Heckflügeln, und natürlich der Volkswagen, der unkaputtbare Käfer.

Im Winter eine Katastrophe, Heizungsleistung eher symbolisch, Fenster freikratzen die ganze Fahrt über, Motor im Kofferraum hatte andrerseits was beim Slalom den Berg hoch. Zwei Kugelporsche habe ich als Beifahrer zu Schrott mitgefahren, einen sommers aus der Kurve in die Böschung, mit Überschlag und allem, einen winters bei gefrierender Nässe gegen eine massive Garten-Steinmauer, jeweils Totalschaden, Personenschäden im grünen Bereich, weil sich zum Glück kein Motor unter unsere Beine schob.

Erinnere mich recht gut an einen abendlichen Kneipenbesuch mit Freunden, unser graues Eselchen wird innnerhalb von zwei Stunden tief eingeschneit, das vereiste Schloss erweist sich immun gegen langanhaltende Feuerzeugbehandlung, bis wir uns die Finger verbrennen, der Schlüssel will und will nicht rein, endlich drin, lässt er sich nicht drehen, die nüchterne Chafeurin sitzt uns nörgelnd und stampfend im schwitzenden Nacken und treibt uns zur Eile an, nach einer halben Stunde vergeblicher Mühe haben wir unser Käferlein noch immer nicht geknackt, es schneit und schneit in immer dichteren Flocken.
Irgendwann stapfe ich ziemlich ratlos durch den Neuschnee die Parkschlange entlang, fünf Autos weiter hinten schimpft mir unser Eselchen entgegen: „Brrr, soo kalt, ich will nach Hause, wo bleibt ihr denn nur so lange?“ 

Die grauen Käfer schauten sich aber auch wirklich zum Verwechseln ähnlich, noch dazu im feschen Winterkleid.

Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Paula am 28 Januar 2012, 11:42:54
Gänseblümchengeschichten
In meinem Leben haben Gänseblümchen immer wieder eine Rolle gespielt. Schon als kleines Mädchen habe ich immer gerne und viel gelesen. Ich konnte schon lesen, bevor ich zur Schule kam. Eine meiner Lieblingsgeschichten stand in einem wundervollen Märchenbuch, in dem keine Märchen im eigentlichen Sinne standen, sondern eher kleine Geschichten, in denen Dinge aus dem Alltag eine Rolle spielten. Leider wurde das Buch, wie alle unsere Kinderbücher, irgendwann weggegeben. Als ich erwachsen war habe ich oft versucht, das Buch irgendwo wiederzubekommen, aber es ist mir leider nie gelungen. Aber nun zu meiner Lieblingsgeschichte, die mich bis heute immer wieder begleitet hat:

Die Geschichte vom Gänseblümchen
An einem wunderschönen Tag im Mai trug der Wind den Samen eines Gänseblümchens überall hinaus in die Welt. Einen Samen brachte er auf eine prächtige grüne Wiese. Dort lag der Samen ganz allein ohne seine vielen anderen Samengeschwister. Er hatte Angst und schmiegte sich ganz eng an die Mutter Erde. Die nahm ihn bei sich auf, pflegte ihn liebevoll und brachte ihn zum Keimen und zum Wachsen. Das winzig kleine Pflänzchen reckte sich jeden Tag der lieben wärmenden Maisonne zu, kuschelte sich jeden Abend an seine Mutter Erde und wuchs langsam heran. Als die Grashalme den Fremdling bemerkten, fragten sie das Pflänzchen, was es denn für ein komischer Grashalm sei. Das Gänseblümchen antwortet: „Ich bin kein Grashalm, ich bin eine Gänseblume.“ Als die Grashalme fragten, warum es dann in ihrer Mitte sei, antwortete es: „Ich bin vom Wind hierher getragen worden.“ Das Gras beäugte die Neue misstrauisch, aber das Blümchen war ja noch ganz klein und brauchte nicht viel Platz. Als das Blümchen nun wuchs und gedieh, weil es sich immer tüchtig nach der Sonne ausstreckte, und immer größer wurde, wurden die Grashalme sehr böse. „Was ist das denn für ein häßliches Geschöpf? Was will das denn hier bei uns?“ fragten sie untereinander. Man muss nämlich wissen, dass die Grashalme auf einer sehr ordentlichen und gepflegten Wiese standen. Alle Grashalme hatten genau die gleiche Länge und achteten sehr darauf, dass ihr Kleid nicht verknittert oder schmutzig war. Sie standen immer schön auf ihren Plätzen, damit der Rasen auch schön gleichmäßig aussah. Deshalb waren die Grashalme sehr ungehalten über den Eindringling. So sagten sie zu dem Gänseblümchen: „Du passt nicht hierher. Deine Blätter sind breiter als wir schmalen Halme und schau wie unordentlich dein Kleid ist, nicht so glatt wie unseres. Scher dich fort!“ Das Gänseblümchen wurde traurig und antwortete:“Ich kann hier nicht weggehen. Ich muss dort bleiben, wo der Wind mich hingetragen hat. Bitte lasst mich bleiben.“ Das wollten die Grashalme auf gar keinen Fall. Das wäre ja noch schöner, ein solcher Schandfleck auf ihrer schönen Wiese. Sie hielten eine Beratung ab, was sie denn nun tun sollten und fanden schnell eine Lösung. Die Grashalme, die direkt um das noch so kleine Gänseblümchen standen, richteten sich zu ihrer vollen Größe auf und umschlossen das Blümchen ganz fest von allen Seiten. Nun konnte die arme Kleine sich nicht mehr der Sonne entgegen recken und sie bekam auch fast gar keine Luft mehr. Und sie bat in ihrer Not die Grashalme:“Bitte geht doch zur Seite. Ich bekomme keine Luft mehr und ich kann die liebe Sonne gar nicht mehr sehen.“ Aber das Gras lachte nur höhnisch und drängte sich noch näher an das Gänseblümchen heran. Das Blümchen war traurig, das Atmen fiel ihm schwer und die Sonne fehlte ihm so sehr. Da vermochte auch Mutter Erde das arme Ding nicht trösten und das Gänseblümchen begann bitterlich zu Weinen. Plötzlich drang durch die dichten Grashalme ein rot-schwarzes Lebewesen, wie das Gänseblümchen es noch nie gesehen hat. „Wer weint denn hier so bitterlich?“ fragte das komische Wesen. Das Gänseblümchen fragte „Wer bist du denn?“ und vergaß vor lauter Staunen fast das Weinen. „Ich bin ein Marienkäfer“ sagte ihr Besuch, „aber sag, warum hast du so großen Kummer, dass du Weinen musst?“ Da klagte das Gänseblümchen dem Marienkäfer sein Leid. Der Marienkäfer versuchte mit dem Gras zu reden und bat, es möge doch zurückweichen und dem Gänseblümchen Platz zum Atmen und Leben zu lassen, aber das Gras wollte keine Eindringlinge auf seiner Wiese. Da hatte der Marienkäfer eine Idee. Er sprach zu dem Gänseblümchen: „Ich kenne eine Wiese, auf der sind ganz viele Gänseblümchen. Ich werde dort hin fliegen und deine Geschwister fragen, ob sie einen Rat wissen.“ Und so flog er davon. Nach einer Weile kam er wieder zurück und berichtete dem Gänseblümchen, was er von den andern Gänseblümchen gehört hatte: „Deine Wurzel sind so tief in der Erde. Halte dich damit ganz fest, damit dich niemand ausreißen kann. Und deine Blätter leg nicht so schüchtern an, wie du es jetzt tust. Halte dich tief in der Erde fest und breite deine Blätter um dich aus. Und dann erklärst du dem Gras ‚Hier bleibe ich!’ Die Wurzeln in der Erde werden dich nähren und die Sonne wird dich wärmen“ Das Gänseblümchen ließ erst ganz schüchtern den Kopf hängen und sagte:“Das kann ich nicht!“ Aber der Marienkäfer redete ihm gut zu und so versuchte es sich so fest wie möglich zu halten und erst mal ganz vorsichtig seine Blätter auszubreiten. Das gelang nicht sofort. Die Grashalme wehrten sich und erhoben ein großes Geschrei. Aber der Marienkäfer sagte:“Komm, du schaffst das. Versuch es gleich noch mal.“ Und so versuchte das Gänseblümchen es noch mal. Es ging schon etwas besser als beim ersten Mal. Und als es denn noch einige Male geübt hatte, stand das kleine Gänseblümchen aufrecht, mit ausgebreiteten Blättern auf der Wiese und hielt sich tief in der Erde fest. Die Grashalme mussten ihm weichen und das Gänseblümchen sagte:“Hier bleibe ich!“ und vor lauter Stolz öffnete es sein Blütenköpfchen, dass es bisher immer hängen gelassen hatte. Plötzlich hörte es unbekannte Geräusche. Es kamen zweibeinige Wesen auf die Wiese gelaufen, die riefen:“Oh, seht mal hier wie schön, ein Gänseblümchen!“ Der Marienkäfer erklärte ihm:“Das sind Kinder und die haben dich gern.“ Da wurde das Gänseblümchen ganz rot vor Freude. Das Gänseblümchen blühte den ganzen langen Sommer und den ganzen Herbst und brachte immer neue Blüten hervor. Es bekam oft Besuch von Bienen und Käfern und hatte viele Freunde. Inzwischen lebten auf der Wiese auch schon viele Kinder von dem Gänseblümchen und es war nicht mehr alleine. Aber sein allerbester Freund war und blieb der Marienkäfer.
Und wenn ihr beim nächsten Spaziergang ein Gänseblümchen seht, schaut es euch mal ganz genau an. Ihr werdet sehen, wie es seine Blätter um sich ausgebreitet hat, und wenn ihr ganz gut hinhört, hört ihr vielleicht das eine oder andere sagen:“Hier bleibe ich!“ Einige Blümchen sind vielleicht gerade errötet, schaut genau hin, sie haben dann an den Spitzen ihrer weißen Blätter einen roten Rand.

Und noch eine andere Geschichte aus meinem Leben. Zum 16. Geburtstag habe ich von einem lieben Freund ein Gänseblümchen in einem Yoghurttopf geschenkt bekommen. Er erklärte mir sehr verlegen, er hätte mir gerne was „Richtiges“ geschenkt, aber er habe leider gerade kein Geld. Ich fand sein Geschenk aber genau richtig und es war das schönste Geschenk, das ich jemals in meinem Leben bekommen habe. Noch heute grabe ich manchmal ein Gänseblümchen aus, ganz tief mit Wurzel, pflanze es in meinen Blumenkasten und erfreue mich jeden Tag daran. Wenn der Winter nicht zu kalt ist, überlebt so ein Gänseblümchen selbst den.

Vielleicht hat so ein Gänseblümchen mich in die Unterblätterhaufenhöhle gebracht. Da mögen alle Gänseblümchen!

Liebe Grüße von Paula
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 05 Februar 2012, 05:22:47
Ja, die Gänseblümchengeschichte ist schön. Hat mich gerade umgehauen.

Aber zurück nach 1972. Ich war im Olympiateam. Das ist der höchste was ein normaler Sportler je erreichen kann. Ich war in Frankfurt, hab die Einkleidung gemacht, da brauchte man 3 Koffer, aber die waren auch dabei. Von den Socken über die Unterwäsche bis hin zu Abendgardarobe. Das war sechs Wochen vor Olymipia in München.

Und dann ist meine Leiste eingeknickt. Eine Zerrung. Es ging nichts mehr. Ich musste schweren Herzens absagen. Im Nachhinein möchte man fast sagen ok, der Anschlag im olympischen Dorf, die Toten und all das Leid, muss man nicht haben. Auch heute bin ich nicht  so sicher, ob es gut war weiter zu machen. Ich hätte ein Zeichen gesetzt und abgebrochen. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich hab mit den Spielern telefoniert und die waren auch recht verunsichert. Klar waren wir alle.

Ja, da war dann noch eine Sache 1972. Gute Güte 40 Jahre ist das her. Ich war verliebt und es war die Frau meines Lebens. Aber ich habs vermasselt. Heute Barcelona, morgen Budapest übermorgen Pescara. Ich hatte die falschen Prioritäten. Hab sie verloren. Oft denke ich noch an sie. Aber es ist Vergangenheit, lange her.

Hm, ansonsten war ich 1972 zum ersten Mal vor Gericht im Leben. Irgendein Idiot hat eine Frau gewürgt. Hab ihn dann umgehauen. Gut, könnte sein, dass ich zwei Mal zugeschlagen habe. Aber kam nix bei raus. Der Richter hat gesagt ich hätte vorbildlich gehandelt. Sonst war nichts in diesem Jahr.

lg
Hobo
                 
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Sintram am 04 März 2012, 11:00:10
Wann geht's denn hier endlich weiter?

1972 ist ja doch schon wieder ein Weilchen her, da kam doch sicher noch so einiges nach, was wert ist erzählt zu werden.

Stur durchziehen und unbeirrt weitermachen, nur so geht's. ;-)

LG
Sintram
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Paula am 04 März 2012, 14:01:08
Tja, Sintram, mein Süßer, dann schreib doch einfach mal was. Es geht ja hier um "kleine Geschichten", da steht nirgendwo, dass Hobo das alles schreiben wollte! Lass dich ruhig aus.

Viele liebe Grüße von Paula
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Sintram am 04 März 2012, 14:39:52
Ooch, Paulinchen,

süß bin ich nun wirklich nicht :-), aber hier stehen vor allem Lebenserinnerungen von Hobo drin, und da dachte ich, bevor die Seite endgültig in der Versenkung verschwindet, ruf ich sie mal besser auf...
außerdem interessiert's mich echt, wie's denn weitergeht.

Als Hammondmeister Jon Lord (nach vorläufiger Auflösung von Deep Purple) 1976 seinen ersten Gig mit seinem Kumpel Tony Ashton auf's Parkett legte, ist der Pianoman und Sänger Ashton, dem die Rolle als Frontman überhaupt nicht behagte, gleich beim ersten Song sicherheitshalber mal in den -tiefen!- Orchestergraben gefallen.

Wie das so ist mit Limonadentrinkern, blieb der Glückliche völlig unverletzt, Mr. Lord meinte noch, sein Freund hätte so gut wie garnix getrunken... nun ja.

(Ich hab Tony vor ? Jahren noch on stage gesehen, ergraut mit hoher Stirn und einem ziemlichen Zahnverhau im Mund, war noch immer gut, ist wenig später gestorben.)

Sonst fällt mir grade keine -blödere- Geschichte ein, aber ist ja Sonntag. :-))

Lieben Gruß zurück
Sintram

Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 04 März 2012, 14:53:37
Schöne Geschichte. Vielleicht werde ich meinen Teil der Geschichten auch weiter führen. Leider habe ich derzeit keine Gehirnzelle für diese Art von Rückblenden übrig. Ich muss wegen Überlastung hier mal eine Pause machen.

lg
Hobo, keine Zeit für die Vergangenheit...
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Sintram am 04 März 2012, 17:14:05
Geht klar, Hobo, kann ich verstehen, sehr gut sogar.
Kommt Zeit, kommt Geschichte, ein Päuschen schadet nie.

In Jugoslawien, also noch vor dem Krieg, hab ich mal ein Dorffest irgendwo im Nirgendwo der Steinwüste gesehen, da saßen die Leute fröhlich am Tisch zusammen und becherten, sie hatten eine Wasserleitung über die Straße in einen Gebirgsbach gelegt, an dem einen Ende floss der Bach rein, an dem andern strömte das Wasser in ein kleines Mühlrad, das wiederum mithilfe eines Steinzeitmechanismus' an ein Gestell mit großem Bratspieß geknüpft war, an dem sich ein Ochse langsam überm Feuer drehte und rundum knusprig braun wurde, ohne dass wer sich drum kümmern hätte müssen.

Fand ich sehr beeindruckend. :-)

LG
Sintram



Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Nicki am 04 März 2012, 19:58:18
Sintrams Geschichte erinnert mich an einen Bauern aus Ungarn, bei dem wir 1991 gezeltet haben.
Er hatte kein fließendes Wasser, nur einen Brunnen, wollte uns aber dennoch moderne Annehmlichkeiten bieten. Er baute ein hohes Gestell, legte zwei Fässer darauf, die mit Wasserhähnen ausgestattet waren und füllte jeden Morgen das Wasser auf. Damit hatten wir Duschen! Morgens mit kaltem, mittags mit lauwarmen und nachmittags mit warmen Wasser.
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 06 März 2012, 20:28:58
Ja, kleine Anekdoten passen hier auch gut. Und es sind ja auch diese Erinnerungen, die haften bleiben. Oft nur kleine Dinge, die man ein Leben lang nicht mehr vergisst.

Ich habe eine Weile gezögert, weil es da ein negatives Ereignis und eine schlechte Erinnerung gibt. Es war 1973. Ich hatte noch meinen blauen Käfer und alles war rundum in Ordnung. Meine Schule damals klappte ohne Stress, mein Sport auch, ich glaube ich war bei den Europameisterschaften in Barcelona und ich hatte eine Freundin. Das Leben sah gut aus.

Dann kam eine Einladung zu einer Geburtstagsfeier. Ein Freund aus der Schule hatte uns eingeladen samstags zu ihm zu kommen und schön zu feiern. Ich hatte tatsächlich ein spielfreies Wochenende und los gings. Ich hab auf dem Weg noch einen Kumpel abgeholt und wir sind eher gemütlich über die Landstraße dahin getuckert. Der abgeholte Kumpel hatte eine Zigarette am Start und einen recht großen Blumenstrauß vor der Nase. Konnte ich nicht mit ansehen. Ich habe ihm den Blumenstrauß abgenommen und nach hinten auf den Rücksitz gelegt. Zumindest war das der Plan.

Leider war das in einer leichten Rechtskurve und durch das verdrehen meines Oberkörpers nach rechts hinten hat sich meine Hand am Lenkrad nach links unten verzogen. Nun, der Graben war breit und hätte gereicht. Aber es lag eines dieser großen Abwasserrohre aus Beton drinne. Da sind wir aufgeschlagen. Der Wagen hat sich mehrfach überschlagen, und ist auf dem Dach gelandet. Mein Kumpel ist durch die Frontscheibe geflogen, Sicherheitsgurte gab es damals noch nicht und ich hab den Spiegel abgeköpft und war erst mal weg vom Fenster.

Nun, die Party war abgesagt. Ich weiß erst wieder was, als ich im Krankenwagen durch die Gegend gefahren wurde. Mein Kumpel hatte Schnittverletzungen im Gesicht, aber ansonsten nichts. Bei mir haben sie dann 9 Knochenbrüche, Gehirnprellung und was an der Milz festgestellt. Das Brustbein war irgendwie nicht mehr in der Mitte wo es hingehört, sondern stand irgendwie komisch auf der Seite rum. Es war ein harter Einschlag.

Mein schöner Käfer war Schrott und ich im Krankenhaus, alles in allem so 10 Wochen lang. Aber es ist alles geheilt und nichts, außer ein paar Narben ist zurück geblieben. Ja, das war der stärkste Eindruck und die überragende Erinnerung an das Jahr 1973. Na ja, keine Wunder. Aber das hat man damals weg gesteckt. Ich weiß noch, dass ich in einem Krankenzimmer mit lauter jungen Menschen war. Damals war das so, dass es 6 oder sogar 8 Leute in einem Zimmer gab.

Bei mir im Zimmer lagen 2 Motorradfahrer von irgendeinem Motorradclub, nach einem heftigen Unfall. Da kamen dann jeden Abend Kumpels von denen mit einer Kiste Bier. Die Nachtschwester hat weggeschaut und die haben immer einen abgestellt, der mir eine Bierflasche mit einem Strohhalm festgehalten hat. Die waren lustig. Ich hatte ja beide Arme in Gips und das Gesicht war zugeschwollen. Aber der Strohhalm ging. Und nach der einen Flasche mit Strohhalm bin ein wohl eingeschlafen wie ein Engelchen. Anders wäre das schwer geworden. Das Bein oben am Galgen und die Arme in Gips, da ists nicht ganz leicht zu schafen.

Ja, es waren schöne Wochen. Schmerzhaft teilweise, aber auch jede Erinnerung wert. Ich kann mich sogar noch an einige Gesichter erinnern. Na ja, lange her.

lg
Hobo
Titel: Re:Kleine Geschichten...
Beitrag von: Hobo am 05 April 2012, 11:40:35
Hm, eine afrikanische Großkatze meinte, ich solle hier doch mal eine kleine Geschichte mit oder über meinen Vater schreiben. Ja, warum eigentlich nicht...

Ich war wohl gerade 8 Jahre alt. Zumindest so ungefähr. Ich gebe zu, dass ich Alter und Jahreszahlen nicht mehr sehr gut erinnern kann. Es muss also so 1962 gewesen sein. Ich weiß aber noch ganz genau, dass es Herbstferien waren, weil ich unter der Woche bei der Traubenlese war. Gut, ich hab weniger verdient als die älteren, klar. Ich durfte auch nicht Trauben schneiden. Meine Aufgabe war es, die vollen Eimer der Leute zu holen und ihnen wieder einen leeren zu geben. Weil der Logelträger, also der mit dem Riesentrog auf dem Rücken nicht gleichzeitig in allen Zeilen sein konnte. Das natürlich nur, weil es genau zu dieser Jahreszeit das "Weinfest" in unserer kleinen Stadt gab. Das war und ist meines Wissens immer noch das größte Volksfest in der Region. Jede verdiente Mark hab ich gehortet mit der Aussicht, die beim Volksfest auf den Kopf hauen zu können.

Und auf dem größten Platz meiner kleinen Stadt gab es natürlich alles, was die Herzen von 8-jährigen Kindern höher schlagen ließ. Bei uns hieß das "Kerwe". Da gab es wirklich alles. Fahrgeschäfte, Süßigkeiten ohne Ende und alle Arten von Buden die bunt bemalt den riesigen Platz füllten. Ein Paradies für Kinder eben. In diesem Jahr sah es aber nicht gut aus. Mein Bruder war krank. Ich glaube es waren die Masern. Zumindest hat er so ausgesehen, das weiß ich noch genau. Irgendwie nach Marienkäfer, die haben ja auch dieses Punktmuster.

Ich war richtig traurig, weil ich doch 5,- DM von meiner Oma geschenkt bekommen hatte, dass ich mir auf der "Kerwe" auch was leisten konnte. Also nur zum Verständnis, 5,- DM waren zu der Zeit mehr, als es sich heute anhört. Für mich war es damals ein kleines Vermögen. Gut, wir haben auch schon Taschengeld bekommen. So genau weiß ich es nicht mehr, aber ich glaube es waren 50 Pfennig die Woche. Das hat immerhin für 5 "Mohrenköpfe" gereicht, wie die damals politisch unkorrekt hießen. Heute muss man ja "Eiweißschaumbällchen auf Waffel mit Schokoladenüberzug" sagen. Wir kannten höchstens noch "Negerkuss", aber das war nicht gebräuchlich in unserer Region.

Und vor dem großen Fest hatten wir natürlich unser Taschengeld gespart. Einmal Autoscooter hat immerhin 30 Pfennig gekostet. Ich glaube so habe ich rechnen gelernt. Wie oft kann ich Autoscooter mit 5,- DM fahren. Das war eine reale Rechenaufgabe. Wobei, rechnen kann ich heute noch nicht wirklich gut.

Gut, mit dem schwer verdienten Geld der Weinlese und einem weiteren "Zuschuss" einer Tante und auch meiner Eltern war ich richtig reich. Nur, mein Bruder durfte nicht aus dem Bett und wir sind immer alle zusammen gegangen. Tja, da saß dann ich mit all meiner Kohle und war recht stinkig. Aber meine Mutter sagte dann, das ist doch kein Problem, sie bleibt bei meinem Bruder und ich darf mit meinem Vater losziehen. Ich weiß, dass sich das jetzt sehr blöd anhört, aber so richtig begeistert war ich nicht von dem Vorschlag. Weil, ich kannte meinen Vater eigentlich nur vom Abendessen, das bei uns immer recht stumm verzehrt wurde und auch der Abschluss meines Tages war. Danach musste ich ins Bett. Er war morgens schon lange bevor ich aufgewacht bin unterwegs zur Arbeit und kam immer gerade rechtzeitig zum Abendessen nach Hause.

Und wenn wir Kinder Mist gebaut hatte, was wir ehrlich gesagt dauernd machten, dann wurde er als Drohmittel hergenommen von meiner Mutter. Da hieß es immer, wartet nur bis euer Vater nach Hause kommt. Hm, ich denke wir hatten irgendwie angst vor ihm. Aber die Aussicht, doch noch auf das Fest gehen zu können hat meine Angst natürlich verdrängt.

So zogen wir dann los, damals war der Kindertag immer der Sonntag und dann meist so gegen 3 Uhr mittags. Es gab an diesem Sonntag kein Mittagessen für mich, mein Vater sagte, wir werden auf dem Fest was essen. Das war schon mal gut. Da gab es Pommes Frites, die gab es nur dort. Meine Mutter hat die 1962 noch nicht gemacht. Erst später. Aber diese Aussicht war natürlich sehr verlockend für mich.

Vorne, am Zugang zum großen Platz, da haben wir gleich mal angefangen. Der erste Süßwarenstand war meiner. Reich wie ich mich gefühlt habe nahm ich mir ein Körbchen und habe alle die Sachen, die man nur auf so einem Fest kriegen konnte eingesammelt. Natürlich auch für meinen Bruder. Mein Vater hat nichts gesagt, ich hätte gedacht er sagt gleich "übertreibs nicht" oder sowas, aber nein, er hat gelächelt. Und er hat es bezahlt. Ja, ich war sprachlos. Hatte schon aus meinem Umhängegeldbeutel, also Brustbeutel Geld herausgewühlt aber da war schon alles passiert. Er hat dann die große Tüte getragen und gesagt, na, das reicht ja für einen Monat. Gut, ich hatte es wohl übertrieben, aber für einen 8-jährigen war es eine einzige Verführung, alle diese bunten Leckereien. Dann sind wir Autoscooter gefahren. Ich dachte erst, er fährt und darf nur mitfahren. Aber nein, er hat mir etliche Chips gegeben, mich reingesetzt und angeschnallt. Er ist in einem anderen gefahren. Wir sind bestimmt ein Stunde gefahren. Nie mehr in meinem Leben bin ich so lange Autoscooter gefahren. Na ja, heute ist das ja was anderes, da gibt es andere Attraktionen, aber damals war das einer der Höhepunkte.

Dann sind wir an einen Stand gegangen, wo man schon von weitem die Pommes riechen konnte. Es gab Rostbraten mit Pommes, Ketchup und Majo. Es war einfach sensationell. Ich hab sogar eine Cola gekriegt. Und er hat das gleiche gegessen. Meine Mutter hätte schwer rumgemault von wegen ungesund und so. Und Cola war ja ohnehin Teufelszeug. Wir zwei haben das gespachtelt und uns diebisch angegrinst. Dann noch Geisterbahn, Schiffschaukel und Lose, die man unter die Nase gehalten bekam von Männern in grünen Kutten. Hm, an die Kutten erinnere ich mich noch genau, habe aber bis heute keine Ahnung was die bedeutet haben. Mein Vater hat 20 Lose gekauft. Und das 18. war ein Treffer. Wir haben einen Pinguin genommen, der war fast so groß wie ich damals.

Dann war da die Schießbude. Klar, ich wollte unbedingt schießen. Aber da war nichts zu machen. Durfte ich nicht. Er hat mir erklärt, dass Schießen nicht richtig ist. Ich habe ihn auch niemals bei ähnlichen Anlässen schießen sehen. Na ja, er war im Krieg. Gut, er hat mich eine Bude weiter gezogen und da gab es Bälle, die man auf Dosen werfen musste. Wenn man die abgeräumt hat, dann hat man was gewonnen. Wir haben beide geworfen und wir haben einiges mitgenommen an kleinen billigen Plüschtieren. Aber für mich waren es natürlich Trophäen. Ganz am Ende gab es noch ein Kettenkarussell. Sind wir auch noch gefahren. Wow, das ging ab. War das erste Mal, dass ich sowas gefahren bin oder besser geflogen. Und auf dem Rückweg haben wir noch ein paar Runden Berg- und Talbahn gedreht. Vorwärts und rückwärts. Was ein Nachmittag.

Bevor wir uns auf den Heimweg machten hat mein Vater noch was für Mutti und meinen Bruder mitgenommen. Auch Rostbraten mit Pommes und Cola. Dachte mir echt, der traut sich was. Aber meiner Mutter hat nur gelächelt. Und ich, ich hatte keinen Pfennig meines mühsam zusammen gesparten Vermögens ausgegeben. Er hat alles bezahlt. Und von den ganzen Süßigkeiten habe mein Bruder und ich bestimmt eine Woche lang gezehrt. Ich glaube das war der Tag, als ich meinen Vater kennen lernte. Und lieben lernte...

Er war nie leicht zu verstehen. Aber wer ihn richtig kennen gelernt hatte, der hat gewusst, dass man sich immer und blind auf ihn verlassen konnte. Wir haben nie viel miteinander geredet. Aber ich konnte jeden seiner Blicke deuten, jede Bewegung seiner Augenbrauen, das war deutlicher als ein langer Vortrag. Heute weiß ich, dass ich ihm recht ähnlich bin...

Das Leben ist voller kleiner Geschichten, diese ist für meinen Vater.

lg
Hobo