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Gästebereich (Schreiben ist ohne Registrierung möglich) => Gästebereich => Thema gestartet von: Sintram in 07 November 2010, 12:29:03

Titel: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Sintram in 07 November 2010, 12:29:03
In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass sprachlich regionale Unterschiede bisweilen zu erheblichen Missverständnissen geführt haben.

Jeder Dialekt hat spezielle Redewendungen und Begriffe, die mit vollkommener Selbstverständlichkeit benutzt werden und dennoch völlig falsch verstanden werden können, weil sie in anderen Regionen entweder eine manchmal sogar entgegengesetzte Bedeutung haben oder weniger schwerwiegend und negativ behaftet sind.

Auch ich habe unlängst ein solches "Idiom" benutzt, das völlig falsch aufgefasst wurde ja werden musste, und zwar das bayerische (bairische) "nichts taugen".

Ein Mensch, der "nichts taugt"...

ist keinesfalls wertlos oder minderwertig, verachtenswürdig oder unbedingt zu meiden

sondern

Jemand, der nicht weiß was er/sie will
dem man nicht alles glauben muss was er so von sich gibt
ein unzuverlässiger Charakter, auf den man sich nicht verlassen kann und wenn ist man verlassen
mit dem man, wenn man sich auf ihn einlässt, gehörig auf die Nase fallen kann ja mit größter Sicherheit wird
insbesondere und vor allem in zwischengeschlechtlichen Angelegenheiten
also ein partnerschaftsunfähiger bzw. -untauglicher Mensch egal welchen Geschlechts.

Wenn man diese Verhaltensregeln beachtet, kann man sehr wohl und sogar gut mit ihm aus- sprich klarkommen und sogar befreundet sein mit ihm.
Aber man sollte es sich sehr gut überlegen, ob man der- oder diejenige sein will, die die Welt vom Gegenteil überzeugen kann und ihn zu einem soliden Menschen "bekehren" bzw umformen.

Ein Hallodri eben, ein unsteter Charakter, ein kleiner Gauner, eine schillernde Figur, ein "Taugenichts", nicht unbedingt böse, bis zu einem gewissen Grad sogar liebenswert, aber eben auch nicht ganz ungefährlich, so manfrau ihm denn zu nahe kommt oder verbindlich mit ihm zu tun haben muss.

Davon abgesehen hat die Redewendung "nichts taugen" noch viele andere Bedeutungen in anderem Zusammenhang, aber das würde jetzt echt zu weit führen.

Vielleicht fällt ja sonst noch Jemandem etwas vergleichbar Missverständliches aus seinem Dialekt ein, mich fasziniert und amüsiert so was immer.

LG
Sintram
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Thaddaeus in 07 November 2010, 13:35:17
"Pfannkuchen" in Berlin sind bei uns "Krapfen"
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Sintram in 08 November 2010, 08:55:21
Und wenn Du in Franken eine Bratensülze bestellst, bringen sie dir einen seltsamen Presssack.
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Fee in 08 November 2010, 10:16:28

Und in Seppelland,sagt man zu runter = oabi

Allso jemand,der runter fällt,fällt nach oben ... äh ?

... er ist oabi gfoalln  :D
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Sintram in 08 November 2010, 10:23:02
Ja, so ist es.
Obi oder auch owe kommt von abwärts.

Ein befreundeter Kölner hat mir da mal eine lustige Geschichte erzählt, als er mit einem Bayern einen schweren Schrank geschleppt hat und der an einem Ende verzweifelt gerufen hat: "Obi! Obi! Obi!" - und er das schwere Trumm am andern keuchend und prustend mehr und mehr nach oben gestemmt.  ;D


(Der Wortklang liegt irgendwo zwische oa und o, ist schriftlich nicht auszudrücken)

Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Fee in 08 November 2010, 10:38:02

:D :D :D  ... hätten auch Thaddäus und ich sein können.


... von denen zwar jeder nach der Schrankschlepperei einen Pfannkuchen verdrückt,aber i.wie dann trotzdem beide nicht das Gleiche essen.
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Sintram in 08 November 2010, 11:16:01
Als der Kölner in unsere Stadt kam, saßen wir in geselliger Runde zusammen und unterhielten uns, wie uns eben der Schnabel gewachsen war.
Er lauschte nur sichtlich überfordert und sagte so gut wie gar nichts.

Beim anschließenden Spaziergang kamen wir hinunter an den Inn, wo sich wie jeden Winter die hungrigen Schwäne in rauen Massen versammelt hatten.

Ruft der Kölsch Jung erstaunt: "Ey gugg mal, die Schweine aufm Nil!"

Exemplarische Sprachverwirrung sozusagen.
Oder geographische Desorientierung- im bairischen Kongo?

Ist ja auch schon unendlich lange her, und mir erging´s in Gölln kein bisschen anders.

Mit dem Berlinerischen habe ich erstaunlicherweise weitaus weniger Verständigungsprobleme.
Überhaupt- wenn ich mir München und Berlin so vergegenwärtige, da gibt es sehr viele Übereinstimmungen, was das im einzelnen genau ist, könnt ich jetzt gar nicht sagen.
Das Flair vielleicht, keine Ahnung.

Wohingegen wenn ich nach Südtirol komme, dessen Dialekt ja mit dem Bairischen sehr eng verwandt ist, verstehe ich eine Zeit lang nur Bahnhof.
Mit dem Wienerischen indes hab ich so gut wie keine Probleme. Was explizit wienerisch ist, kann leicht sinngemäß erkannt werden.

Auch das Sächsische ist nach einer Weile gut zu verstehen. Also ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht, irgendwann mal wie "der Ochs vor dem Berg" gestanden zu haben.

Einen ausgesprochen -nun- gewöhnungsbedürftigen Dialekt sprechen die Leute im fränkisch-schwäbischen Grenzraum.
Einem Bajuwaren erscheint ja das Fränkische schon etwas schnarrend und derb, er selbst hat mehr Singsang im Slang, aber wenn dann auch noch die ganzen "-ele" Endungen dazukommen, die als Verniedlichung empfunden werden,
also Maddelle statt Madle (für Mädchen, junge Frau), das geht dann schon Richtung Körperverletzung.  :D

Das seltsame an den Bayern ist ja das, dass sie eigentlich recht schnell verstehen, egal wo sie hinkommen.
Nur verstanden werden sie nach Jahren noch nicht.

Jamei a so is hoid
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Sintram in 08 November 2010, 13:56:37
Vielleicht liegt es daran, dass bairische Kinder früher -bevor hirnamputierte Eltern dazu übergingen, sie auf hochdeutsch zu "erziehen"- mehrsprachlich aufwuchsen.
Nicht allein das Hochdeutsche als erste Fremdsprache war ihnen abverlangt, sondern eine große Vielfalt regionaler Unterschiede im eigenen Dialekt.

In der Oberpfalz, also rundum Regensburg, leben zum Beispiel die Woudous.
Das ist ein ganz eigener Volksstamm, bei dem etwa "da muss er durch" zu dem Kürzel "doumouadou" zusammengefasst wird und die sich mit einem "Sengmasi" verabschieden, was übersetzt heißt "Sehen man sich".
Auch sonst ist der Oberpfälzer ein wenig "saim" sprich eigen.

Dann gibt es da noch die "Waidla", also die Ureinwohner des Bayerischen Waldes, deren Dialekt stark vom angrenzenden Böhmischen beeinflusst ist, ebenso wie aus dem österreichischen Waldviertel, und der ohne Wertung als "Hinterbayern" bezeichnet werden könnte.
Kommt etwa ein Oberbayer in den hinteren Bayerwald, versteht er schlicht chinesisch- von der atemberaubenden Schönheit der Landschaft einmal abgesehen.
Man kann, wenn man eine Zeit lang dort lebt, bereits zwischen zwei Dörfern Abweichungen im Dialekt konstatieren.

Ganz anders wiederum sprechen die Inn-Anrainer, Isartalbewohner und sonstigen Urstämme der zahlreichen Flusstäler und Ebenen.
Ich selbst zum Beispiel wuchs an einer Sprachgrenze zwischen einem Talvolk und dem archaischen "Holzland" darüber auf und hatte Verwandtschaft aus beiden Teilen, was mein Sprachgefühl von klein auf forderte und förderte.

Bairisch als Ganzes existiert nicht, die bayerische Sprache ist vielmehr ein Sammelsurium aus den Dialekten verschiedener Volksstämme mit zwar ähnlicher aber durchaus vielfältig voneinander abweichender Kultur und manigfaltigem Brauchtum.
Für einen "Auswärtigen" oder "Zugereisten" sprich "Zuagroastn" mag das nur sehr schwer oder vielmehr garnicht auszumachen sein, aber die regionalen sprachlichen Unterschiede sind erheblich und hochinteressant.

Und die bisher zusammengestellten Bayerischen Sprachlexika haben folglich biblisches Format.
Ein Gymnasiast in Bayern lernt vor dem großen Latinum erst einmal das große Baiuvaricum.

Ich könnte noch ein ganzes Weilchen herumfabulieren, aber genug damit.
Wie sieht das denn bei Euch aus?

LG
Sintram

Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: nubis in 08 November 2010, 14:55:28

Hi @Sintram :-)

Finde das grade nett hier :-D


Ich bin als halb-deutsche zunächst auch mehrsprachig aufgewachsen, lebe aber seit meinem 6ten Lebensjahr in Deutschland und spreche auch nur noch deutsch - was aber auch daran liegt, dass ich auf Grund einer durch Unfall erworbenen Schwerhörigkeit Prioritäten setzen musste.

Bislang war ich auch immer davon ausgegangen, dass ich Hochdeutsch in reinster Form spreche, weil meine Eltern besonderen Wert darauf gelegt haben.


Jetzt würde ich nicht sagen, dass ich echt 'Dialekt' spreche - aber es gibt halt schon Worte, die in anderen Regionen nicht verwendet werden.
Fällt alleine schon im Chat auf, wenn jemand nachfragt, was damit gemeint ist^^

Mein Freund spricht zum Glück auch sehr gut Deutsch ...und das, wo er ein Bayer ist ;-D  - aber seitdem ist es mir halt doch das eine oder andere Mal bewusst geworden, dass ich eben auch schon lange kein 'Hochdeutsch' mehr rede, sondern 'rheinisch eingefärbt' ^^ - wobei ich wie gesagt nicht von echter 'Mundart' rede :-)

Aber bei eurem Bayrisch muss ich halt doch grade grinsen :-)
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Sintram in 08 November 2010, 16:00:06
Hallo @Jette,

Das mag wohl sein, dass mir das in der Rückschau verschwommen ist, ich kann mich nur noch genau an die "Nilschweine" erinnern.
Er war so erschöpft vom Zuhören, dass ihm das eigene Sprachgefühl vorübergehend abhanden kam, und er selbst lachte wohl am meisten drüber.
Wie muss es denn -von diesen mal abgesehen- richtig heißen?

Hallo @nubis,

das freut mich, wenn es Dir Spass macht.
Den Rhein aufwärts bin ich schon mit dem Rad gefahren- Unvergesslich, allein die Dome, Weinberge ach alles eben. Konnte mich gut verständigen.

Mal ein kleines Beispiel für die sprachliche Vielfalt Bayerns.
Sowohl in Niederbayern als auch in der Oberpfalz gibt es ein Flüsschen mit dem Namen Vils.
Wenn ich nun in Niederbayern meine "Füße in die Vils" tauche, stehe ich mit "de Fiass in da Vais."
Und in der Oberpfalz mit "dö Faiss in da Vüls".

Und so ähnlich ist das mit allem. Aber Du bist ja ohnehin halb bajuwarisiert.  ;D

Pfiat Eich
Sintram

Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Sintram in 08 November 2010, 16:49:34
Klingt gut. Klang wohl auch so.

Ist das bei Euch auch so?
Für die Einen gibt es nur die Donau (Doana), für die Andern nur den Inn, und für die "Altbayern" nur die Isar.
Alles andere sind sowieso nur größere Bäche.  :)
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: persephone in 08 November 2010, 17:20:54
Als gebürtige Inntalerin aus dem tiefsten Oberbayern hat es mich mal in den hintersten bayrischen Wald verschlagen: Wir brachten einen verletzten Falken zu einem Falkner. Der gute Mann war begeistert und redete wie ein Buch - und ich hab kein einziges Wort verstanden! Auf dem Heimweg mußte mir mein niederbayernstämmiger Schatz die komptlette Unterhaltung übersetzen... ;D
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: persephone in 08 November 2010, 17:38:29

Die Franken haben ihre Pegnitz, die Schwaben ihren Lech.
Der Rhein ist schon ganz etwas besonderes.  :) 
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Sintram in 10 November 2010, 14:57:39
Do wennsd ma ned gangst mei Liaba. A so zgriang zweng a so am Krampf.

Kannt ma doch a song wia da Jimi Hendrix: I woaß ned, du woaßdas ned, mia wissmas ned, koana woaß.
Oba na: Dea hod gsogt, de hod gsogt, iatz kimmst du a nu dehea, hea ma doch mid dem oidn kas auf, iatz hea ma doch amoi gscheid zua, glaubsdas, do sand o de Ollagscheidan wieda amoi oisant beinand, des is o ned zum oishoidn do herin..
Hinum und herum, drunta und drüba, und am Schluss woaß koana mea so recht warum iatz eigntlich grauft wiad.

Bis dass dann auf amoi de oana song, wissts wos es kennts me olle amoi -und obhaun.
Und des wars des Ganze iatz weat.

Wann i iatz ned wisst dass des üwaroind a so is und üwaroi des Gleiche, kannta mi glatt aufreng desweng.
Owa a so sog i hoid bloß: Mei des is hoid amoi a so. Wos mechst mocha?

Warum das des iatzad a so is, do bi i bis heid nu ned recht drauf kemma.
Owa ois muaß i a ned wissn und vasteh scho glei go ned.

Do kast nix mocha, so schaut des aus. Des wead scho wieda wean.

Da Sindramm

Sendung mit der Maus:
Das war niederbairisch.
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Thaddaeus in 10 November 2010, 15:55:40
*Das war niederbairisch*

oba no ned ausm woid
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Sintram in 10 November 2010, 16:06:36
 ;D  ;D ;D

Ja do host woi recht.
Do hint rens wieda nu amoi a weng gans andascht.

Owa liabe Leid, echt liabe Leid. Richdige Hoizfix.
"Gschickt" dadns saiba song.
I sog da wos, mid de kast saufa bis in dFria eine.
Und saugleng is gwen!  ;D
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Fee in 10 November 2010, 16:54:06

Sendung mit der Maus:  
Das war ausländisch  :D
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Thaddaeus in 10 November 2010, 16:58:19
*Owa liabe Leid, echt liabe Leid. Richdige Hoizfix*

I woas, meine Freind und i hom amoi an Hof druntn kopt,
zum Mopedschraum und vastandn hama nix.
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: persephone in 10 November 2010, 17:11:40
"I bi vom Woid dahoam - daaa Woid is scheeee"

Mir hams do drunt a amoi oan aufg´hengt, mim Bluadwurz. Ooooo mei... I woas heid no ned, wiari auf mei Zimma kemma bi. Aba, wia sogd da Niederbayer  - saugleng is gwen!

Sendung mit der Maus:
Das war oberbayrisch.
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Sintram in 10 November 2010, 17:56:27
Also gut @Fee, weil Du es bist und für alle Ausländer...
Wörtliche Übertragung ins Schriftdeutsche:

Da wenn du mir nicht gingest mein Lieber. Ein so zerkriegen zuwegen ein so einem Krampf.
Könnte man doch auch sagen wie der Jimi Hendrix: Ich weiß´s nicht, Du weißt´s nicht, wir wissens nicht, keiner weiß´s.
Aber nein: Der hat gesagt, die hat gesagt, jetzt kommst du auch noch daher, hör mir doch mit dem alten Käse auf, jetzt hör mir doch einmal gescheit (aufmerksam) zu, glaubst Du´s (nicht zu glauben), da sind ja die Allergescheitesten wieder einmal allesamt beieinander (versammelt), das ist ja nicht zum aushalten da herinnen...
Hin und her, drunter und drüber, und am Schluss weiß keiner mehr so recht warum jetzt eigentlich gerauft wird.
Bis dann auf einmal die einen sagen, wisst ihr was ihr könnt mich mal und abhauen (verduften).

Wenn ich jetzt nicht wüsste dass das überall ein so ist und überall das Gleiche, könnt ich mich glatt (tatsächlich) aufregen deswegen.
Aber so sag ich halt (eben) bloß: Mei (tja) das ist halt einmal ein so. Was möchtest du machen?
Warum dass das jetzt ein so ist, da bin ich bis heute noch nicht so recht drauf(dahinter)gekommen.
Aber alles muss ich auch nicht wissen und versteh´n schon gleich gar nicht.

Da kannst (du) nichts machen, so schaut (sieht) das aus. Das wird schon wieder werden.

So, und iatz weara mi amoi vazupfa do...  ;)
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Sintram in 24 November 2010, 17:02:13
Den Bayerischen Wald, den ich in meiner Jugend -an vier weit voneinander entfernten Orten über eine Dekade verteilt- bewohnte, gibt es nicht mehr.
Das war lange, lange vor der Erfindung des Satellitenfernsehens und noch länger vor der Erfindung des Internet.
Und ebenso lange vor der Öffnung des eisernen Vorhangs, als sich vergessene Dörfer über Nacht in Durchgangsverkehrszentren verwandelten.

Damals war der "Woid" ein Landstrich, in dem sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten.
Eine Region, in der du nach stundenlanger Irrfahrt auf einspurigen Straßen Dörfer und Einöden erreichtest, in denen es weder fließendes Wasser noch Stromanschluss gab, die Leute aus ihren Hofbrunnen schöpften und ihren Generator im Mühlbach rattern ließen.
Im Dorf gab es einen Wirt und bei diesem das einzige Telefon.

Die Jugendlichen dort redeten wie selbstverständlich mit Tieren, Bäumen und Steinen, kannten die Rufe der Rehböcke und Wildschweine und vermochten den Gesang der Vögel zu unterscheiden, beherrschten die Kunst, Forellen aus den Bachläufen zu kitzeln und in Windeseile einen Riesenkorb mit "Schwammerl" zu füllen. Sie kannten die versteckten Plätze der Steinpilze, der "Dowanigl", und den würzigen Sauerampfer.
Sie wussten wie man Feuer macht und wie man es die ganze Nacht durch am Glühen erhält.
Es machte Spass mit ihnen in den Wäldern umherzustreifen, ausgerüstet mit einem kleinen Zelt und Schlafsäcken.

Ich half in jenen fernen Tagen bei der Kartoffelernte, holte Brennholz aus dem Wald und hackte im Winter frühmorgens den eingefrorenen Brunnen frei, trank kuhwarme Milch und verspeiste frischgelegte Eier.

In den jeweiligen Dorfgemeinschaften war die "Hippiekommune" nach realtiv kurzer Zeit des Beschnupperns anstandslos integriert, wurde ab und an auf einen "Ratsch" besucht, sogar eingeladen, und mit Äpfeln, Birnen und Zwetschgen versorgt.
Ich lernte Brot zu backen und Butter zu machen, bestellte einen Gemüsegarten und "kloimte" Brennholz.
Wir lebten -bis auf den Strom- wie vor hundert Jahren, trugen selbstgestrickte Westen und Holzschuhe.
Und es war ein gutes Leben.

Der Bayerwald ist sehr alt, viel älter als die Alpen, und soll früher sogar höher gewesen sein als diese, was sich jedoch meiner Erinnerung entzieht.
Eines aber ist er mit Sicherheit- mystisch.

In den langen Winternächten verwandelt sich sein ansonsten freundlich lebensstrotzendes Antlitz in eine düstere wilde Maske.
Der Glaube an Naturgeister, Perchten, Kobolde und Wichtel wird selbst dem Ungläubigsten zu konkretem Wissen um ihre Realexistenz.
Ein seltsames Völkchen zottiger Mischwesen -halb putzig halb furchterregend- huscht in den Vollmondnächten zwischen den kahlen Stämmen der unendlichen Wälder herum, in den Ställen wärmen sich Trolle und in den Stuben Wanderwichtelmännchen.

Weihnachten im Baierwald ist ein wenig anders als anderswo.
Jede brennende Kerze hat neben ihrem feierlichen Schein auch eine Schutzfunktion gegen irrende "arme" Seelen und bedrohliche teuflische Mächte inne, in einer Art Fusion ersteht vorzeitliches Heidentum aus den uralten Gebräuchen benediktinischer Christianisierung, und in einer Art Zeitsprung versinkt der eingeladene Mitfeiernde irgendwo in den Zwischenräumen von Halbwelten und Unwirklichkeit.

Der bairische Wald hat eine Seele, ohne jeden Zweifel, eine unvorstellbar alte wissende Seele, und wer sie erfahren will, muss lauschen lernen, still werden, er muss klein werden und verschwindend, sein hoffärtig aufgeklärtes Haupt dem Unerklärlichen beugen und sich verneigen vor der Majestät der ewigen Wälder.

Aber wie gesagt, all das war vor den technologischen Errungenschaften der Neuzeit, dem Massentourismus, den großen Wintersportzentren, den Hoteltempelbauten, vor dem Waldsterben, dem Borkenkäfer, vor all dem Wahnsinn eben.
An manchen Tagen erinnere ich mich daran. So wie heute.

Verdammt lang her.











Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Sintram in 29 November 2010, 18:22:00
Schon traurig, wenn ich das so lese.

Wir waren als langhaarige Freaks auch deshalb so schnell integriert und aufgenommen in die Dorfgemeinschaften, weil die eigene Jugend kaum volljährig in die Städte verduftete.

Das Hofsterben war damals im Anfangsstadium, die Kleinbauern gaben einer nach dem andern auf.
Sie hatten keine Weideplätze mehr für ihre Kühe, die das ganze Jahr über in den Ställen in der eigenen Scheibe standen, die Söhne fanden keine Frauen mehr und die Töchter keinen Landwirt zum Mann.

Die Alten litten am meisten darunter, sie waren regelrecht depressiv, wenn sie die jahrhunderte alten Gehöfte dahinsterben sehen mussten.

Als ich einmal in der Weihnachtswoche bei lieben Leuten eingeladen in Weinlaune die Bemerkung fallen ließ, dass der Papst letzten Endes auch nur ein Haufen Moder und Knochen ist, kam da schon mal ein heftiges "Satan, hinter mich!" von der Gastgeberin.
Man musste schon ein wenig aufpassen was man so sagte.

Und an Sylvester holten die alten Kameraden sturzbetrunken ihre Wehrmachtskarabiner aus den Kellerverstecken und ballerten damit in die klirrende Luft.

Auch der Wald hat eben seine dunkle Seite.
Titel: Re: Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Sintram in 30 November 2010, 15:26:37
Im Woid is so staad
olle Weg san vawaht
olle Weg san vaschnim
ist koa Steigal ned blim

Heast as zweidast in Woid
wann da Schnä owafoid
wannse sZweigal obbiagt
wenn a Vogal aufliagt

Owa heid kunnts scho sei
es wa numoi so fei
es wa numoi so staad
dass se gonix rian dad

Altes Volkslied



Übersetzung:
Im Wald ist es so still
alle Wege sind verweht
alle Wege sind verschneit
ist kein Steiglein mehr geblieben

Hörst es weit durch den Wald
wenn der Schnee herunterfällt
wenn sich´s Zweiglein abbiegt
wenn ein Vöglein auffliegt

Aber heut könnt´s schon sein
es wär nochmal so fein
es wär nochmal so still
dass sich garnichts rühren will
Titel: Re:Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Sintram in 19 Januar 2011, 11:07:20
Manche Menschen tragen ihre Kindernamen durchs Leben,
für andere sind sie eine schöne Erinnerung.

Meiner lautete:
Hundsbua misarabliga Malefiz varregda

In der Tat ein Ehrentitel.
Man muss sich seine Wortmelodie mal auf der Zunge zergehen lassen.
Aber nicht stolpern!
Titel: Re:Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Phönixherz in 23 September 2012, 21:20:39
http://www.youtube.com/watch?v=6oTzXOG1lO4
http://www.youtube.com/watch?v=q3eextYYTqU&feature=relmfu
" Dialektpresse"
Titel: Re:Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Epines in 24 September 2012, 12:01:35
Hallo lieber Sintram und Mitlesende

@Trauerherz, schön dass du diesen Thread wieder belebt hast.

Viele Worte die früher alltäglich im Gebrauch waren, sind aus was für Gründen auch immer, ins abwertend Negative gerutscht.
Z.B. Weiber, Weibervolk, oder Freier.
Erst neulich habe ich mich mit jemandem über das Wort "Freier" unterhalten. Ein Freier war  jemand der verliebt auf Brautschau war und um eine Herzens-Damen freite, also sie liebevoll umwarb und irgendwann um ihre Hand anhielt. Sozusagen ein Bewerber um die Gunst einer Frau, die er zu ehelichen gedachte.

Heute assoziiert man bei uns (Schweiz) einen Freier als einen Mann der sich in Striptease-Lokalen lümmelt, oder Prostituierte besucht, vom süßen weben keine Spur mehr. Ein Konsument also der für Liebesdienste bezahlt.

Auch "Weib" wird heute häufig als abschätzend betrachtet, obwohl es früher schlichtweg für "Frau" stand. Meist wird Weib ja nicht nur als einzelnes Wort verwendet, sondern  mit anderen negativen behafteten Ausdrücken wie:" Dummes Weib, blöde Weiber, affektierte Weiber, arrogante Weiber, geldgeile Weiber, eingebildete Weiber, stressige Weiber, schmuddelige Weiber, Weiberpack u.s.w.".   

Na ja nur ein paar Gedanken die mir dazu gerade durch den Kopf gingen.

Schönen Tag euch allen
Epines
Titel: Re:Dialekt & Linguistik
Beitrag von: nubis in 24 September 2012, 13:29:34

wo ich das grade lese: ich hatte letztens zu meinem Freund gesagt, mein Motorrad 'läuft wie en Döppke' ....seine Antwort: 'ich nehme mal an, dass das was positives ist?' ;-D

Das ist eines der Fälle, wo ich die rheinische Mundart angenommen habe, ohne es überhaupt zu merken: hier weiß schließlich jeder, was gemeint ist: Döppke ist ein kleiner Kreisel - eine Maschine läuft also rund / zuverlässig / sehr gut :-)



Titel: Re:Dialekt & Linguistik
Beitrag von: Siny in 24 September 2012, 15:24:50
Schon faszinierend wie sich ganze Wörter je nach Region unterscheiden, bzw. was für Synonyme es so gibt.^^ Von Dialekten allerdings bin ich ziemlich "abgeturnt". ;-)