Darf ich vorstellen ? Ich bin DER "Ja-aber-Typ" schlecht hin. ;-) Ich bekomme Vorschläge, egal von wem, auch wenn sie noch so sehr gut gemeint sind, wie jetzt von dir, doch als aller erstes kam mir hier vor Ort wieder das Ja aber in den Sinn und wenn ich raushauen würde, was mich wirklich ausmacht, was mir widerfahren ist, der Spott, der Hohn, was das alles mit einem 5 Jährigen anstellt, der eigene Bruder in die selbe Kerbe haut, die Eltern nicht gerade sparsam in Sachen "physisch alternative Erziehungsmethoden" waren, in den 60er und 70ern Standard, dann ist es fast unabwendbar, dass das leben in eine völlig andere Bahn verläuft.
Und darum ist es absolut nicht machbar, Vereine aufzusuchen oder Stammtische. Das soll aber nicht heißen, dass ich in meiner Opferrolle zu 100 % aufgegangen bin. In den 80ern habe ich mich einem Sportbogenverein angeschlossen. Ich war der Ruhigste während einer Vereinsfeier, war eh nicht meins. Später habe ich mich einer Selbsthilfegruppe für Ängste angeschlossen. Irgendwann kam ein junges Ehepaar zu uns, deren Kind gestorben ist. Gesprochen hat eigentlich nur die Mutter. Irgendwann war es ihr zu bunt, glaubte wohl ich sei ein Gruppen-Tourist/Gaffer oder so was. Jedenfalls sagte sie: Jetzt kann der junge Mann da vorne ja mal was sagen.
Während einer Firmenfeier vor über 30 Jahren habe ich es gewagt, daran teilzunehmen. Irgendwann sagte das Naivchen von Schwiegermutter vor allen Leuten "Jüüüüürgen, du bist ja heute so ruuuuhig". Sie ist wirklich dumm und naiv, wurde aber auch von ihrem Ehemann Jahrelang unterdrückt. Trotzdem ein unentschuldbares Verhalten mir gegenüber, einem Erwachsenen inmitten anderer Gäste. Das jetzige versuche ich gerne zu verdrängen. Aber ich muss dir ja was "bieten". ;-) Heute Nacht werde ich wieder Alpträume davon haben. Ich weiß schlicht und ergreifend nicht, wie diese Feier vor der Hochzeit heißt, Junggesellenabschied ? Keine Ahnung. In der kleinen Schützenhalle kamen alle Freunde und Bekannten meines Bruders und Schwägerin zusammen. Die Band spielte, dann sagte der Bandleader, und das wusste mein Bruder nicht, und jetzt bitte ich die Trauzeugen auf die Tanzfläche. Meiner Frau und mir wurde es heiß und kalt. Der Mopp, der Pöbel raunte schon, einer schrie richtig laut. Ach schade, mit meiner heutigen negativen und aggressiven Stärke, die sich aufgrund all der Jahrzehnte formiert hat, wäre ich aufgestanden, zu ihm hingegangen und hätte ihn zumindest beim Kragen gepackt. Doch vor 40 Jahren war ich noch ein Lämmlein. Das setzt mir heute noch noch zu.
Und neulich? Jaaaha, dieses Verhalten stirbt NIE aus, genauso wenig wie Hohn, Spott und Nachahmungen. Eine ehemalige Kollegin meiner Frau sprach mich in Ihrem Büro direkt an, Jürgen, du bist ja heute so ruhig. Dabei war ich nur "Long Covid-müde". Nach all den Jahren wollte ich ihr verbal an die Kehle, ihr wie mit einem Seziermesser meine Meinung einritzen, aber ich habe es bei der Covid Erklärung belassen, zur Freunde meiner Frau.
Summa Summarum, es gibt für mich noch nicht mal im Entferntesten Orte, zu denen ich mich begeben würde. VHS Kurse, in denen sich ausschließlich nur die psychisch Normalen aufhalten, wir haben einen Wanderverein bei uns, keine Chance. Würde ich NIE machen. Selbst als mich Long Covid noch nicht sozusagen ans Haus gebunden hat, denn Treppen steigen fällt mir unglaublich schwer. Kürzlich habe ich an einem Therapie Reiten teilgenommen. Ich habe geblubbert, wie ein Wasserfall. Klar, wir waren ja auch nur zu Zweit. Ich auf dem Pferd und die Sozialpädagogin zu Fuß neben her. Auch das ist im Sande verlaufen. Zum einen war eine Stunde viel zu viel, mehrere Tage danach schmerzte mein Körper unterhalb des Bauchnabels immer noch und sie, wie soll ich das sagen ? Sozialpädagogin hin oder her, sie wusste, dass ich der falsche Kunde für sie selbst und für die Pferde bin. Denn auf meine Rückmeldung per mail hat sie nicht mehr reagiert.
Du siehst ja, wie und was ich schreibe, völlig am normalen, sozialen Erwachsenenleben vorbei, als jemand, der in seiner Entwicklung sehr früh stecken geblieben ist und so was merkt jeder bereits nach wenigen Minuten mit mir. Meine Frau sagte mal Richtigerweise, als ob du ein Schild über dir schweben hättest, mit der Aufschrift, sprecht mich bloß nicht an. Das passt auch zu meinem sonstigen Gesichtsausdruck. Ich vermeide es ja so gut ich kann, in den Spiegel zu gucken. Doch einmal habe ich Zufälligerweise mein Gesicht geseh`n. Ach du xxxxxx. Absolut ekelhaft und abstoßend. Das passt genau zu meiner Firmen-Einlasskarte, die ich 2 x in der Woche für meinen 520 € Job brauche. Selbst der Firmen interne Fotograf guckte mehrmals aufs Foto, konnte gar nicht glauben, was der Drucker auswarf. Oder Passfotos. Oh mein Gott, da sieht man mir den Lebensstress voll an. Aschfahl und "grimmig" guckend. Ich bin jetzt optisch kein Quasimodo oder sowas, aber alle Fotos geben meine kaputte Seele 1:1 wieder.
Als nächstes steht Katzen streicheln auf dem Programm. Iss keen Witz. ;-) Muss unbedingt was tun, weg vom Fernseher.
Apropos und sorry für die Offenheit, du versuchst ja "nur" Wege aufzuzeigen. Bei allem Respekt, das stottern lasse ich mir nicht klein und harmlos reden. Das ist wie eine sich nie verschließbare Wunde. Ich gehe ja nicht zurück zum 5 Jährigen und zeige schniefend und weinend auf jenes Jahr. Nein, dieses Verhalten anderer Menschen ist in deren Genpool verankert. Alles, was anders ist, früher rote Haare, lange Zeit Metallzahnspangen, von wegen Pferdefresse und so. Aber ich möchte noch auf einen Umstand hinweisen, der mich schnell wieder aus der Opferrolle rausnimmt und bleiben wir mal ruhig beim stottern. Es gibt viele, die schaffen das Abi, studieren, bis hin zum Professor. Ich war glücklich, die Hauptschule bereits nach dem 9. Schuljahr verlassen zu dürfen. Wie kommt es zu dieser großen Bildungsspanne? Ganz einfach. Das soziale Auffangnetz. Ist es dicht und stark, federt es jeden Stotterer relativ sanft ab, sodass er sich "nur" noch mithilfe von Sprachtherapien dem stottern zu entledigen braucht.
Mein soziales Netz war von Anfang an großmaschig und löchrig. Nach jeder Verunglimpfung fiel ich ungebremst durch das Netz auf den harten Asphalt. Ich weiß nicht, ob du WIRKLICH verstehst, was genau das bedeutet. Theatralisch: Game over.
Oh je, ich immer und meine Romane. Ist ja bald vorbei. ;-)