Nur Ruhe - Selbsthilfeportal über Depressionen und Selbstmord

Allgemeines Nur-Ruhe Forum => Gedichte => Thema gestartet von: Sintram am 01 November 2016, 10:57:20

Titel: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 01 November 2016, 10:57:20

Wer durch das Tal des Todes reitet, sucht nicht nach der Quelle des Lebens.

Weit jenseits der Wüste schwelt die Asche einer verbrannten Welt, die glimmenden Trümmer abgefackelter Brücken baumeln über dem Abgrund. Von Gräbern gesäumt ist die Hufspur seines Ritts und jedes hat ein Gesicht, notdürftig zu Kreuzen zusammen geflochtene Stöcke ragen aus den schlichten Steinhaufen, Zeugnis nicht nur zerborstener Träume und erloschener Hoffnung, sondern geraubter Wirklichkeit und erstickten Lebens. Sein Gleichmut ist die bittersüße Frucht erkannter Ausweglosigkeit, seine Gelassenheit die stille Tochter ohnmächtigen Zorns, seine Freiheit die gewonnene Leichtigkeit zerronnener Sinneslast. In der Ruhe völliger Erschöpfung liegt seine Kraft, bleierne Müdigkeit hält ihn hellwach, dumpfe Trägheit schärft ihm die Sinne. Die letzten Vorräte sind aufgebraucht, das Wasser in der Fellflasche geht zur Neige, tropfenweise beträufelt er seine Zunge mit dem lebenserhaltenden Nass, er wird seinem dürstenden Pferd den Gnadenschuss geben, ehe es zu leiden beginnt. Der Gedanke daran ist das Einzige, was ihn quält, gefasst reitet er, zum Zerrbild verschoben in der flimmernden Luft.

Er ist auf der Suche nach dem, dessen Namen das Tal trägt.

Der lauert gut versteckt in jeder Felsnische, unter jedem Stein, im Hohlraum jedes toten Holzes. Giftiger und todbringender ist die Tierwelt im Death Valley als anderswo. Wenig Beute, spärlich zerstreutes Wild nur füllt die hungrigen Mägen der Jäger, zu erschöpfend ist die Glut der Hitze für eine Verfolgung, es bedarf des rasch lähmenden Bisses oder Stichs, um den gnadenlosen Überlebenskampf zu bestehen. Die Schuppenhaut der Klapperschlange ist hart wie ein Panzer, sie trägt Hörner auf dem Kopf wie ein feuerspeiender Drache, ihre Stoßzähne geifern länger und größer als die ihrer Schwestern in lebensfreundlicheren Regionen, ihr Gift wirkt gründlicher und schneller und kann auch Menschen den Tod bringen. Die träge Krustenechse sammelt tödlichen Speichel in ihrem dicht gezahnten Maul, blitzschnell kommt sie aus ihrem Versteck geschossen und beißt zu mit aller Kraft, die Wunde wird im Nu zur pochenden Beule und zum schwärenden Mal des herbeieilenden Todes. Selbst der schwarze Skorpion birgt eine geballte Ladung an giftigen Säften in seinem Stachel, die Schwellung entzündet, beginnt zu eitern und vergiftet das Blut.

Ausdauernd und geduldig sind die räudig ausgemergelten Kojoten, die ihn auf dem Hügelkamm begleiten, in Sichtweite flankieren sie seinen Ritt, doch unerreichbar für jede Kugel. Die kreisenden Geier sparen ihre Kräfte, nur kurz schwingen sie sich in die flirrende Luft, um den Reiter unter sich mit gierigem Auge zu orten, dann fliegen sie ihm voran und warten im Baumgerippe, verborgen im Schatten einer Felsnase auf seinen Hufschlag, mit gefächerten Flügeln und offenen Schnäbeln wie zerrupfte böse Geister. Bleichende Knochen all überall bezeugen das feinsäuberliche Werk ihrer krummen Schnäbel. Die Sonne ist ein stechend heißer Zündholzkopf mitten im Gesicht, sie trinkt den Schweiß, noch ehe er durch das Hemd gedrungen ist und dörrt die glühende Haut zu einer klebrigen Dattelschale. Kreise tanzen vor den entzündeten Augen des Todgeweihten, sein hechelnder Atem siedet dampfend aus den Nasenlöchern, mühsam und stockend schlägt das Herz in seiner Brust, sein Blut gerinnt zu kochendem Tomatenfleisch, die Knochen ächzen wie zundertrockenes Brennholz. Die Sonne hat ihr Spinnennetz ausgespannt und den Reiter umsponnen, noch ehe er sich dessen gewahr geworden ist.

Laut der Wünschelrutengänger soll es tief unterm Grund des Death Valley einen unterirdischen See geben, in dem sogar kleine Fische leben, mag ja sein, nur macht mir dieses Wissen das Verdursten auf der knochentrockenen Piste drüber auch nicht gerade leichter. Durchs Todestal führt mich mein Ritt, wo mir vertraute Gefahren auflauern, die keine Lüge kennen und keine Arglist, die Ehrlichkeit des Überlebenskampfes meine schwärenden Wunden leckt, die Reinheit des täglichen Ringens meine müde Seele labt. Die Natur gibt allem Leben eine Chance, der Mensch nur sich selbst.

Eine Lawine aus Totenschädeln kommt scheppernd den Canyon runtergerollt.

Sicher, nur ein Traumgesicht, ein gespenstisches Schreckensbild, doch die rollenden Totenköpfe erschrecken mich nicht, ich habe keinerlei Furcht und Bedenken, dass sie mich unter sich begraben könnten, im Gegenteil, sie sind mir nahe und vertraut, das ist es, was mich wirklich daran erschreckt. Das Schädelmeer klappert zu nahe an der Wirklichkeit, um mir noch Schrecken einjagen zu können, denn die Wirklichkeit erschreckt mich nicht mehr, das mag traurig sein, ist aber nun mal wahr. Einer der Schädel kullert klappernd vor Infinis Hufe und grinst mich hämisch an.

„Ey, Desperado, bist du zum Sterben gekommen? Dürfte schwierig sein für einen, der schon lange tot ist.“

„Um so besser“, knurr ich, „dann fällt's mir erst gar nicht auf.“

Kann nicht sagen, ob da wirklich ein menschliches Gerippe in der Sonne bleichte, ich dreh mich nicht danach um. Der Weg hinter dir ist ohne Belang, es zählt nur der, den du noch vor dir hast. Das Death Valley in acht Tagen zu durchqueren kommt einem Höllenritt gleich. Dich länger drin aufzuhalten hingegen einem Selbstmord. Vielleicht liegt es daran, dass jeder zerborstene Stein, jeder verkrüppelte Kaktus, jeder gebleichte Tierschädel dir zuruft: Du kommst hier nicht mehr raus! Jedoch beim zweiten Mal schon weißt du, dass sie lügen und dir nur Angst machen wollen, beim dritten Mal hörst du gar nicht mehr hin, beim vierten Mal murren sie nur noch: „Du schon wieder“. Wer sonst? Traut sich ja keiner außer mir.

„Ich danke euch, Freunde, ich danke euch allen. Ich lass es euch wissen, wenn mir eingefallen ist wofür.“

„Mit wem sprichst du eigentlich?“, säuselt der heiße Wind.

„Na, mit wem schon? Mit dir. Wie sagt man doch - in den Wind gesprochen.“

Im Tal des Todes schieben die Geister der Verirrten und elend darin Umgekommenen große Steine über den Boden, um ihre sterblichen Überreste damit zu kennzeichnen, nur hat so ein durchsichtiger Geist erhebliche Probleme mit der Beeinflussung von Feststofflichkeit, und wenn es ihm gelingt, den Brocken in mühsamer Nachtschinderei einen Millimeter von der Stelle zu bewegen, hat er eine gewaltige Leistung vollbracht. Weshalb die Sache eine geraume Weile dauert, und dass der Stein sich überhaupt bewegt, kann der Vorbeireitende lediglich der langen Schleifspur entnehmen, die er auf seiner unendlich langsamen Reise hinterlassen hat. Eines Tages schließlich sind die Gebeine der Toten vom Wind zu Staub zerrieben, von Aasfressern in alle Himmelrichtungen verstreut, von der Gluthitze zu Pulver zerborsten und auf Nimmerwiedersehen unter Sanddühnen begraben, die arme Seele kann ihr eigenes Grab nicht mehr finden und lässt ihren Stein traurig liegen wo er grade liegt, bis eine nächste kommt, sein vergebliches Werk fortsetzt, ebenso ergebnislos weiterschiebt und so weiter, weshalb die wandernden Steinbrocken bisweilen beachtliche Strecken zurücklegen.

Noch viele andere Wunder und Rätsel gibt es im Todestal und nirgendwo sonst zu entdecken, dennoch bin ich jedes mal froh, wenn ich seine tiefe Senke lebend hinter mich gebracht habe. Es gab allerdings auch Zeiten, in denen ich mich wochenlang drin herumtrieb, in denen mir sein abweisendes Gesicht vertrauter war als das der erbarmungslosen Welt da draußen, mir sein Karst das Gefühl von Geborgenheit schenkte und seine Feindseligkeit mir Sicherheit verlieh. Keine Wüste ist zu vergleichen mit der des Death Valley, jede andere mag dir was vorflunkern und dich narren, die Mojave Desert verkündet dir die nackte Wahrheit. Und dennoch schläft verborgenes Leben in ihrem totgeglaubten Schoß. Übern Daumen alle zehn Jahre schauen Regenwolken vorbei und ergießen alles, was sie an Wasser mit sich führen, in ihren staubtrockenen Grund. Dann erstrahlt die Ödnis in bunter Blütenpracht von überwältigender Fülle und unwirklicher Schönheit. So lange haben die Samen der Wüstenblumen ausgeharrt und so lange haben sie die Dürre überlebt. Wie lachhaft verschwindend ist da mein Durchhaltevermögen.

Kreisende Geier.

In der Wüste ist der Tod alltägliche Gegenwart. Das Sterben findet nicht im Verborgenen statt, nicht an abgeschiedenen Orten, nicht in stillen Winkeln, sondern im weiten Feld der Ebene, nackt und schutzlos preisgegeben. Die pralle Sonne wird zur Sterbehelferin, brennt unerbittlich den letzten Lebenshauch aus den danieder Liegenden, die endlich zusammengebrochen sind und ergeben auf den Tod warten. Nachdem sie sich tagelang durch die Hitze schleppten, dem Wasserloch zu, das mit jedem ihrer zitternden Schritte in weitere Ferne rückte. Man gewöhnt sich nie an diesen Anblick. Zu erbarmungswürdig, zu elendiglich, zu grausam ist seine Gnadenlosigkeit, um ihn gleichmütig zur Seite schieben zu können. Näherst du dich jedoch einer dieser bemitleidenswerten Kreaturen, sammelt sie ihre letzten Kräfte, rafft sich auf und macht sich davon, Angst flackert in ihren fiebrigen Augen, und selbst wenn sie wenige Meter weiter endgültig niederfällt, fleht ihr Blick um Gnade und darum, einfach in Ruhe gelassen zu werden. Ihren letzten Funken Würde und Freiheit hinübertragen zu dürfen in die unendlichen Weiten der Milchstraße. Haben sie ihre letzte Reise erst einmal angetreten, verschmähen die Todgeweihten sogar das Wasser, das du in ihren vertrockneten Mund zu träufeln versuchst. Die letzte Schwelle ist bereits überschritten, es gibt kein Zurück mehr, weil kein Wille mehr dafür vorhanden ist. Die Qual ihrer Wunden, Krankheiten oder Altersgebrechen ist so übermächtig geworden, dass nichts mehr sie dazu bewegen kann, dieselbe erneut auf sich zu nehmen. Sie sterben mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit und Ruhe.

Ein Fressen für die Geier. Unter Geiern - ich reite mein Lebtag unter Geiern, wenn mal ein Tag vergeht, an dem ich keinen gesichtet habe hoch über mir am Himmel, scheint mir die Sierra entvölkert. Fliegen können wie ein Geier, das wär's doch, mich auf breiten Schwingen vom Aufwind davontragen lassen, hinauf segeln in unerreichte Höhen ohne die geringste Müh, unvorstellbare Strecken weit über die endlose Wüste schweben und gleiten, ohne müde zu werden dabei, was wollte man sich da noch wünschen? Ein fettes Aas zur rechten Zeit vielleicht, aber davon gibt's immer genug. Die Geier warten schon, und das tun sie wirklich, warten. Potthässlich wie die Nacht finster, die nackten Köpfe mit Schnäbeln bestückt, die den stärksten Beinknochen brechen können, die Füße mit Klauen bewehrt, die dir das Fleisch von den selben reißen könnten, so hocken sie stumm in den Bäumen, ängstlich, fast schüchtern, und beäugen das tote Pekari, das einsam und verlassen in der nackten Ebene herumliegt. Nicht die Spur einer Gefahr ist zu erkennen weit und breit, keine zugehörige Rotte, kein Puma, keine Kojoten, kein Garnichts, die schwarzen Geier aber warten. Ob das tote Wildschwein wirklich richtig tot ist oder vielleicht doch noch ein bisschen leben könnte? Mit Pekaris ist nicht zu spaßen, sie verteidigen ihre Ferkelchen auf Leben und Tod, auch verletzte Sippenmitglieder lassen sie nicht zurück und greifen furchtlos den gefährlichsten Jäger an. Aber Truthahn- und Rabengeier warten auch, wenn sie der Duft von weniger wehrhaftem Aas zum Verzehr einlädt. Ich habe keine Ahnung, worauf. Es können Stunden vergehen, ehe sich der Erste mit mächtigen Schwingen erhebt und in gebührendem Abstand zur leblosen Beute niederlässt, wo er vorsichtig herumstakst und eine behutsame Weile zögert, ehe er sich zu einem hastigen Bissen überwinden kann und mit einem rettenden Luftsprung  in Sicherheit bringt. Doch kaum baumelt ein Stück Fleisch oder Sehne in seinem Schnabel, beginnt es in den Bäumen rundum zu rauschen, der Pulk schwingt sich geschlossen von den Ästen und kommt schnurstracks angeflogen, um sich elegant herabzusenken und um den Kadaver zu scharen, und alsbald fangen die dunklen Gesellen mit den üblichen Raufereien an um die besten Stücke, dass die Federn nur so fliegen und obwohl genug für alle da ist, das gehört sich so bei ihnen. Der Gedanke, einmal als Geierfutter zu enden, hat nichts Erschreckendes für mich. Genug Freude haben sie mir bereitet mit ihrer unvergleichlich erhabenen Flugkunst, ihnen diesen Happen zu gönnen, denn für ein Festmahl würd's sowieso nicht reichen. Mancher hält sich einen Papagei, mir würde ein zahmer Geier vollauf genügen, dass er nichts nachplappern kann, heißt noch lange nicht, dass er weniger clever ist.

Was ist der Mensch im Vergleich zum Geier doch für ein schwerfälliges Kriechtier? Well, Schwester Krötenechse, mach dich flach wie eine Flunder und stell dich tot wie ein Gerippe, versprühe deine Tränen wie Giftpfeile, die Welt ist voller Verräter, sie verraten sich selbst, noch ehe sie wissen, wer sie sind, und alles dazu, noch bevor sie etwas gefunden haben, woran sie glauben könnten, und als Verräter sterben sie unter schrecklichen Qualen. Die schwarzen Geier, die ihr Sterbebett umringen, werden keinen Augenblick zögern, sie in Stücke zu reißen und sich um die fettesten Happen zu prügeln, während sie gemessenen Schritts hinter der Totenkutsche einherschreiten mit gefasster Trauermiene. Ein guter Tag, sagen die geschirrten Rappen zueinander, der Karren ist leicht zu ziehen und es gibt reichlich Hafer.

Im spärlichen Strohgras nördlich der Salton Sea, was für ein hochtrabender Name, ist sie doch nur eine versalzene Pfütze im Vergleich zum großen Salzsee, however, jedenfalls liegt da eine wunderschöne Weißwedelhindin vor mir im Gras, ich seh sie erst, als Infini unmittelbar vor ihr zum Stehen kommt. Dass die Arme mausetot ist, daran besteht nicht der geringste Zweifel, woran sie allerdings gestorben ist, kann ich nicht erkennen, nirgendwo klafft eine sichtbare Wunde, selbst an den Nüstern klebt kein Blut, kein Bruch hat ihre schlanken Beine geknickt, weder ist sie abgemagert noch ihr Fell struppig, äußerlich völlig unversehrt liegt sie da mit weit geöffneten Augen. Und während ich sie verwundert betrachte, reißt über mir der Nebel auf, der milchig über den spärlichen Flussläufen liegt, die das kleine Salzmeer speisen ohne es mit Leben füllen zu können, ein Sonnenstrahl fällt auf den von Tau benetzten Körper, bringt ihn zum Leuchten und sein Fell zum Glitzern, bricht sich in einem der tiefschwarz erloschenen Augen und füllt die starre Pupille mit Lebenslicht. Und da blickt nicht nur sie mich an, die tote Hirschkuh, die nicht mehr blicken kann, sondern die Sonne daselbst und mit dem Licht des zu mir umgeleiteten Sonnenstrahls der, der sie in den Himmel gesetzt hat und der das Licht ist, durch ein zum Leben erwecktes Auge schaut er mir hinein ins Herz und bis auf seinen tiefsten Grund.

Das mag jetzt so hochtrabend klingen wie der Name der eitlen Salzpfütze, aber so spielen sich die Gottesbegegnungen in der Wüste nun mal ab, wo's ja weit und breit keine Kirche oder so was in der Art gibt, deren Holzsteinbauten indessen in der schroffen Landschaft überhaupt nicht fehlen, ja sogar völlig überflüssig wären, was ganz einfach daran liegt, dass die ganze endlos weite Wüste so eine Art Gotteshaus ist. Ein gewaltiger Tempel mit mächtigen Steinsäulen und Gebirgswänden von Horizont zu Horizont, dem Firmament als Gewölbe und dem Himmel als Dach, dem Himmelszelt, über das rauschende Flüsse ziehen in Wolkengestalt, zwar selten, aber immerhin, die Sonne erhellt und wärmt den Raum wie eine große Feuerstelle, durch eine Öffnung leuchtet das Licht des Mondes herein und nachts funkeln die Sterne von der Decke. Und weil diese Kathedrale oder wie auch immer eben nicht von Menschenhand errichtet ist, sondern vom Schöpfer daselbst und höchstpersönlich, der bei den Indianervölkern mindestens ebenso viele Namen haben dürfte wie sein Widersacher mit der Vielzahl der seinen prahlt, sind die Säulen und Wände und Wolken und Berge und Steine und Flüsse und Bäume und Sträucher von seinem Geist beseelt und lebendige Wesen, durch die er zu seinen Menschenkindern zu sprechen beliebt, und die Tiergeschwister sowieso. Das irgendwem verständlich rüber zu bringen ist mir schon seit langem viel zu mühsam, das Gesicht des Pastors möchte ich mal sehen, dem ich da erzähle, dass mir Gott ins Herz geschaut hat durch das Auge einer toten Hirschkuh, ein Dyin oder Schamane würde zwar grinsen dazu und sagen „na, das will ich lieber mal gar nicht wissen, was er da zu sehen bekommen hat“, aber daran zweifeln würde er keinen Augenblick. Weil er selbst schon Ähnliches erlebt hat nicht nur einmal, aber erklär das mal jemandem, der nicht in der Wüste lebt.



Buchanfang: Ga'an Desperado - Der Federhut (Suchmaschine ;-)
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 18 November 2016, 12:43:47

Well, frei ist der Wind, er weht wo und wie, wohin und woher er will, aber manchmal kann das auch lästig sein.

Ich habe die Bilder der Sterne vergessen und die Spur der Planeten verloren. Der Himmel ist verschlossen. Ein dichter Mantel aus grauer Asche hat sich über das Firmament gewölbt. Die Sonne ist fahl und blass wie ein schmutziges Brillenglas, nur spärlich dringt ihr Licht durch den unheimlichen Nebel. Die Wälder brennen. Seit Tagen schon, oder sind es Wochen? Arizona steht in Flammen. Inzwischen frisst sich die Feuersbrunst unaufhaltsam nach Mexiko hinein. Eine zähe feine Schicht aus kalter Asche bedeckt die Erde, den Boden, die Steine, Felsen, Berge, Bäume und Häuser, macht ihre Fenster blind und dringt durch die Ritzen und Spalten der Türen. Präriehund und Erdhörnchen bleiben in ihren Bauten, die Eule hat ihren ausgehöhlten Kaktus seit Tagen nicht verlassen, der Wüstenfuchs schläft zusammengerollt in den Felsenburgen, die Kojoten schütteln unwillig ihr Fell, mit schniefender Nase und hängendem Schweif ziehen sie ihre Fährte durch den grauen Sand, der Rennkuckuck putzt sich mit emsigem Schnabel unermüdlich das verklebte Gefieder, die reglose Klapperschlange harrt aus unter ihrem mit Asche beschichteten Stein, selbst der Skorpion hat sich verkrochen. Das Leben geht weiter, sagt man, doch die Zeit steht still. Schicksalsergeben und wie gelähmt wartet alles darauf, dass der Wind sich dreht.

Infini hat sich in einen Grauschimmel verwandelt und ich mich in ein Gespenst. Abgestandener beißender Brandgeruch hat sich tief in meinen Nasenlöchern eingenistet, die Haare sind zu steifen Strähnen verhärtet, fader bitterer Geschmack benetzt mir Lippen und Zunge, nebliger Schleier trübt meine Pupillen zwischen verkrusteten Wimpern an geschwollenen Lidern. Das Schlimmste was dem Menschen passieren kann ist erstarrte Gegenwart, die Vergangenheit ist erledigt und begraben, die Zukunft ungewiss wie das Auftauchen einer Küste am Horizont des endlosen Meeres, das Heute und Hier wird zur unerträglichen Ewigkeit. Das sollte mich beunruhigen, zumindest beschäftigen, aber das tut es nicht.

Das Leben ist ein Meer aus Asche und der Mensch ein blinder Wurm, der sich ummantelt von verbrannter Zeit durch trübe Düsternis schlängelt und windet. Selbst dem Vergessen preisgegeben, taucht er durch die Täler des Vergangenen und hofft auf das Kommende, während der weiße Sand seiner Uhr unerbittlich durch die schmale Röhre rieselt, sich die untere Glasglocke erbarmungslos füllt und die obere mit furchterregender Geschwindigkeit leert. So zerrinnt unbemerkt seine kleine Lebensspanne, ohne dass er seine Hand dazwischen schieben kann und die schwindende Gegenwart durch seine Finger gleiten lassen, um wenigstens ein einziges Körnchen davon auffangen und festhalten zu können. Und weil das nun mal so ist, geht auch jede noch so dicke Aschenwolke vorüber, zieht vorbei und löst sich in Nichts auf, verschwindet als hätte es sie nie gegeben. So wie das Astgerippe des mächtigen Baumes vor mir, den schon vor Jahren ein Blitzschlag fällte und bis auf den Strunk verschmorte, so wie die gedrungenen Bauten niedergebrannter Hogans, die wie ein Mahnmal den Wegrand säumen, so wie die dahinziehende kleine Planwagenkolonne, die bei einem wilden Navajo-Überfall vor Gezeiten unter einem Regen aus Brandpfeilen in Flammen aufging. Im Mantel wandernder Asche erwacht alles Verbrannte für kurze Zeit zum Leben, ohne lebendig zu sein, wie das Schwarzweißbild einer Fotografie taucht es in unscharfe Grautöne gegossen aus dem verschwommenen Nichts und verschwindet spurlos in demselben ohne den leisesten Laut.

Ebenso geräuschlos nähert sich der graue Reiter, in wallenden weiten Mantel gehüllt, eine Zipfelmützen-förmige Kapuze über den Kopf gezogen, deren Schatten sein schmales Gesicht verbirgt, auf ausgemergelt knöchernem Klepper, dem die fahle Haut in Fetzen von den mageren Schenkeln hängt. In seiner Rechten, die mit blassgelb spindeldürren Fingern den wurmstichigen Stiel umfasst, schimmert eine scharfe Klinge aus dem rostzerfressenen Stahl einer geschwungenen Sense. Bis auf wenige Meter kommt er heran, zügelt seinen schäumenden Gaul mit roher Gewalt, modriger Geruch eilt ihm voraus, faulig süßlicher Verwesungsgestank schlägt mir entgegen, Infini schüttelt angewidert seine Mähne und verharrt reglos mitten im Schritt, während zwei leblose in den Rund tiefer Höhlen gesunkene und dennoch seltsam funkelnde Augen aus dem Schwarz der Kapuze schillern wie kalte Edelsteine. Hoch aufgerichtet hockt die konturlose Gestalt in seinem von Schimmel überwucherten Sattel, die Sense wie eine Lanze erhoben, und starrt uns schweigend an.

„Na“, dringt schließlich eine dünne Stimme ohne Klang und Melodie aus unergründlich körperloser Tiefe, „wie sieht's aus, Lust mit mir zu kommen?“

Ich betrachte den schrägen Vogel eine Weile, ehe ich antworte. Sein Umhang ist löchrig und mottenzerfressen, an den Enden zerfleddert und eingerissen, das brüchige Leder seiner Stiefel stülpt sich über verbogene Steigbügel, die mit Flechten bemalt an ausgefransten Bändern baumeln, die Fasern seines aufgelösten Zaumzeugs hängen wie Haarbüschel von den eingefallenen Lippen seines Pferdes, hinter denen gelbliche Zähne wie dürre Holzspäne aus vertrocknetem Zahnfleisch ragen. Und der Bursche stinkt wie ein offenes Grab, weiß der Teufel wann der zum letzten Mal ein Bad gesehen hat.

„Wo soll’s denn hingehen?“ frage ich schließlich der Neugier halber.

„Dorthin, wo nichts mehr wehtut, dich nichts mehr rührt und nichts mehr deine Ruhe stört“ kommt es tonlos zurück.

„Bisschen wenig, was meinst du? Klingt ziemlich eintönig, wenn ich das mal so sagen darf.“

Der Kerl gefällt mir nicht, überhaupt nicht. Ein leichter Windstoß fährt in den verschlissenen Saum seiner Kapuze und gibt für einen kurzen Moment den Blick auf seine Kinnlade und seinen Mund frei, der keiner mehr ist, sondern nur noch ein grinsendes Gebiss in knochigen Kiefern.

„Gut“, sag ich schließlich,“ ich komme mit, aber nur, wenn du mir vorher was vorpfeifst, von mir aus das Lied vom Tod, irgendwas Eingängiges eben, eine schlichte kleine Melodie.“

Der seltsame Reiter zuckt sichtlich zusammen. Er stockt eine kleine Weile reglos wie ein aufgestellter Besenstiel, dann kommen ein paar seltsame Laute aus der Gegend seines verborgenen Gesichts, die nicht einmal wie ein festes Blasen klingen, sondern eher wie ein kläglich wimmerndes, kaum hörbares Säuseln, abgerundet und beendet mit widerlichem Zähneknirschen. Dabei bleibt es, mit wütendem Zerren reißt er seine Mähre herum und macht sich aus der Asche, verschwindet lautlos im grauen Zwielicht wie eine flüchtige Windhose.

Es ist schon eigentümlich, was für Spinner einem in der Wüste so alles über den Weg laufen.

Ein Leben am Abgrund ist nicht jedermanns Sache.

Was Wunder, welcher vernünftige Mensch baut sich hier schon ein Haus, lässt da seine Kinder spielen oder seine Schafe weiden. Kaum eine Gegend ist so zuverlässig menschenleer wie dieser Landstrich ehemaliger Uferstreifen, der sich wie eine gewaltige Schlange durchs Land zieht. Wohl zählen die Havasupai, die seit Menschengedenken tief unten in ihrem Bauch leben und in den wenigen bewohnbaren Flecken ihre Lager haben, auch den Karst hier oben zu ihrer angestammten Heimat, aber in diesem unwirtlich blanken Niemandsland bekommst du so gut wie nie einen der Ihren zu Gesicht. Was sollen sie auch damit?

Niemandsland. Seltsam eigentlich, dass ich ihm hier noch nie begegnet bin, dem Nobody, dem Mann, der sich Niemand nennt. Ein pfiffiger Vogel, von Berufs wegen Kunstschütze, der schießt die Flamme aus der Kerze, ohne dass die einen Kratzer abbekommt,  ja sich auch nur bewegt, und das in atemberaubender Geschwindigkeit. Ruhm und Ruf eilen ihm voraus, wo immer er auftaucht, sogar Revolverhelden und Banditen fürchten seine Schießkunst und erstarren bei seinem Anblick zur Salzsäule, so viel ich weiß, musste er darob noch nie einen Mann erschießen, beneidenswert. Wir sind nicht miteinander in die Schule gegangen, denn der Bursche hat eine Schattenseite, nun, eine solche haben alle Menschen, aber die seine behagt mir nicht so besonders. Ich möchte ihn deshalb jetzt nicht gleich einen Spitzel nennen, aber die Sheriffs scheinen ihn alle gut zu kennen, von denen hörst du immer „Niemand hat was gehört oder gesehen, Niemand will dir was sagen, wie immer weiß Niemand Bescheid“.

Wohingegen alle für gewöhnlich Nichts gesehen haben, ich bin nie so recht dahintergekommen, in welchem Verhältnis und ob der unvorsichtige Kerl überhaupt in einem steht zu Niemand, wohl werden die Beiden oft in einem Atemzug genannt, Nichts und Niemand, was aber nichts heißen muss, das ist auch so mit Tod und Teufel, und obwohl man diese Zwei manchmal wirklich nur schwer voneinander unterscheiden kann, sind sie doch Zweierlei und haben nicht zwingend etwas miteinander zu tun. Sei wie es sei, hier oben ist nichts und niemand zu sehen, die einzige Menschenseele, der ich am Abgrund über den Weg reite, bin ich selber. Da kann es dann auch schon mal vorkommen, dass ich mich an der gegenüberliegenden Kante erspähe und mal eben die Seiten wechsle, es ist immer gut, die Dinge aus der entgegengesetzten Perspektive zu betrachten, und weil ich hier sowieso der Einzige bin weit und breit, bin ich es auch ganz allein, der damit klarkommen muss, was mir denn auch keinerlei Mühe bereitet. Wär ich hier mit einer Gruppe unterwegs, gäb's sofort jede Menge Ärger, da wäre ich ein abtrünniger Überläufer und Verräter, urplötzlich zum gefährlichen Feind geworden und zum entschiedenen Gegner, die haben da alle einen Knick in der Optik, diese Gruppen, der Rand des Canyon ist gleichzeitig auch ihr Tellerrand, über den sie nie hinaus schauen. Auch einer der Gründe, weshalb ich seit ewigen Zeiten allein reite, vor mir selbst muss ich mich nicht erklären und werde von mir nicht angefeindet wegen einer Lappalie, die nicht einmal eine ist.

Der alte Geier, der über mir kreist, wundert sich. Neugierig schielt er herunter. Passiert ja auch nicht alle Tage, dass Einer versonnen auf dem Bauch am Boden liegt, den Kopf über den Abgrund geschoben, Steine in die Tiefe fallen lässt und diesen nachschaut, bis sie weit unten zum Liegen kommen, dort, wo der alte Fluss sich wie eine noch ältere Schlange durch den kargen Boden windet.

Stein für Stein für Stein für Stein.

Faszinierend, wie sie im Fallen gegen die Schwerkraft anzukämpfen versuchen, jedes Mal wenn sie gegen die Steilwand klatschen in hohem Bogen hinausgeschleudert werden, als wollten sie sich in die Lüfte erheben, nach oben zurück segeln an ihren gewohnten Platz, wo sie seit Ewigkeiten in der glühenden Sonne ausharrten. Doch unerbittlich zieht sie die Schwerkraft nach unten, eine Umkehr gibt es nicht im freien Fall. Erst wenn sie im Ufergeröll des Flusses landen und nach kurzem Auspurzeln zum Ruhen kommen, merken sie, dass dieser neue Aufenthaltsort nicht besser oder schlechter ist als der vorherige, nur einfach anders. Manche schaffen es sogar bis in die Fluten, wo sie platschend verschluckt werden, um wirbelnd auf den Grund hinunter zu sinken in ein feuchtes „Woanders“, ein nasses und prickelnd kühles Anderswo.

So ist es mit den Hoffnungslosen.

Ist es eine schlechte Nachricht, den Steinen zu sagen, dass das Dasein dort unten nicht schlechter ist als das hier oben? Nur eben verändert und nicht mehr wie zuvor? Dafür aber neu, zwar überschattet, aber bei weitem nicht lebensunwert? Früher oder später straft die Verwitterung die Stimme der Hoffnung Lügen, die da den Steinen, die am Rande des Abgrunds driften, zuruft: Haltet euch gut fest, so werdet ihr nicht fallen! Der nächste Regen, der die Wüste in einen Paradiesgarten blühender Pracht verwandelt, wird sie nach unten spülen, ebenso diejenigen von ihnen, die unterwegs auf einem Felsvorsprung zum liegen kamen und seitdem posaunen: Seht her, wir haben es geschafft! Ist nun die gute Botschaft, die da tröstend beschwichtigend im Grunde zur Notlüge greift, wirklich besser als die schlechte, die zwar bedrohlich und entmutigend klingen mag, dafür aber sagt, was Sache ist und die Wahrheit spricht? Es erfüllt sich das Sprichwort vom Wicked Messenger:  „Wenn du keine gute Nachricht hast für uns, dann bring uns lieber gar keine“. Die schlechte Neuigkeit muss die frohe vertrieben haben, und ob das wirklich stimmt oder einfach nur eine Zufallsbegegnung steten Kommen und Gehens war, danach fragt keiner mehr. Es muss einfach so gewesen sein. Vermutlich hat es damit zu tun, dass die weitaus überwiegende Mehrheit der Steine ein Dasein in Bewegungslosigkeit gewohnt ist, was zwangsläufig einen beschränkten Horizont mit sich bringt.

Der Rabe ist ein großer Lehrmeister der Lebenskunst.

Sein Dasein ist pure Lebenslust, kopfüber stürzt er sich in den Abgrund, dreht sich um die eigene Achse, schießt wieder nach oben, zieht Kreise und schlägt Räder, zu zweit und zu dritt im Einklang gleichförmiger Bewegungen, und haben ihn die akrobatischen Kunststücke und atemberaubenden Kapriolen müde gemacht, die er mit Seinesgleichen in der windbewegten Luft vollführt, steht er mit ausgebreiteten Flügeln reglos über der Tiefe und späht umher, bevor er sich auf der höchsten Zinne niederlässt und sein Reich überschaut. Bald hat er den Fischadler ausgemacht, der im Sturzflug in die Fluten hinabsticht mit ausgefahrenen Klauen und einen zappelnden Brocken aus dem Wasser zerrt. Seelenruhig wartet er ab, bis sich der erfolgreiche Jäger auf einem Felsen einen guten Platz gesucht hat, um dort ungestört seine Beute zu verspeisen, und schon schwingt er sich zu ihm hinab, schießt wie ein Pfeil auf den Überraschten hinunter und stößt ihn mit dem bloßen Luftdruck seiner Flügel von der gedeckten Tafel. Ist aber der Fischadler erst einmal zum Fliegen gezwungen, hat er gegen die Wendigkeit und Schnelligkeit des etwa gleichgroßen Raben nicht den Hauch einer Chance, mag er auch ein kühner Flieger sein, der Luftkampf ist alsbald zu dessen Gunsten entschieden und der um seinen Fang Geprellte macht sich notgedrungen auf, einen neuen zu machen. Der Rabe aber kehrt hochzufrieden zum wartenden Fisch zurück und lässt es sich schmecken. Allein gegen den kalifornischen Kondor mit einer Flügelspannweite von gut drei Metern kommt auch er nicht an, wenn dieser sich in Scharen am Aas eines Dickhornschafs gütlich tut, doch lässt er es sich nicht nehmen, die streitenden Nacktköpfe zu nerven und zu ärgern, lauernd um sie herumzuhüpfen, sie an den Schwanzfedern zu zupfen und bei ihrem Festmahl daran zu erinnern, wer eigentlich der wahre König des Grand Canyon ist.

Groß ist der Canyon und unüberwindlich.

Den großen Graben hat der rauschende Fluss dort unten in den Fels gegraben. Wäre er versiegt, könnte man auf dem Grund nicht überleben, im Sommer staut sich die Hitze zwischen den zusammenrückenden Wänden wie in einer Backstube, und es ist ein wahrer Segen, dass die zügig fließenden Wasser erstaunlich kühl bleiben und lebensrettend erfrischend, nach der ersten Überwindung willst du sie an den geeigneten Stellen gar nicht mehr verlassen und bleibst bis an den Hals drin stehen oder hocken, bis deine Hände und Füße taub sind und du mit den Zähnen klapperst. Kaum draußen bist du noch nicht trocken und schon wieder schweißgebadet. Hier oben weht immer ein angenehmer Wind, doch so weit er deinen Ruf auch tragen mag, wie soll jemand auf der anderen Seite des Abgrunds denen auf der einen verständlich machen, wie er da hinüber gekommen ist, wenn er es selbst nicht so genau sagen kann? Er weiß lediglich, dass er drüben ist und sie hüben geblieben, und das genügt ihm vollauf, um sie zu lassen wo sie sind und das neue weite Land zu erkunden. Mit aller Zeit der Welt. In der Wüste gibt es keinen Unterschied zwischen einer Minute und einer Ewigkeit. Die glückliche alte Sonne zieht ihre Bahnen und erledigt, worauf du keinen Einfluss hast, dein Zeitgefühl geht indessen nicht verloren, es verändert sich, du bist nicht mehr Sklave der Stunden, sondern ihr Herr, ja, du allein bist der Herr der Zeit. Vom Greis zum Kind kannst du werden und umgekehrt im selben Atemzug, Zeitloch und Zeitsprung sind dir vertraute Begleiter, du kannst die Zeit anhalten und überspringen frei nach Belieben, und du kannst sie verlassen, wann immer du willst. Ein Augenblick kann eine Ewigkeit währen und ein paar Jahre zur Sekunde schrumpfen, Quelle und Mündung sind ein und dasselbe im ewigen Zeitstrom der nagenden Fluten dort unten, die niemals die selben sind und doch immer die gleichen.

Nur für den, der Fronten und Zäune zieht oder Grenzmauern baut, wird der Seitenwechsel zum Verrat an sich selbst, für mich ist er simple Bewegung und stete Veränderung, ohne dass sich dadurch etwas ändert, hüben ist drüben und drüben ist hüben. Ich bin wie die Luft, die das Diesseits mit dem Jenseits verknüpft, und mag's auch manchmal eine dicke sein, atmen tun sie alle. Grade eben noch lag ich träumend am Abgrund und ließ Steine in die Tiefe fallen, einen nach dem andern, vergaß Zeit und Raum, mein ganzes Leben zog in lebendigen Bildern an mir vorbei, das Leben eines andern. Nun, da ich mich erhoben habe, finde ich mich mir selbst gegenüber wieder, mein Gaul äst in meinem Rücken auf grünen Auen, die ich nie zuvor gesehen, und wo ich kauerte, bleibt mein feuchter Abdruck eine kleine Weile haften und verpufft in der Sonnenglut, als wäre ich nie gewesen. Ob ich wie ein Stein in die Tiefe geschossen bin oder wie ein Blatt getaumelt, wie ein Schmetterling wieder nach oben gaukelte oder wie eine Eidechse die Steilwand hochkletterte, ob ich auf den Schwingen eines Adlers hinüber glitt oder auf Infinis fliegendem Rücken schwebte, auf dem Regenbogen geritten bin oder mit den Wolken des Morgennebels geflogen, vermutlich alles zusammen oder hintereinander - vielleicht jeweils nur ein Teil von mir, bis ich in meiner Gesamtheit drüben im Hüben angekommen war - alles was ich weiß ist, dass es kein Zurück mehr gibt. Der große Canyon trennt zwei Welten ohne Wiederkehr, gleichgültig an welchem Rand seiner Uferschlucht ich mich jeweils befinde, keine steinerne Regenbogenbrücke verbindet die urzeitlichen Ufer, er ist unüberwindlich wie der Abgrund zwischen dem armen Lazarus und dem reichen Prasser. Keine Fingerspitze wird einen Wassertropfen an eine dürstende Zunge führen können, wenn der Brunnen einmal versiegt ist und der Desperado das rettende Nass aus den Kakteen pressen wird, wie die Indianer es ihn gelehrt haben.

Dann mögen die Steine schreien.

Hier unten sind die Steine stumm. Staunen verwundert, dass ihr Dasein wider Erwarten weitergeht, sogar ganz friedlich und erträglich. Das Rauschen des Flusses, das von den Wänden widerhallt, während weit oben der Sandsturm über die Spalte heult, durch die ansonsten ein ferner Himmel späht, beruhigt ihr angeschlagenes Gemüt. Feiner Tröpfchennebel kühlt mein müdes Gesicht. Das behutsame Hufgetrappel meines schlendernden Pferdes ist kaum zu hören, hier unten spricht nur das ewig fließende Wasser, das fröhlich über Felsen und Klippen springt und sich verspielt über selbst angestaute und gebaute Dämme in schäumende Tiefe fallen lässt. Die beperlten Moose auf den Ufersteinen, die girlandenförmigen wurzellosen Flechten an den feuchten Felswänden, die seltsamen Blüten der Nachtschattengewächse, die urzeitlich bizarren Fischchen, die augenlosen Krebstierchen im glasklaren Wasser, die Wucherungen der Muschelkolonien an den wenigen Plätzen, in die sich um die Mittagszeit ein paar Sonnenstrahlen verirren - sie alle fragen nicht, wie es da oben aussehen könnte, ob es dort heller ist, schöner, wärmer und abwechslungsreicher, sie sind hier im klammen Halbdunkel zuhause und fühlen sich pudelwohl und genau am rechten Ort.

Und ich und mein Pferd, wir tun es ihnen gleich. Mein Pferd trottet nicht, es schlendert. Es passt sich dem Herumstromern meiner Gedankengänge an, ihr Rhythmus überträgt sich auf seine Gangart. Wir sind miteinander verwachsen. Ich tauge nicht zum Itancan. Weder ist mein Pferd eine Herde noch bin ich ihr Leithengst, das Gefühl der Sicherheit trägt es in sich auch ohne meine Führung, die eingeschlagene Richtung ist so beliebig wie die Wege des Windes es sind. Mag sein, dass wir zu zweit eine Art Herde bilden, aber nicht die gebräuchliche Zweierherde aus Reiter und Pferd, in der Erster das Sagen hat, sondern eine, in der sich Beide aufeinander verlassen und ansonsten jeder tut, was er will. Mein Pferd braucht keine Herde und folglich auch keinen Leithengst, und ich fordere von meinem Pferd nicht ein, was ich selber nie tun würde - nach jemandes Pfeife zu tanzen. Unser Verhältnis ist ein gegenseitiges und der Umgang miteinander entsprechend lässig. Wir sind ein gleichberechtigtes Duo, in dem der eine weiß, was er am andern hat, weil keiner von Beiden alleine kann. Ist zwar reines Wunschdenken von mir und vollkommener Quatsch, der Boss bin ich, ob ich nun will oder nicht, ganz einfach weil's mein Pferd so will, und es fragt mich nicht nach meiner Meinung. Aber grade weil es die Macht hat über mich, mir Dinge abzuverlangen, die mir zuwider sind, ich ihm also sagen muss, wo's lang geht, um dem Herdling die nötige Sicherheit zu geben und ihn zufrieden zu stellen, befinden wir uns dann doch wieder auf Augenhöhe. So läuft das, was will man machen?

Wie ich so schnell von weit oben nach ganz unten gekommen bin?

Nichts leichter als das, ja geradezu kinderleicht. Wer lange genug in den Abgrund schaut, in den schaut der Abgrund, so tief in einen hinein, bis er sich - quasi kopfüber - in den Betrachter hineinstürzt bis auf seinen untersten Grund. Und schon bin ich da. Alter Indianertrick. Wenn du vor einer Mauer ohne Tür stehst, musst du selbst zur Tür werden und durch dich hindurchgehen. Wenn dich ein schwarzes Loch - was immer das sein soll - zu verschlingen droht, musst du selbst zum schwarzen Loch werden, zu Antimaterie, wie der alte Chinese sie nennt, der's wiederum von Fanda gehört hat, die sich selbst nicht schlucken kann. Bevor du in den Abgrund fällst, musst du den Abgrund in dich fallen lassen, in einer Art Umkehrung der Erdanziehungskraft deinen Sturz verhindern, indem du die Erde anziehst und in dich stürzen lässt. Kinderleicht, man muss es nur wissen. Sicher, wenn du nicht hinunter sausen willst wie ein Stein, dann mach dich zur Feder. Auch eine Möglichkeit, kostet weniger Kraft, dauert dafür etwas länger, und ich wollte einfach nur so schnell wie möglich nach unten. Wie ich wieder raus komme von hier? Immer gemütlich stromabwärts, bis der Canyon niedriger wird und breiter, seine Uferschluchten zu sanften Hügeln schrumpfen, schließlich ganz verschwinden und den Blick in das weite Tal freigeben, durch das der glitzernde Fluss mäandert. Aber das hat Zeit, viel Zeit. Locker Zeit genug, um ein Handbuch für Geisterreiter zu schreiben. Ich werde mich hüten, am Schluss wimmelt es plötzlich von Möchtegerns hier unten am Fluss watership down wie von Kaninchen. Als sich oben mexikanische, spanische und Unionstruppen gegenseitig die Köpfe vom Rumpf schossen und schlugen, die Wüstenluft geschwängert war von Blei und der rissige Boden gierig Blutströme trank, war ich die meiste Zeit hier in der ruhigen Tiefe. 

Ich bin doch nicht verrückt.

Die Gesteinsschichten hier unten im Grund des Grand Canyon sollen aus grauer Vorzeit stammen - das verkünden jedenfalls die Forscher -, in der es noch nicht einmal Pflanzen geschweige denn Tiere gab auf Erden, mag ja sein, deshalb sind sie auch nicht weniger schroff und abweisend als die ganz oben, wo der Abgrund gähnend in die Tiefe stürzt, und diese wiederum um nichts weniger fantastisch und überwältigend anzuschauen als ihre Brüder und Schwestern ganz unten. Die Gesteinsleser wollen außerdem wissen, dass die Zeitspanne der Menschheitsgeschichte in der unermüdlichen Spül- Wühl- und Schleifarbeit des alten Colorado durch sein steinernes Bett grade mal an einer Handbreit seitdem gewonnener Tiefe abgemessen werden kann - oder so ähnlich, die Kerle sprechen ihre eigene Sprache -, das allerdings wundert mich mitnichten, mal sehen, ob der Fluss noch eine zweite Handbreite durchs Urgestein schafft, bevor die Menschheit vom Erdball verschwunden ist. Zu den Anfängen des Lebens hinab gedrungen, vielmehr zurückgekehrt ist sie auf diesem Wasserwege ja bereits.

Also könnte der Kreis ebenso gut geschlossen werden.

Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Ina am 18 November 2016, 22:37:57
Lieber Sintram,

mein Eindruck in lapidarer Kürze zusammengefasst: Du hast es einfach drauf! ;)

Wirklich ganz toll geschrieben. Ich lese Deine Geschichten (und Gedichte) immer gern und schätze die enorme Gedankenfülle und Tiefsinnigkeit, die sich darin widerspiegeln, sehr. Nur mangelt es mir leider manchmal an Konzentration, weshalb ich immer wieder Pausen einlegen muss und nicht alles in einem Rutsch lesen kann. :-/
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 21 November 2016, 11:35:24
Danke Dir, liebe InaDiva! :-)

Tut richtig gut! Das mit der Konzentration beim Lesen längerer Texte ist mir nur allzu vertraut. Weshalb ich denn auch eine Weile verstreichen lasse, ehe ich das anschließende Kapitel einstelle, damit ein jedes mit den nötigen Unterbrechungen in Ruhe zu Ende gelesen werden kann, bevor etwas Neues nachkommt. Selbst fällt mir das Lesen meiner eigenen Texte nur deshalb leichter, weil ich sie selber geschrieben habe und sozusagen kenne, bei Unbekanntem habe auch ich die üblichen Konzentrationsprobleme, mein Hirn schaltet einfach ab, ohne mich zu fragen. Zum Glück, muss ich sagen, hab ich in meinem "vorherigen" Leben so viel gelesen, dass es noch für hundert Jahre reichen würde. ;-))

Herzliche Grüße
Sintram



Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 23 November 2016, 16:24:01
Pueblo Träume


Apache wie Navajo, Hopi wie Zuni, alle meiden diesen Ort.

Er sei Wohnstatt der Geister, sagen sie. Und mit den Geistern sei nicht zu scherzen. Wenn man Veilchenschwalben und Präriefalken, Käuzchen und Kaktuseulen, Grashüpfermäuse und Känguruhratten, Hirschmäuse und Taschenratten, Fuchshörnchen und Felsenziesel, Colorado Chipmunks und den schlauen Kitfuchs als Gespenst ansehen will, mag das wohl stimmen. Dann wimmelt es von kleinen Geistern im Gemäuer. Stetes Rascheln und Knabbern, Huschen und Piepsen belebt die Stille der Nacht.

Niemand weiß, weshalb die Ureinwohner in grauer Vergangenheit ihr Pueblo verlassen haben. Majestätisch in den Fels gebaut kündet es vom Ruhm versunkener Tage. Und ist zugleich geheimnisumwittertes Zeugnis der Vergänglichkeit. Trocknete anhaltende Dürre den Fluss aus und ließ ihn versiegen, oder brachte ihn schwerer Regen so sehr zum Anschwellen, dass er die mühsam angesammelte Erde von ihren Feldern schwemmte? Raffte eine Seuche sie hinweg oder trieb sie ein feindlicher Angriff in die Flucht? Oder wurde es ihnen einfach nur langweilig in ihrer Felsenburg, und sie brachen auf zu neuen Ufern? Jedenfalls gaben sie ihren stolzen Horst irgendwann auf und überließen ihn dem Verfall. Und das Reich der wilden Tiere ließ nicht lange auf sich warten. Die Wüste lebt. Was für ein prächtiger Bau voller Kammern, Winkel, Erker, Ecken, Gänge und Nischen! Nistplatz, Höhle, Fluchtweg, Wetterschutz, Versteck und Schlafplatz in einem. Was will man mehr als Bewohner der Wüste?

Kein Wunder also, wenn ein müder Desperado in seinen Ruinen Quartier bezieht.

Mein Pferd watet vom Sattel befreit durch die kühlenden Fluten, die hier an dieser seltsamen Verbreiterung des Tales friedlich und in Kniehöhe über schillerndes Gestein plätschern. Hie und da ragen ein paar verwilderte Maisstauden aus dem kargen Boden, allerlei Wüstenblumen recken ihre Köpfe in die Sonne, Schmetterlinge gaukeln über ihnen, Vögel suchen den Schatten verkrüppelter Stauden, Schlangen sonnen sich behaglich auf abgeflachten Steinen, Skorpione krabbeln umtriebig herum, Eidechsen huschen in bergende Ritzen, gepanzerte Käfer klettern träge durchs Geröll - ein Ort voller Harmonie und Frieden.

Wer hier Geister fürchtet, ist selbst schuld.

Nicht, dass es sie nicht gäbe. In Neumondnächten tanzen sie in furchteinflößenden Masken und bis an die Knöchel mit Maiskolben behangen um ein loderndes Feuer, trommeln auf Schildkrötenpanzer, rasseln mit getrockneten Früchten, flöten durch hohle Knochen und singen, was eine Geisterstimme eben so hergibt an Klangfülle infolge nicht mehr vorhandenen Resonanzkörpers. Klingt aber trotzdem sehr lebendig, das Spektakel. Auf jeden Fall nicht furchterregend, sondern durchaus unterhaltsam. Ein Hopi mag es anders empfinden, schließlich tanzen hier die Geister seiner Urahnen, da mag einen schon respektvolles Grauen überkommen. Aber für mich als bleichgesichtigen Eindringling und dennoch geduldeten Gast bedeutet es schlimmstenfalls eine durchwachte Nacht. Mitfeiern kann ich leider nicht, die Gestalten verschwinden im Nu, wenn sich einer aus dem Land der Lebenden zu ihnen gesellt, und das wäre nicht nur unhöflich, sondern jammerschade. Aber ich bin mir sicher, dass sie um meine Anwesenheit wissen, in warme Decken gehüllt in meiner Kammer, und mein verstohlener Blick durch einen der Sichtschlitze scheint sie nicht zu stören. Und ich störe mich nicht an ihrer Gegenwart, wie käme ich dazu, das hier ist schließlich ihre Wohnstatt. „Der-bei-den-Geistern-schläft“, „Der-die-Geister-nicht-fürchtet“, „Geisterschläfer“, „Geisterträumer“, „Den-die-Geister-verschonen“...  jeder Stamm hat seinen eigenen Namen für mich gefunden, denn so was spricht sich in einem Dorf wie der Wüste selbstredend schnell herum. Manche sagen, es läge daran, weil ich selbst ein Geist bin. Meinetwegen, vielleicht sind sie damit gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt.

Ich sollte doch mal versuchen, mit ihnen zu tanzen.

Wer weiß, ob ich es nicht schon getan habe? Dass mir der gemeinsame Tanz vorgekommen ist wie ein lebhafter, verrückter Traum, den ich am nächsten Morgen vollständig vergessen hatte?

Klar, die seltsamen Namen, die mir durch den Kopf geistern, könnte ich auch bei den Hopi, Zuni oder Pima aufgefangen haben. „Ho-ho-kahm“ gaben die Pima den ersten Missionaren zur Antwort, als diese sie staunend nach der Herkunft der fantastischen Ruinen des Casa Grande befragten, was lediglich bedeutet „lange gegangen“, seitdem nennen die Altertumsforscher das verschwundene Volk eben Hohokam. Sinagua wird ein anderes geheißen, „ohne Wasser“, weil diese Leute wahre Meister der „trockenen Landwirtschaft“ gewesen sein sollen, das überwältigende Monument des Montezuma Castle bei Camp Verde zeugt von ihren großartigen architektonischen Fähigkeiten. Und die Menschen der Chacoan Kultur errichteten sage und schreibe vierzehn Städte im Chaco Canyon, bevor sie wie die anderen Anasazi auf rätselhaft unerklärliche Weise spurlos verschwanden. Wo ich aber nun Namensnennungen wie Wukoki oder Wupatki aufgeschnappt haben soll, ist mir schlicht ein Rätsel, niemand außer mir scheint diese Bezeichnungen zu kennen oder je von ihnen gehört zu haben.

Vermutlich hat sie mir der Wind zugeflüstert, der nachts durch die Ritzen und Risse der verwaisten Bauten weht.

Bis vor wenigen Jahren schlief ich, wenn ich mich in New Mexiko herumtrieb, mit Vorliebe in einem verlassenen Pueblo, das sich in einer weiträumigen Nische unter das Dach der vorspringenden Felswand schmiegt und an Schönheit und Erhabenheit kaum zu überbieten ist. Neben zwei Türmen habe ich über zweihundert Räume gezählt, sieben davon rund und zum Teil fast hallengroß, wenn auch mit eingestürzten Dächern in den oberen Etagen, außerdem gute zwanzig Kivas, die unterirdischen Zeremonialräume mit einem kleinen Loch im Boden, dem Sipapu, das sie Öffnung symbolisiert, aus dem die Menschen einst aus der Unterwelt gestiegen kamen ans Licht der gegenwärtigen. Überall standen noch Werkzeuge rum und allerlei Gerätschaften, sogar Geschirr, als hätten bis gestern Leute hier gelebt, da dürften schon um die zweihundert davon Platz gehabt haben, eher mehr. Diese Mischung aus Dorf und Festung war zudem ein ideales Versteck, doch vor kurzem haben sie auch diesen meinen geheimen Schlupfwinkel entdeckt und sind seitdem unermüdlich dabei, seine Gebäude auszubuddeln und freizulegen, das Pueblo war nämlich derart von Gestrüpp überwuchert, dass nichts mehr zu sehen war von seinen verschachtelten Mauern. Klippenpalast nennen die Geschichtsforscher das architektonische Wunder, das trifft es ganz gut.

Mein jetziges Pueblo ist klein, beschaulich und gemütlich. Es gibt auch sehr viel imposantere Bauten in den Canyons, auf den Mesas und weiten Ebenen des Südwestens, etwa Te-uat-ha, das früher Tua hieß und neuerdings Taos genannt wird, ein riesiges Pueblo beidseitig des Taos Creek mit sechsstöckigen Häusern, von dem fast nur noch die große Mauer steht, die es umgab, nachdem die Spanier es vollständig niedergebrannt hatten, außerdem das Dreigestirn von Mishongnovi, Shipaulovi und Shongopavi, und nicht zuletzt Walpi, nur durch eine steile Treppe zu erreichen, abenteuerlich in eine enge Felsspalte geschlagen. Nach der Zerstörung ihrer Dörfer in Shi'wona, der fruchtbaren Ebene am Zuni Fluss, zogen sich die Zuni, die sich selbst A'shivi nennen, "Fleisch", auf ein Hochplateau im Schutz ihres heiligen Berges Towaylane zurück, wo sie noch heute leben. Montezumas Castle nannten die weißen Entdecker die beeindruckende Trutzburg, die die Sinagua in der Steilwand des Verde Valley in den Fels gebaut haben wie ein Schwalbennest, über dreißig Meter über dem Talgrund und fünf Stockwerke hoch, eine Burg ist das Pueblo allemal, wie sie freilich auf Montezuma gekommen sind, müsste man wohl die spanischen Konquistadoren fragen.

Ein blutroter Himmel hatte den Aztekenherrscher vor deren Ankunft gewarnt, im Jahr der Rückkehr Quetzalcoatls, der Gefiederten Schlange, in dem laut einer Prophezeiung „die Könige ihre Macht verlieren“ werden. Als Cortes genau in diesem unheilschwangeren Jahr aus Osten angesegelt kommt, der Himmelsrichtung also, in die ihre große Gottheit einst entschwunden war warum auch immer, verhält sich der großmächtige Aztekenkönig dem Konquistadoren und seinen grade mal vierhundert Soldaten gegenüber wie das Kaninchen vor der Schlange, mit geradezu übertriebener Gastfreundlichkeit will er wohl das Schicksal überlisten, indem er die vorhergesagten Ankömmlinge und Vollstrecker seiner Entmachtung zu besänftigen sucht. Was sich Cortez gern gefallen lässt, um Montezuma bei passender Gelegenheit, auf die er mit der Geduld des Arglistigen wartet, gefangen zu nehmen - inmitten seines Gefolges und von tausenden Kriegern umgeben.

Der blondgelockte Alvarado, den die Azteken deshalb auch „Sonnengott“ nennen, vergnügt sich beim alljährlichen Hochfest der Azteken inzwischen auf seine Weise, nachdem seine Männer die jungen Teilnehmer dazu „angehalten“ hatten, unbewaffnet zu den Feierlichkeiten zu erscheinen, denen er selbst als Ehrengast beiwohnt.

„Und so geschah es, als sie die Feier begingen; der Tanz hatte bereits begonnen, es wurde schon gesungen, schon verwob sich ein Lied mit dem nächsten, und der Gesang hallte wider den Wogen, die sich brachen; in diesem günstigen Augenblick aber beschlossen die Spanier, die Menschen zu töten. Sie erschienen plötzlich in voller Kriegskleidung; sie kamen, um die Ausgänge zu verschließen, die Tore, die Gänge; und als dies geschehen war, stürzten sie in den heiligen Hof, um die Menschen zu töten. Schnell hatten sie die Tanzenden umringt; dann stürzten sie zwischen den Trommeln umher. Sie schlugen nach dem Trommler und hackten ihm beide Hände ab; dann hackten sie ihm den Kopf ab, der fiel weit zu Boden. Dann durchstießen sie die Menschen mit eisernen Speeren und hiebten mit eisernen Schwertern auf sie ein. Manche schlitzten sie von hinten auf, die stürzten dann zu Boden, mit heraushängenden Eingeweiden, und wenn diese vergeblich versuchten zu fliehen, schleppten sie nur ihre Eingeweide hinter sich her und verwickelten ihre Füße darin. Sie konnten nirgendwo hin fliehen. Diejenigen, die es versuchten, wurden am Tor abgestochen und niedergemacht. Doch manche überwanden die Mauern. Andere lagen zwischen den Toten und konnten durch Verstellung entkommen, doch sahen sie auch nur einen atmen, wurde er sofort abgestochen. Das Blut strömte wie Wasser, wie schleimiges Wasser; der Gestank des Blutes erfüllte die Luft, und die Eingeweide schienen wie von allein dahinzugleiten. Und die Spanier gingen überall hin, durchsuchten die öffentlichen Gebäude, stachen mit ihren Waffen zu... „

Na, dann frohe Ostern, nicht unbedingt als Lektüre zum Einschlafen geeignet, dieser grauenhafte Codex Florentinus, weiß gar nicht mehr, wo genau ich den her habe, ist ja auch nicht so wichtig. 

Wohl können die Azteken im Aufstand der „Noche Triste“, der Traurigen Nacht, in der auch Montezuma ums Leben kommt, die Spanier erst einmal vertreiben, doch folgen Cortez die Pocken auf dem Fuß, eingeschleppt von den schwarzen Sklaven eines weiteren Konquistadoren, die sogar untereinander Krieg führen in ihrer unersättlichen Habgier. Das Sterben ist groß unter den Azteken, und als der gedemütigte Cortez schon im darauffolgenden Jahr wiederkommt, diesmal mit der Verstärkung von abertausenden Indianern, die sich im Verbund mit den Spaniern eine Befreiung aus der Knechtschaft und von der Tyrannei der Gottgleichen erhoffen, hat Montezumas Nachfolger seine Krieger auf „Sieg oder Tod“ eingeschworen. Da es ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit ist, gegen diese erdrückende Übermacht zu siegen, kämpfen diese eben bis auf den letzten Mann und der bis zum letzten Atemzug, und das volle fünfundachtzig Tage lang. Dann freilich sind hundertsiebzehntausend Azteken niedergemacht, will man den Angaben des siegreichen Cortez Glauben schenken, ist ja auch egal, denn es waren der gefallenen Verteidiger Tenochtitlans schlicht und ergreifend alle. Bis heute sollen ihre Geister in den Slums von Mexiko City herumspuken. Man sollte also vielmehr dort Geister fürchten als an diesem friedlichen Ort.

Gute Nacht.

Ich sitz auf einer Anhöhe und schau auf das Land im Canyon hinab, alles ist grün und voller Wald, dazwischen reift der Mais in fetten Kolben auf den Feldern, das Pueblo ruht im Schatten einiger ausladender Bäume, der Fluss glitzert in der Sonne.

„Schön habt ihr's hier“, sag ich zu der Frau neben mir, die mit weißen, zu einem langen Zopf geflochtenen Haaren in einem strahlend weißen, mit maisgelben Stickereien verzierten Kleid neben mir auf dem Grasboden kauert mit angezogenen Beinen, um die sie ihre Arme schlingt, das alterslose Gesicht halb mir zugewandt, ohne mich anzusehen. „Ja, so wunderschön war unser Tal“... sie seufzt mit hörbarer Traurigkeit, „bevor wir alle Bäume gerodet hatten für größere Felder und den Bau unserer Häuser, bevor der Regen all die fruchtbare Erde in den Fluss spülte und eine nackte Wüste zurückgelassen hat, so dass keine Bäume mehr nachwachsen konnten und nicht einmal mehr der Mais, bevor der große Hunger in unsere Dörfer kam“.

„Hm“, sag ich zu ihr, „da seid ihr nicht die Ersten, denen es so geht und sicher nicht die Letzten, die es so machen, die Weißen hauen die Wälder all überall weg wie nichts, es ist ein Trauerspiel und eine Schande, ein Verbrechen ist das. Ihr wart ihnen da nur ein Stück voraus, das ist ja die Krux, dass die Vorfahren den Nachkommen voraus sind und immer sein werden, und was auch immer die Urenkel versuchen, sie werden die Ahnen niemals einholen können, die ja ihren Weg schon abgeschlossen haben und hinter sich gebracht im Gegensatz zu ihnen. Die Zeit läuft rückwärts, weißt du, von Anbeginn an, jede neue Generation versucht aufs neue, die vorherige zu überholen, oder wenigstens einzuholen, und weil die Lebenden insgeheim wissen, dass sie das niemals schaffen werden, nämlich die Verstorbenen einholen, machen sie die Altvorderen eben einfach runter und tönen, dass die es nicht besser gewusst haben und alles falsch gemacht, was man da falsch machen kann und dass sie es dafür alles besser machen werden jetzt für die nachkommende Generation, die dann wieder genau dasselbe sagt von ihnen. Und ohne es zu merken, machen sie alles immer nur noch schlimmer und schlimmer. Anstatt aus den Fehlern ihrer Vorgänger zu lernen, machen sie das genaue Gegenteil und versuchen, noch größere Fehler zu machen und sie wenigstens auf diesem Wege zu übertreffen. Und wenn sie dann eines Tages alle Wälder abgeholzt haben und die ganze Erde zur Wüste gemacht, dann sagen sie verdattert, jetzt haben wir diesen alten Fehler doch tatsächlich nochmal gemacht, aber wenigstens haben wir die Allerersten eingeholt, die damit angefangen haben.“

Die Frau hat mir aufmerksam zugehört und seufzt erneut tief, diesmal ergeben, „da kommt schon mal einer aus dem Land der Lebenden zu uns“, meint sie irgendwie verzweifelt, „der uns in seine Träume lässt und mit uns spricht, dem wir etwas Wichtiges zu sagen hätten, und dann...“

„Was dann?“, frag ich ein klein wenig missmutig.

„Dann hat der alle und alles und jedes so weit hinter sich gelassen, dass er außer Rufweite geraten ist und ihn niemand mehr versteht, selbst dann nicht, wenn er den Nachfolgenden etwas nach hinten rufen würde.“

„Das ist auch der Grund, weshalb ich das erst gar nicht mehr versuche“, murmle ich schlaftrunken und dreh mich auf die andere Seite.



Titel: Der Federhut
Beitrag von: Sintram am 30 November 2016, 12:24:03
Der Vulkanstein


Versuche die atemberaubende Schönheit und überwältigende Erhabenheit des Grand Canyon mit Worten auszudrücken, und du wirst zum lächerlichen Schwätzer. Also versuch auch ich es nicht, egal ob ich nun ein solcher bin oder nicht, er lässt sich ganz einfach nicht beschreiben. Sein Anblick lässt dich mit der festen Überzeugung zurück, die abfließenden Wasser der Sintflut seien hier zu einem gewaltigen Strom zusammengelaufen und hätten die Erde zweigeteilt bis hinunter auf ihren brodelnden Grund, um die entfesselten Lavamassen erstarren zu lassen mit der Urgewalt einer bis an die Wolken reichenden Woge, die sich brüllend und donnernd durch den ewigen Fels grub, der fortgeschwemmt wurde wie butterweicher Sand und zu Staub zermalmt weit ins Meer hinausgetragen.

Sein tiefes Flusstal, das die Grenze bildet zwischen dem großen Becken und der zerklüfteten Weite des Südwestens, zählen auch die Stämme des Kojotenvaters noch zu ihren Jagdgründen, dort befindet sich ihr wichtigstes Heiligtum. Wenige Meilen bevor der Colorado sich in einem rauschenden und stäubenden Wasserfall in die Tiefe stürzt, umspülen seine Fluten seit Urzeiten einen in die Sohle der ungeheuerlichen und überwältigenden Rinne des gewaltigen Flussbettes gebetteten gigantischen Vulkanbrocken, wie es keinen zweiten seinesgleichen gibt in der gesamtem Länge der unermesslichen Canyonschlucht. Warum der da rumliegt und woher er gekommen ist, weiß niemand zu sagen, er lag da schon immer und unendlich lange Zeiten vor den ersten Beutelwichten. Man darf den Vulkanstein ohne Umschweife als bedeutende indianische Pilgerstätte bezeichnen, in seiner nächsten Umgebung finden sich einige Opferhöhlen, in denen Pilgergruppen ihre Mitbringsel hinterlassen können, meist in Form von Tabak und Kräutern, es gibt etliche Schwitzhütten für das reinigende und vorbereitende Schweißbaden, aus den Canyonwänden sprudeln mineralische Heilquellen für innen und außen, Leib und Seele, zum Trinken ebenso geeignet wie zu heilbringenden Waschungen, das uralte Gestein birgt seltene kostbare Mineralfarbstoffe zum Zwecke ritueller Bemalungen sowie der Schaffung sakraler Bildnisse, und noch viel anderes mir unbekanntes mehr an geheimnisvollen Dingen umflort und heiligt den magischen Ort.

Ein törichtes Bleichgesicht, das diese Kultstätte durch sein frevelhaftes Betreten entweiht, es wird auf der Stelle mit dem Todesbann belegt und für alle Zeit und Ewigkeit verflucht, oder, was noch besser ist, sicherheitshalber gleich an Ort und Stelle umgebracht. Mein Ritt durch den Canyon führt mich aber nun mal an dem unantastbaren Koloss vorbei, und weil Infini den faszinierenden Klumpen natürlich nicht einfach links liegen lassen kann, ohne wie ein Dickhornschaf seinen Gipfel zu erstürmen und von hoch oben herab das überwältigende Panorama des Canyons zu genießen, finde ich mich flugs auf dessen Kuppe wieder, bevor es mir noch richtig klar geworden ist.

Nun ist der hochheilige Gipfel für gewöhnlich der bevorzugte Platz überirdischer, von den Geistern auserwählter Wölfe, die auf dieser Bühne ihr unvergleichliches Lied über das ganze Land erklingen lassen als Gruß und Botschaft von ganz oben, zudem eignet er sich hervorragend zum Aussichtspunkt für den heiligen Adler, den mächtigen Boten der Geister der Verstorbenen und aller lebendigen Seelen, kurzum, der Gipfel ist als beeindruckendes Podium den verehrten Zwischenweltwesen tierischer Gestalt vorbehalten. Als nun entsetzte Pilgergruppen und verwirrte Schamanen, vom aufgeregten Kläffen meines Begleitrudels immerfort hungriger Kojoten - vom jenseitigen Ufer herüber - unüberhörbar darauf aufmerksam gemacht, den einsamen Reiter an heiliger Stätte erblicken, ist das fassungslose Staunen groß. Ich werde ihrer Anwesenheit erst jetzt gewahr, da sie sich mit offenen Mündern am Fuß des Vulkanbrockens zusammenscharen, einige Männer gestikulieren aufgeregt, fuchteln wild mit den Armen herum, und der Tonfall ihrer Stimmen bereitet mir wachsendes Unbehagen, der mir in meiner hervorgehobenen Position ordentlich mulmig wird.

Reglos stumm verharre ich und blicke ratlos auf die zu mir herauf starrende Menschenmenge hinunter, deren zornige Erregung langsam sprachloser Verwunderung zu weichen scheint, da der Frevler auch nach einer geraumen Weile nicht vom Zorn des großen Geistes oder seiner vergeistigten tierischen Abordnungen hinab gefegt wird, ja sein Vorhandensein im Gegenteil eindeutig bekundet durch die offensichtliche Verehrung eines stattlichen Kojotenrudels, das unermüdlich zu ihm hinauf wimmert und ihm mit seinem artüblichen Unterwerfungsgebaren zu huldigen scheint. Und so deuten die Medizinmänner und Träumer diese unwirklich anmutenden Begleiterscheinungen vermutlich als Zeichen seiner außerordentlichen Sonderstellung als Bleichgesicht in der Welt des großen Kojoten, als unleugbaren Beleg seiner Erwählung durch ihren Urvater und dessen Freundschaft zu ihm, und den blassgesichtigen Reiter selbst als eine Art adlergleichen Botschafter aus der verhassten Welt der Weißen, jedenfalls winken mich einige der führenden Gestalten ihrer Gilde ganz offenkundig zu sich hinab.

Meine ahnungslosen Beteuerungen nach schadlos überstandenem Abstieg, mehr oder weniger zufällig dort oben gelandet zu sein, weil ich den Veilchenschwalben in die Nester schauen wollte, die hier in Schwärmen in den Felswänden nisten, hindern sie zu meiner großen Überraschung nicht daran, mir mit allen Ehren freies Geleit und bevorzugte Behandlung zu versprechen und auch fürderhin zu gewährleisten, ein durchaus erstrebenswertes Entgegenkommen, und Indianer stehen im Gegensatz zu Weißen zu ihrem Wort. Allerdings lassen die nicht zu übersehenden Lachfalten der geistlichen Männer sowie das heitere Blitzgewitter in ihren schauenden Augen auch eine andere, sehr viel naheliegendere und schlüssigere Erklärung zu für meine Schonung und Sanktionierung. In der geistigen Welt sowohl der Stämme des großen Beckens als auch der des Südwestens ist das weite Land von einem dichten Netz spiritueller Ströme durchzogen. Der Vulkanstein ist eine der Schaltstellen, ein Knotenpunkt, an dem diese unsichtbaren Kräfte zusammenlaufen wie die Drähte in einer Telegraphenstation. Was den einen die südliche Grenze ist, ist den andern die nördliche, das Gebiet der Navajo zum Beispiel zieht sich weit ins Tal der Monumente hinein, der Grand Canyon ist also nicht nur unüberwindliche Schlucht und Barriere, sondern ebenso oder besser vielmehr mystische Brücke und Verbindung zwischen Nord und Süd. Die Gedankenströme der Schamanen aller Stämme sind hier sozusagen angeschlossen, ihre geistigen Drähte laufen zusammen und wieder auseinander, denn im Gegensatz zu manchen Häuptlingen sind die Träumer und Sänger zuallermeist um Ausgleich und Verständigung unter den zum Teil traditionell „verfeindeten“ Gruppierungen bemüht.

Die Seher der Havasupai nun dürften lange, bevor ich an ihrem Heiligtum auftauchte, gewusst haben, dass ich komme, ebenso wurde ihnen auf unerklärliche Weise gesagt, dass es sich bei dem einsamen Desperado um jenen Vom-Großen-Geheimnis-Berührten handelt, von dem ihnen die südlichen Präriestämme bereits Kunde gebracht haben, insofern war ihr Wohlwollen so überraschend nicht. Mag die wahre Bedeutung des Namens auch eine etwas andere sein, als man es vielleicht annehmen möchte, kommt sie dafür der Wahrheit sehr viel näher. Wie dem auch sei, diese geheimnisvollen Männer wissen immer über alles Bescheid, was so abläuft im riesigen Lande der Halbwüsten, Steppen, Flusstäler, Gebirge und Wüsten. Es war ihnen also längst zu Ohren gekommen, dass ich gerne im Pueblo der Geister nächtige, das selbst spirituell erfahrene Männer wie sie es sind geflissentlich meiden, dass mein gelber Gaul über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen soll, über die eines Geisterpferdes nämlich, dass ich zumindest  leiblich unversehrt durch den großen Präriekrieg geritten sei, dass Cochise, der große Kriegshäuptling der Chiricahua, mich persönlich kennen würde und nicht nur verschont hätte, sondern sogar ein paar Worte mit mir gewechselt, dass ich einige Zeit bei den Shoshone und Kiowa Apache gelebt haben soll, ja vermutlich wissen sie von Dingen über mich, von denen ich selbst nichts weiß.

Und es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn die heiligen Männer da schon wussten, dass ich mich eines schönen Tages mit einer Shoshone Squaw im Tal des kleinen Colorado niederlassen würde. Am Rand der bemalten Wüste, die diesen Namen nicht nur wegen der musterreich farbenfrohen Maserung ihres Gesteins trägt, aufgrund des wechselnden Farbenspiels der Felsgebilde von grellorange bis türkisblau je nach Sonnenstand, Wetterlage und Jahreszeit, sondern weil sich an ihren Wänden rätselhafte Malereien finden von den Urahnen der gesungenen Vorzeit. Nicht zuletzt aber ist den Medizinmännern aller Wahrscheinlichkeit nach schon vor langem zu Ohren besser Sinnen gekommen, dass ich mit dem geheimnisumwitterten und ehrfurchtgebietenden Schamanen, Träumer und Diyin der Mescalero befreundet bin, der hoch oben auf dem heiligen Berg in der Abgeschiedenheit einer abgelegenen Höhle residiert, was tatsächlich einem indianischen Freischein in allen Belangen des Lebens gleichkommt. Es gibt jedenfalls ausreichend Gründe für sie, mit Hilfe ihrer unbestrittenen Autorität dafür zu sorgen, dass mir heute und in Zukunft kein Härchen gekrümmt wird.

Es geht den äußerlich eher unscheinbaren, bei näherer Betrachtung jedoch sehr beeindruckenden und einflussreichen Männern, deren Wort nicht nur bei den Havasupai Vollmacht besitzt, in der Hauptsache offenbar vor allem darum, die berechtigte wenngleich inzwischen abgeebbte Empörung der verstörten Pilger gänzlich zu besänftigen und ohne weitere Verzögerung ungestört ihren priesterlichen Pflichten nachgehen zu können. Vielbeschäftigte Männer wie sie nun mal sind, finden sie nach ihrem erbrachten Erweis meiner Narrenfreiheit infolgedessen auch keine Zeit, sich näher mit meiner Ungewöhnlichkeit zu beschäftigen, mit freundlich ernsthaftem Gruß und besten Segenswünschen schicken sie mich kurzerhand auf den Weiterweg und meiner Wege. Ihre erklärte Absicht ist es wohl, so wenig Aufhebens wie möglich zu machen von dem bei näherer Betrachtung kurios peinlichen Zwischenfall, um zu vermeiden, dass er zur großen Sache aufgebauscht wird und sich herumspricht, was selbstredend dennoch, ohne ihr Zutun und ihren Bemühungen zum Trotz, in Windeseile geschieht. Wie dem auch sei, manchmal kann es durchaus von Vorteil sein, hoch hinaus zu wollen, im Mittelpunkt und vor allem über den Dingen zu stehen.

Oder Kojoten anzufüttern.

Bisweilen sage ich Canyon und meine deren mehrere, es gibt unzählige, das ganze Land ist voll davon, ein dicht gewobenes Netz und Labyrinth, sie alle zu kennen erfordert die Erforschung langer Jahre, und keiner ist wie der andere. Es gibt gewaltige und winzige, breite und enge, tiefe und flache, lange und kurze, gewundene und gerade, ebene und steile, weithin sichtbare und gut verborgene, zum Pass ausgewaschene und wild zerklüftete, der Colorado macht eine Biegung und ich nehme die Abzweigung ins weite Tal der Monumente.

Ich verlasse seinen Lauf, mein Weg führt mich zurück nach oben. Ein steil ansteigender kleiner Canyon mündet hier, von einem Bach in den Berg geschnitten, schmal wie ein Nadelöhr, düster, feucht und verwunschen. Überhänge verbergen den Blick zum Himmel, ein schmaler Grat führt an der Steilwand entlang, und unter mir klafft der stetig wachsende Abgrund. Mein Pferd klettert schlafwandlerisch hinauf, trittfest wie eine Bergziege, es kennt den Pfad. Und weiß, dass sein Reiter mit jedem Schritt tiefer und tiefer in brütende Düsternis versinkt, immer wenn wir den Weg in diese schaurige Klamm einschlagen. Die Zuni sagen, hier würden die Schatten der ruhelosen Seelen hausen, ihre Tränen die Wände benetzen und der Bach ihre Totenklage murmeln. Im Nebel würden sie wohnen, der aus der Tiefe steigt, man könne ihr Klagen hören und an manchen Tagen ihre Gestalten und Gesichter in den wandernden Nebelfetzen erkennen. Die Lebenden würden sie locken und rufen, sich mit ihnen in die Tiefe zu stürzen, um für immer bei ihnen zu verweilen und einzustimmen in ihren tonlosen Gesang. Schwer und bedrückend würden sie sich auf das Gemüt der Wandernden legen, ihren Sinn verdunkeln und ihren Blick trüben. Nur wessen Herz erfüllt ist mit Trauer, vermag ihre Traurigkeit zu ertragen, weil sie nicht essen was sie sind, Freude, Frohsinn und Zuversicht jedoch würden sie voller Gier und Unersättlichkeit verschlingen.

So sagen sie, die Pueblo Indianer, und in der Tat, wo immer der stürzende Bach eine Sandbank in den Fels gegraben hat, sammelt sich bleiches Gebein und türmt sich zu knöchernen Haufen. Diesen Pfad bezwinge nur, wer lebensmüde sei und sich den Tod ersehne, und selbst dann nur mit großen Mühen, so erzählen sie. Weise sind sie, die Pueblostämme, und wissend.

Wie von einer unsichtbaren Kugel umhüllt reite ich, der Nebel wagt nicht, mich zu berühren, ja mir nicht einmal nahe zu kommen, denn wollten die Schatten all meine Dunkelheit in sich aufnehmen, so würde sich ihr Nebel im Nu zu Wasser verdichten, wie schwere bittere Tränen würden sie hinunter tropfen in den gurgelnden Bach und haltlos fortgerissen werden. Verzweiflung ist um vieles mächtiger als Hoffnungslosigkeit und umgekehrt, je nachdem. Den-die-Totengeister-fürchten, so nennen sie mich, die Ältesten und Schamanen, und in ihren Stimmen schwingt ungläubiges Staunen. Mich alten Desperado, der ich diesen Pfad erklimme und bezwinge mal um mal, als wäre das halsbrecherische Unterfangen nichts weiter als ein versonnener Spaziergang. Woher sollten sie auch wissen, dass dieser vertraute Aufstieg für mich und mein Geisterpferd tatsächlich nichts anderes ist als ein melancholisches Stündchen, das mich die Hochebene erreichen lässt, ohne einen Gedanken daran verloren zu haben, wieso wir nicht hier oben ankommen hätten sollen. Kein Wasserfall mit Regenbogen wartet auf mich am Ende des Schattentales. Der Saumpfad mündet in einen Geröllhang, die Wände schwinden zu beiden Seiten, der Bachlauf beruhigt sich, endlos breitet sich die mystische Landschaft aus und empfängt Ross und Reiter mit stechender Sonnenglut. 

Fragen stellen kannst du immer, aber dann darfst du dich auch nicht wundern, wenn dir die Antwort nicht gefällt.

Brennt da so ein Dornbusch, die Dinger sind zäh und flammen lange, ich reite also hin und sage „Hey Häuptling, sorry, wenn ich hier in Stiefeln heiligen Boden betrete, aber es dürfte schwierig sein, meinem Gaul die Hufe auszuziehen, und es würde auch nichts ändern, wenn ich barfuß daher geritten komme, klar, ich könnte den Hut vor dir ziehen, aber die pralle Wüstensonne auf dem bloßen Haupt ist nicht so ganz ungefährlich, weißt du, da mach ich's lieber wie der Jewish, der trägt auch immer so'n Mützchen, damit ihm der Himmel nicht auf den Kopf fällt. Es macht auch wenig Sinn, mich nach San Carlos zu schicken oder Redondo, um die Apache aus der Knechtschaft der Reservation zu befreien, dafür müsste ich wenigstens ein Halbblut sein, außerdem kennen die mich sowieso und würden sagen 'Nö Leute, hört einfach nicht hin, weiß der Geier, wo der uns hinführt'... hätte auch gar keinen Sinn, die Wasser des kalifornischen Golfes zu spalten, um trockenen Fußes rüber zu spazieren, denn ob die Blauröcke da nun absaufen würden oder nicht, die Kalifornier würden die flüchtigen Apachesippen abgemurkst haben bis auf die letzte Babyseele, noch bevor sie in ihr gelobtes, will meinen indianerfreies Land gelangt wären.

Ist eben eine etwas andere Wüste hier, und dass dein Handlungsrahmen so gesehen vergleichsweise begrenzt ist, seh ich ja irgendwo auch ein, aber weißt du, so gar nichts tun, so überhaupt nichts unternehmen, um den guten Leuten aus Ur zu helfen, das bekomm ich nicht zusammen mit dem, was da so alles in der Bibel geschrieben steht. Da hätten sie ebenso gut oben bleiben können an der Nordwestküste, die Athapasken, andrerseits... wären sie da genau so dran gewesen, macht eigentlich keinen Unterschied, und ob sie dich jetzt Jahwe nennen oder Usen, du hast so oder so deine Ohren verstopft, keine Ahnung warum, deine Joshuas waren mindestens genau so kriegerisch, aber bei denen hat's dich offenbar nicht gestört, erklär mir das mal.

Weißt du, ich hab mal einen Schafbock befreit, der hatte sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen, war von seiner Herde ausgebüchst, jedenfalls sag ich zu dem 'keine Angst, alter Junge, du musst hier nicht den Kopf hinhalten für den Sohnemann vom Urahnen der Navajo, der auf seine alten Tage noch Vater geworden ist, der hat's nicht so mit Opfern, musst du wissen, Opfergaben schon, Tabak und dergleichen, aber er vergießt kein Blut deswegen, das hat die Frau-die-sich-verändert nicht nötig, soll ich denen jetzt sagen, wenn sie ihre Lämmer abgeschlachtet hätten, hätten ihnen die Weißen ihr Land nicht weggenommen, und hätten sie die Eingangslöcher ihrer Hogans mit Lammblut beschmiert, wär der Todesengel dran vorbeigerauscht? Davon war nie die Rede, würden die sagen, davon hat er nie zu unseren heiligen Männern und Frauen gesprochen. Was hast du denen denn gesagt? Macht euch mal fertig zum Sterben? Wenigstens das hättest du ihnen fairer Weise sagen können, wär wirklich nicht zu viel verlangt gewesen, finde ich.“

Und während ich noch so Tacheles rede, ist der Dornbusch auch schon hinunter gebrannt auf ein paar rauchende, qualmende, stinkende schwarze Stumpen, „tja“, sag ich, „das wird’s wohl sein, ich darf dich also getrost den Ich-war-grade-nicht-da nennen, und der Ich-bin-da, das bin dann wohl ich, und das ist verdammt noch mal zu wenig, davon hatten sie nie was und haben sie niemals nichts, die Inde' und Diné, die Leute aus Ur, mir bleibt nur übrig, dabei zuzusehn, und göttlich ist das nicht gerade, das kann ich dir sagen.“.

Es geht gemächlich bergan.

Dass im Monument Valley keine prächtigen Kronleuchterkakteen wachsen, wie sie auf den Wand füllenden Ölgemälden der Regierenden ins Panorama gerückt zu finden sind, weiß ich wohl, aber mein kleiner Freund Fanda behauptet stocksteif und felsenfest, dass es die runden Wanderbüsche, die vom Wüstenwind so schön geisterhaft über die Ebenen gerollt werden, zu Desperado’s Zeiten im Südwesten noch gar nicht gegeben hat und deshalb ganz einfach nicht gibt, da diese Gewächse erst in kommender Zukunft aus Russland eingeschleppt werden werden, nun denn, wenn er unbedingt meint, der neunmalkluge Wicht, dann seh’ ich eben Gespenstersträucher wandern, however und was macht es für einen Unterschied?

Staub wirbelt in winzigen Windhosen die Steilwände entlang, klettert an den Felsnasen in die Höhe und verschwindet im Nichts eines tiefblauen Himmels. Gigantische Figuren und Gesichter rundum in den geschliffenen Steinen. Manche geformt, als hätte ein Künstler sie in den Fels gemeißelt. Die Einwanderer nennen die Felsformationen Butte, manche wollen einen Elefanten darin erkennen und ein Kamel, einen Fausthandschuh oder gar Nonnen, die Drei Schwestern, den sogenannten Totempfahl kann ich durchaus als solchen gelten lassen, obwohl auch der nicht in diese Gegend gehört, meinetwegen dürfen auch die Donnervogel- und Regengott-Mesa so heißen. Bei den Ute erzählt man sich, dass Schöpfer Kojote in grauer Vergangenheit ein paar ungezogene Vorfahren zur Strafe in Stein verwandelt hat, da kann ich nicht viel zu sagen, war dann doch vor meiner Zeit. Schwer vorstellbar in der Tat, dass ihre Gestalten ein Produkt des puren Zufalls sein sollen, der Gedanke einer geheimnisvoll schöpferischen Kraft scheint einleuchtender, der beseelter Natur selbstverständlich. Hat der Wind die verlorenen Träume Vergessener gesammelt und hierher in die Berge getragen, um ihr Antlitz in die schroffen Formationen zu zeichnen? Um ihrem Leben ein gewaltiges Denkmal zu setzen, das niemand einer Zeile wert fand, kein Wanderphotograph mit seinem rauchenden Kasten einer Platte? Die Idee einer versteinernden Macht lebender Wesen ist so abwegig nicht beim Betrachten dieser Wunderwerke. Würden sie zu sprechen beginnen, es wäre weniger erschreckend als ihr wissendes Schweigen. Reglos stehen sie da, stumme Zeugen unermesslicher Zeiten, deren aufmerksamer ungestörter Beobachtung nichts entgeht zwischen Himmel und Erde. Die weise genug sind, alles für sich zu behalten.

Mich kennen sie ja bereits. Zur Genüge. So ein einsamer Desperado kostet sie kein Blinzeln mehr. Kein Schattenspiel in ihren Zügen. Keinen Lichtreflex glitzernder Minerale. Nicht einmal ein leises Säuseln plötzlich einfahrenden Windes, der da wispert: „Ist nur er.“ Bin nur ich, Leute. Nichts Weltbewegendes, nichts Aufregendes, im Grunde genommen nicht einmal Bemerkenswertes. Nicht wert, bemerkt zu werden. Keiner Bemerkung wert. Nur ein alter Desperado, der gemessen an einem flüchtigen Menschenalter mindestens genau so viel gesehen hat wie ihr zwischen der Wölbung dort oben und dem Fundament hier drunten. Und der wie ihr, meine steinernen Freunde, weise genug ist, es für sich zu behalten.

Oder besser schlau genug.

Längst ist die Nacht hereingebrochen, Stille hat sich vom Himmel herabgesenkt und Gleichmut wie Tau auf das schlafende Gestein der Felsskulpturen gelegt. Ob nun die Sonne gülden und umflort von purpurrotem Wolkenkranz versinkt oder ihr fahles Licht unbemerkt hinter einem dichten Leichentuch aus flimmerndem Grau erlischt, spielt keine Rolle und macht keinen Unterschied, der Tag ist um, der bunt strahlende Regenbogen, hoch in den dräuenden Himmel gezogen, hat sich in Nichts aufgelöst, das will genügen und es ist genug. Der Tag türmt sich nicht mehr auf vor dir, hochragend wie ein mächtiger Gebirgskamm, den es zu überwinden gilt, koste es was es wolle, das wütende Geheul des rauen Windes auf den Gipfeln ist längst verklungen und verweht, dabei im Vergessen zu versinken, mit jedem Hufschlag unter deinem schmerzenden Hintern rückt die Talsohle näher, schon tauchst du in den bergenden Mantel des schattigen Wäldchens unten am Fluss und sehnst dich nach dem Lager, um dich hinzubetten und die erschöpften Glieder auszustrecken. Berechtigt und begründet kann die Müdigkeit sein und ihr Gähnen reife Frucht eines langen harten Tages, die Sättigung herbeigeführt durch schlichtes aber schmackhaftes Abendmahl und nicht durch Übersättigung, Völlerei und Prasserei, denn satt zu sein heißt nicht, es satt zu haben.

Alt wie der Wald kann eine Seele sein, und ist sie alt geboren, wird sie alt wie Stein.




Titel: Der Federhut
Beitrag von: Sintram am 07 Dezember 2016, 12:31:46

Westmänner

Man sagt, dass der Mensch im Alter, wenn der Lebenskreis dabei ist, sich zu schließen, erneut zum Kindskopf wird, mag sein, doch manches, was einem als Kind lieb und wertvoll war, wird einem später fremd und bedeutungslos und geht für immer verloren.

Am Fuß des Berges kommen mir zwei unwirklich merkwürdige Gestalten entgegen. Der eine auf kleinem Pferd ist rundlich und kleinwüchsig, in eine zusammengeflickte Jacke gezwängt, hat schneeweiße wirre Haare auf dem Kopf und ist unablässig am Quasseln, der andere, lang aufgeschossen und dünn, reitet ein Maultier, trägt einen Tropenhelm und steckt in maßgeschneidert militärisch anmutenden Klamotten, auf dem Rücken transportiert er einen merkwürdigen Kasten, an der Schulter baumelt ein großes Schmetterlingsnetz.

„Ey ey, sieh an“, schmunzelt der Dicke, „das Greenhorn vor uns scheint mir doch ein waschechter Desperado zu sein, wenn ich mich nicht irre.“

„Oh well, was für eine außergewöhnliche Zufälligkeit, ist es erlaubt zu mir zu machen eine Aufnahme von euch?“, stelzt der Dünne in seltsamer Sprechweise.

Im Nu hat er seinen Fotoapparat auf ragenden Beinen auf den Pfad gepflanzt, verschwindet mit dem Kopf unter einem großen ledernen Umhang am hinteren Ende des rechteckigen Kastens und weist mich mit einer Hand in die rechte Position, der ich ohnehin verblüfft und ungläubig regungslos verharre, drückt auf einen Knopf am Ende einer Art Schnur, es folgt ein paffendes Geräusch, eine große weiße Rauchwolke steigt in die Höhe, eine noch größere schwarze hinterher, und der Englishman steht über und über von Ruß geschwärzt über seinem verschmort stinkenden Gerät. Während sich der Haarschopf vom Kopf des Rundlichen gehoben hat und eine seltsam rosafarbene, von schwarzen Flecken durchsetzte Vollglatze zum Vorschein kommen lässt, die den Eindruck einer großen hässlichen Narbe macht. Der Komiker indessen grinst verschmitzt, kratzt sich den kahlen Schädel und meint: „Diese Aufnahme scheint mir wohl etwas überunterbelichtet geraten zu sein, wenn ich mich nicht irre.“

Ich lass die beiden schrägen Vögel einfach stehen, was ihnen gar nicht auffällt, und setze meinen Ritt fort, als ein Apache vor mir auftaucht, wie ich noch nie einen zu Gesicht bekommen habe. Er reitet ein fantastisches schwarzes Pferd, gezäumt und besattelt mit feinster Lederarbeit voller Perlen und Glitzersteine. Sein prächtiges Kostüm ist über und über mit kunstvollen Strickereien und Mustern verziert, Mokassins, Hosenbeine und Ärmel schmücken lange Fransen, ein mit Silberbroschen beschlagener Stutzen ragt aus einer ebenso grandios gearbeiteten Lederhülse. Um die hohe Stirn trägt er ein schimmerndes Band aus Schlangenhaut und sein glänzendes Haar wogt in sanften Wellen über stattliche Schultern.

„Der große Häuptling des stolzen und edlen Volkes der Apachen grüßt den fremden weißen Mann,“ hebt er pathetisch an und die Hand zum Gruß, „was führt die Hufe seines edlen Pferdes in die Heimat seines roten Bruders?“

„Ja nun“, sag ich verlegen, während Infini amüsiert losprustet, „genau genommen bin ich nur auf der Durchreise...“

Aber er hört mir gar nicht richtig zu und fährt unbeirrt fort: „Das Auge des weißen Mannes ist klar und ehrlich, seine gebrochene Stimme verbirgt kein Falsch und keine Arglist, er möge mein Herz mit der Ehre und Freude erfüllen, mich seinen Bruder zu nennen.“

„Du mich auch,“ stottere ich verdattert, „ich will sagen, du kannst mich mal, klar doch, gerne haben, mein’ ich, würd’ ich es, meinetwegen darfst du mich Bruder nennen, selbstverständlich, ist doch kein Thema...“

Weiter komme ich nicht, weil ein muskelbepackter, ebenso in Fransenleder gehüllter Blondschopf von erheblicher Schulterbreite, Körpergröße und mit gewaltigen Fäusten hinter ihm zum Vorschein kommt, einen doppelläufigen, mit Silbernägeln beschlagenen Bärentöter am Sattel, und mir ins Wort fällt:

„Fremder, das Land der Apatschen ist ein wildes Land voller Geheimnisse, der Gott des weißen und roten Mannes möge deine verschlungenen Wege behüten und dir die Tapferkeit und Aufrichtigkeit bewahren, die ein wahrer Westmann braucht, um in den Gefahren und Tücken des Lebens zu bestehen und aufrecht den guten Kampf zu kämpfen.“

„Ja ja“, stammle ich mittlerweile völlig verwirrt, „den aufrechten Gang wird er wohl brauchen in diesem Affenstall, damit man ihn auch unterscheiden kann von Seinesgleichen, ich will damit nur sagen...“

Aber hoffnungsloser brauche ich mich nicht zu verhaspeln, denn die Beiden haben mich ganz offensichtlich vergessen, ein düsterer Schatten ist über das ebenmäßig bronzene Gesicht des Apachen gefallen, er spricht zu seinem Freund mit trauriger aber fester Stimme davon, dass seine Stunde gekommen sei, er deutlich Manitous Ruf vernehme und seine Seele alsbald in die ewigen Jagdgründe gehen müsse. Was dem Hünen nun gar nicht zu gefallen scheint, der erwidert was von unverbrüchlicher Treue und Blutsbruderschaft, von der Geistestrübung nicht bewältigter Trauer über den Tod der geliebten Schwester des Mescalero-Apache, der sein, des Westmannes  liebendes Herz für immer mit bitterem Schmerz erfülle... und ich mache dass ich fortkomme von den beiden tragischen Helden. Zur Beruhigung meiner angegriffenen Nerven will ich mir grade eine Zigarillo anzünden, als ein Schuss aufpeitscht und das Zündholz in meiner Hand bis auf den Stumpf aus meinen Fingern fegt. Ein breit grinsender bärtiger Typ im scheinbar hierzulande modischen Fransenlook ragt mit qualmendem Stutzen auf dem Felsen vor mir in die Höhe und meint spöttisch lachend:

„Ha, zwielichtiger Geselle, du hast gezittert und gewackelt, denn die Kugel meiner Büchse sollte dein Zündholz nur auspusten, aber ich will nicht mit meiner im ganzen Westen gerühmten und gefürchteten Schießkunst prahlen vor einem alten Tramp, der seine Lungen mit Rauchwerk vergiftet.“

„Du meine Güte,“ entfährt es mir fassungslos mit erhobenen Händen, „schon gut, schon gut, Rauchen fügt mir und meiner Umgebung erheblichen Schaden zu, kann tödlich sein und lässt mich früher sterben, ich weiß Bescheid und schäme mich ...“, aber seine spukhafte Erscheinung ist wie vom Erdboden verschluckt und spurlos verschwunden. Immer diese radikalen Nichtraucher, früher gepafft wie ein Schlot und seitdem auf der Flucht vor jedem Hauch von Tabakduft und wie der Teufel hinter jedem Genussraucher her. Gerade will ich tief und befreit durchatmen, als mir ein dürres, verlottertes Männlein mit langem Ziegenbart und weißer ausgedünnter Mähne vor die Hufe springt, mich mit erhobener Büchse böse anfunkelt und schnarrt:

„Ha, du elende verdorbene Seele, hast wohl Bekanntschaft gemacht mit den beiden Gutmenschen, würg, wie ich ihr verdammtes Getue hasse, ihre verfluchte Güte und ihren abgelutschten Edelmut, keinen blassen Schimmer haben die Träumer von der Härte des Lebens, grade mal gut genug sind sie für den feigsten Verrat, ich spucke auf ihre dämliche Einfalt.“

Irgendwie habe ich auf einmal von allem genug und die Nase gestrichen voll von dem Theater, der Widerling geht mir gewaltig auf den Geist, ich schnalze mit der Zunge, worauf Infini los springt und das Gerippe einfach zur Seite schiebt, dass es nur so in die Grasmatten fliegt und grässlich hinter mir her flucht, und ich schwöre mir hoch und heilig, beim nächsten Mal den kurzen Weg durch Italo, Wildwest, Westerncity  - oder wie immer dieses gottverlassene Nest noch mal heißen mag - zu nehmen. Als ich endlich den Gipfel erreicht habe, traue ich erst meinen Augen nicht. Auf einer Steinplatte sitzt, einen Bogen Papier auf dem Schoß, eine seltsam kostümierte Gestalt und kaut unter geschwungenem Schnurrbart versonnen auf dem Stiel einer Tuschefeder herum, nebst Tintenfässchen eine halbleere Whiskeyflasche neben sich stehen. Nur beiläufig nimmt er mein Kommen zur Kenntnis, das Gesicht beschattet von einem schrägen Hut meint er abwesend mit einem Akzent, der mich irgendwie an den des Baieren erinnert, einen entfernten Bekannten, wobei er eher zu den Wölkchen spricht, die aus seiner Pfeife aufsteigen, denn zu mir: "Man soll den Menschen nicht nach dem beurteilen, was er ist, sondern danach, wie er es geworden ist."

"Macht keinen Unterschied", erwidere ich träge, "ob man ihn danach beurteilt, was er ist, oder nach dem, wie er es geworden ist, das Ergebnis ist das gleiche und der Mensch derselbe."

„Gott zum Gruße, Reisender", fährt er unbeirrt fort, "siehst du das rechteckige Wäldchen dort unten im Talgrund, dass sich im Osten an den mäandernden Flusslauf schmiegt, durch das ein schmaler Pfad das klare Bächlein entlang führt, das sich mitten hindurch schlängelt, eine scharfe Krümmung macht nach Westen, genau in der Mitte, dort wo die zwei weißen spitz zulaufenden Felsblöcke aus dem Boden und über die grünen Wipfel der Tannen hinausragen, genau zwischen den mythischen Steinen hindurch zwängt sich der schmale Pfad, dessen östliche Seite mit dichtem Dornengestrüpp bewachsen und dessen westliche durch einen steil abfallenden Hang gesäumt ist, dort wo der ausladende Wacholderbaum seinen Schatten über die plätschernden Wellen wirft, kantiges Gestein den Pferden den Weg erschwert und sich dicke Wurzeln über den unebenen Boden schlängeln, eine Mulde die Sicht beeinträchtigt und die Rücken der Felsen den Blick versperren, dieser Punkt in der weiten Landschaft des Westens ist der ideale Ort für einen Hinterhalt der schmutzigen ruchlosen Schwarzfußindianer, um meinen edlen Helden aufzulauern...“

Ich hör ihm nicht mehr zu und reite mit rauchendem Kopf dem ersehnten Talgrund zu, Falle und Hinterhalt her oder hin, außerdem gab es in der Gegend noch nie so was wie riechende Schmutzfußindianer. Blackfoot oder Schwarzfußindianer gibt es wirklich, oben im hohen Norden der Prärie, östlich von Saskatschewan am gleichnamigen Flusslauf oberhalb der Stammesgründe der Crow. Und weiter im Nordosten, im Gebiet der großen Seen, bei den Ojibwa, da ist Manitou wirklich zuhause, der bei den Algonquin weiter südöstlich wiederum Manito heißt und nicht gleichbedeutend ist mit dem großen Geist, sondern eher aus einer Vielzahl kleiner Geister besteht, einer Art nichtmenschlicher unbegreiflicher Wesen, die Tieren, Pflanzen, Sternen und auch Dingen innewohnen und ihnen auch schon mal Schaden zufügen können, in der Regel aber mächtige Helfer der Menschen sind und bei den Apache Ga'ans genannt werden.

Nur - wen interessiert das schon? Ist ja auch nicht so wichtig, man weiß ja, dass der oder die Usen gemeint ist damit.

Well, du kannst die liebliche Schwester des edlen Häuptlings der Mescalero töten und seinen weisen Vater heimtückisch ermorden, kannst seine schöne Braut verhökern an einen Lieutenant der Blauröcke, um einen Friedensvertrag zu untermauern, den es noch nicht einmal auf dem Bauplan gibt und niemals geben wird, du kannst ihn belügen und betrügen nach Strich und Faden und feige verraten, ja ihm selbst in den Rücken schießen und eine Kugel durchs tapfere Herz jagen, seine menschliche Größe wirst du niemals bezwingen, du kannst ihn verlachen und verspotten, bis dir die Haare samt den Zähnen ausgefallen sind, er ist größer als du es je sein wirst und wird es bleiben für immer und alle Zeit.

Die Welt wäre ein besserer Ort, gar keine Frage, wenn es mehr Typen gäbe von seiner Sorte, gute Menschen ohne Arg, die da edelmütig, wahrhaftig, treu und furchtlos durchs Leben reiten und das Böse bekämpfen, wo immer sie ihm begegnen, sprich überall. Es gibt keinen Grund, ihm die Schuld zu geben dafür, dass du selbst nicht so sein kannst, er hat dich nicht betrogen, du selbst hast dich betrogen, um dich und um ihn. Auch kann er nichts dafür, dass du ihn zur Märchenfigur herabgewürdigt hast, die man grade deshalb so bedenkenlos lieben kann und hemmungslos anhimmeln, weil es sie nicht gibt. Sicher, auch das ist eine Möglichkeit, sich mit gutem Gewissen davon freizusprechen, den Beweis erbringen zu müssen, dass es Menschen seines Schlages geben könnte, wenn man es nur lange und oft genug versucht und nicht aufgibt es zu versuchen. Stell ihn auf einen unerreichbaren Sockel und du bist aus dem Schneider.

Es ist einfach nicht fair, was die Leute ihm antun. Klar, wer wie ich unter einem schlechten Stern geboren ist, tut sich da leicht, der weiß von Anfang an, dass er nie so sein wird können wie der edle Häuptling der Apatschen, weil er's schon verbockt hatte, noch bevor er seinem leuchtenden Vorbild über den Weg geritten ist. Da ist dann nicht mehr viel mit Träumen, die Frage, auch so einer werden zu wollen und können, stellt sich dir von Vornherein nicht, aber bewundern tust du ihn dafür umso mehr. Und es ist dir auch völlig schnuppe, dafür belächelt zu werden oder für blöde gehalten, weil du als Hoffnungsloser genau weißt, dass der Mensch so sein könnte, wenn er's nur wollte. In Wirklichkeit nämlich will er es ganz einfach nicht, und damit ihm niemand auf die Schliche kommt, stellt er sich eben hin und seufzt „ach, könnte ich nur so sein wie der. Vielleicht würd ich es ja sogar versuchen, wenn er einen Batzen Geld hätte und in einem Schloss wohnen würde, da wüsste ich dann wenigstens, dass was raus springt dabei, aber so... sterben werd ich noch früh genug“. Da hat er zweifellos recht, das wird er, eben grade weil er's versäumt hat, unsterblich zu werden wie dieser strahlende Held.

Tja, dumm gelaufen.

Der Wind hat mir eins der Papierblätter des theutschstämmigen Schreiberlings und Landschaftsdichters vor’s Gesicht und in die brennende Zigarillo geweht. Während dieses nun vor meinen Augen kreisförmig, vom Glutpunkt inmitten bis an seine Ränder nach außen, kunstvoll in Flammen aufgeht, kommen dahinter vier Reiter auf prächtigen Pferden zum Vorschein, die in vollem Galopp über eine Hochebene heran gestoben kommen. Ein silberhaariger aber rüstiger Senior auf seinem Apfelschimmel wird begleitet von einem stattlich wohlbeleibten Koloss auf stämmig honiggelbem Ross, der zudem einen hoch aufragenden runden Hut auf dem Kopf trägt, einem ganz in schwarz gekleideten Frauentypen auf feurigem Rappen, mit hintergründigem Lächeln im Gesicht unter schwarzen Locken, und einem sonnigen Milchbubi auf braunscheckigem Pferdchen, auffallend lässig sein fast bis ans Knie reichender Holster, in dem ein silberbeschlagener Colt steckt. Unmittelbar vor mir stoppen die Vier ihren heißen Ritt und lächeln mir freundlich, breit, listig und frech ins Gesicht, der Schwarze wippt gekonnt mit seiner Hutkrempe, ich glaube in meinen verwunderten Ohren noch den rhythmischen Puls der fliegenden Hufe zu hören, und ehe ich ein Wort hervorbringe, spornen sie ihre edlen Rösser zu neuem Spurt an und rauschen an mir vorbei, neuen Abenteuern, Erzadern und Goldquellen entgegen, die hierzulande Bonanzas geheißen werden.

Endlich erreiche ich das rechteckige Wäldchen im Talgrund, das sich an den Fluss schmiegt. Ich biege ein in den Weg, der sich mitten durch das Wäldchen schlängelt, einen Bachlauf entlang führt, am Ostrand bewuchert von Dornenhecken, im Westen durch einen steil zum Bachbett abfallenden Hang begrenzt, bis ich an seiner Biegung die steinige wurzeldurchflochtene Mulde am Fuß der aufragenden Monolithen erreiche. Tatsächlich kommt uns eine Gestalt aus dem Schatten des Wacholderbaums vor die Hufe gestolpert, ein halbnackter jugendlicher Indianer, Kiowa oder auch Comanche, nur mit einem Lendenschurz bekleidet und nicht besonders auf der Höhe. Mit beiden Händen hält er sich seinen Kopf, an aufgelösten Zöpfen baumeln ziemlich zerrupfte Federn, und jammert in einem fort, dass ihm der Himmel auf den Kopf gefallen sei. Seine nackten Füße stecken bis an die Knie in schwarzen Schlammstiefeln, vermutlich hat er sich im Uferschlick des Baches verlaufen. Wenigstens weiß ich jetzt, wo die halbvolle Whiskeyflasche des Schreiberlings abgeblieben ist.

„Nimm’s leicht, Junge,“ versuch ich ihn zu beruhigen, „das geht vorbei. Leg dich ruhig wieder hin und pack noch ein paar Stunden Schlaf drauf, dann wird sich der Himmel wieder gehoben haben und die Welt sieht anders aus.“

Er folgt meinem Rat willenlos bereitwillig, taumelt wankend in den Schatten zurück und sinkt stöhnend auf sein Moosbett, während ich durch die enge Schneise des Felsentores reite.

„Bist ja noch jung, blutjung, ein heißer Jungspund bist du“, murmle ich in mich hinein, „ich bin nur ein müder alter Fellow, der nachhause will.“



Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 14 Dezember 2016, 11:14:35
Western City


Der Wind hat ein schauriges Jammern über den Hügelkamm getragen.

Im nächsten Moment tauchen drei Reiter auf seiner Kuppe auf, die in gestrecktem Galopp auf mich zugeprescht kommen. Zu meinem Entsetzen tragen sie breitkrempige Hüte und knöchellange schwarze Mäntel, die „Uniform“ bezahlter Gunmen, doch noch bevor ich Infini zur Kehrtwende bewegen kann, muss ich zu meiner Verwunderung feststellen, dass die Kerle überhaupt keine Notiz nehmen von mir, sondern an mir vorbei jagen, als wäre ich Luft und der Teufel höchstpersönlich hinter ihnen her. Die Augen der Pferde sind schreckensgeweitet, ihre Nüstern gebläht, die Reiter, der mittlere von ihnen ohne Zweifel ein hochgefährlich seelenloser Killer, versuchen erst gar nicht, ihre durchgegangenen Gäule zu bändigen, sondern geben diesen sogar noch die Sporen und peitschen ihnen mit einer Hand die Zügel um den Hals, während sie sich die andere sonderbarer Weise mit aller Kraft an eins ihrer Ohren pressen. Der Staub ihres wilden Ritts hat sich noch nicht gelegt, da sind ihre wehenden Mäntel  hinter dem nächsten Hügel verschwunden.

Ich spähe und lausche und warte auf den Grund ihrer kopflosen Flucht, aber alles bleibt ruhig, so dass ich mich entschließe, einfach mal über den Hügel zu lugen, um die Ursache ihrer Panik vielleicht dahinter zu finden, neugierig wie ich nun mal bin. Doch die unwirkliche Szenerie, die sich mir bietet, kaum dass ich meine Nase über seine Kuppe gesteckt habe, verursacht bei mir eher Betroffenheit denn Schrecken. Unter den verstreuten Ziegelsteinen eines eingestürzten Torbogens liegen zwei Gestalten im Staub, eine davon offenbar ein strampelnder Knabe; die andere, ein Farmer, die Hände auf den Rücken gefesselt und eine Schlinge um den Hals, hebt den Kopf und schaut voller Angst, von Entsetzen und Grauen gezeichnet, zu mir herauf. Während ich näher geritten komme, entspannen sich seine Gesichtszüge, da er in mir einen Fremden erkennt, der nichts mit den Geflohenen am Hut zu haben scheint, während der Bube sich hochgerappelt hat und auf Knien beginnt, zwischen den herumliegenden Steinen nach etwas zu suchen. Schließlich reckt er mit triumphierend leuchtenden Augen eine Mundharmonika in den Himmel. Ich gleite verwundert aus dem Sattel, befrei erst mal den bedauernswerten Mexikaner oder Mestizen aus seiner misslichen Lage, der sich, noch nicht einmal halb aufgerichtet, mit einer Hand den aufgescheuerten Hals reibt, mit der andern aber mit zitterndem Zeigefinger auf seinen Jungen zeigt und flehend keucht:

„Nimm sie ihm weg, bei der seligen Jungfrau und allen Heiligen, nimm sie ihm weg!“

Als ich mich ratlos zu dem schmutzigen Buben umschaue, hält mir der mit bockig beleidigt vorgeschobener Unterlippe sein Instrument bereitwillig unter die Nase, ich nehme es achselzuckend an mich und drück es dem Vater in die ausgestreckte Hand, der sichtlich erleichtert aufatmet, das silberne Ding umständlich in seiner Hosentasche verschwinden lässt und ein paar mal draufklopft, um es gut verstaut zu wissen. Nach ein paar Schlucken aus meiner Fellflasche hustet er heftig, räuspert sich geräuschvoll, spuckt einen Pfropf aus seiner Kehle und beginnt stockend zu erzählen.

Die drei Galgenvögel, skrupellose Kopfgeldjäger und eiskalte, bezahlte Auftragsmörder im Dienste eines landgierigen Großgrundbesitzers, hätten seine kleine Farm überfallen, in der er mit seinem Sohn lebe, ihm die Hände gefesselt und beide zum alten Torbogen geschleppt, wo ihm der eine von ihnen eine Schlinge um den Hals knüpfte und den über den Steinbogen geworfenen Strick am selben festmachte, während der andere seinen Sohn zwang, sich in das Tor direkt unter ihn zu stellen, so dass seine Füße auf seinen Schultern zu stehen kamen. Der dritte und gefährlichste von ihnen, offenbar ihr Anführer, verfolgte die Sache mit ausdruckslosem Gesicht, ohne vom Pferd zu steigen, sei schließlich gemächlich an sie heran geritten, habe eine Harp aus seiner Brusttasche gefischt, sich zu seinem schlotternden Jungen herab gebeugt und ihm das Ding in den keuchenden Mund gesteckt mit den Worten „Spiel mir das Lied vom Tod!“

Was der dann aus voller Lunge und mit aller Puste tat, worauf die Ereignisse sich förmlich überschlugen. Die Pferde der Schurken hätten verrückt gespielt, seien hochgestiegen, hätten wild ausgeschlagen, sich im Kreis gedreht, ihre Reiter aber waren zu sehr damit beschäftigt, sich mit beiden Händen die Ohren zuzuhalten, um sie bändigen zu können. Mit schmerzverzerrten Gesichtern hätten die Kerle Hals über Kopf eine heillose Flucht ergriffen. Während die alten Mauern zu beben und vibrieren angefangen haben von den Grundfesten bis hinauf in den Bogen, schließlich seien die Steine aus ihrem Verputz gesprungen und das ganze brüchige Bauwerk sei polternd in sich zusammengestürzt und er mit seinem Galgenstrick erst auf den Buben und dann auf den Boden geplumpst. Dabei sei seinem Sohn die Mundharmonika aus dem Mund geflutscht, was ihm das Leben gerettet habe, da er sich nichts anderes mehr gewünscht habe, als dass sein Sprössling so bald wie möglich einknicke und zusammensacke, damit er von der höllischen Pein erlöst sei, die in seinen Gehörgängen tobte, von dem entsetzlichen Kreischen und Heulen, das in seinem Kopf rumorte, dem schrillen Pfeifen, das ihm wie ein scharfes Messer den Rücken hinuntergefahren sei und ihm durch und durch gegangen durch Mark und Bein bis aufs gefrorene Blut seiner Adern.

Na denn, sag ich, jeder muss ja schließlich nicht musikalisch begabt sein und außerdem, wie bitte solle man das Lied vom Tod anders intonieren als schaurig und so hätte die unerfreuliche Sache immerhin noch ein gutes Ende genommen. Das ja, sagt er, sicher das schon, aber um welchen Preis, nicht um diesen Preis, nein nie und niemals, ich hätte ja keine Ahnung, keine Vorstellung, keinen Schimmer und froh und dankbar soll ich sein drüber, heilfroh und so weiter. Nachdem ich den Geretteten endlich beruhigen konnte und die Beiden zu ihrem Haus begleite, der Knabe hat mit finsterer Miene seine zu Fäusten geballten Hände in den Hosentaschen vergraben und tritt missmutig ein paar Steine zur Seite, frage ich den sichtlich Mitgenommenen zum Abschied nach dem Weg.

Nun ja, meint er, es gäbe einen weiten über die Berge und einen kurzen gerade durch das Städtchen Western City, ich solle mich nicht wundern, wenn die Bürger auf der Straße bei meinem Anblick zu laufen anfangen und sich in ihren Häusern verstecken, die Fensterläden schließen und sämtliche Läden zusperren, da würde nämlich auf jedem Hausdach ein liegender Heckenschütze lauern, aber wenn ich mitten auf der Straße durch die Stadt reite und mit meinem Colt hin und her ballere, ohne zu zielen oder mich drum zu kümmern, wohin mein Schuss geht, würden die alle getroffen aufschreien, sich theatralisch sterbend aufrichten, erst ihr Gewehr runterschmeißen, um dann unbehindert in hohem Bogen von den Dächern fallen zu können, immer mit dem Kopf voran, wobei sie gerne noch krachend durch allerlei Vordächer, abgestellte Karren oder Planwagen brechen, während ihre wohlgezielten Kugeln nicht ein einziges mal ihr Ziel finden und rätselhaft im Nirgendwo verpuffen, weshalb das so sei, wisse er nicht, aber so sei das nun mal üblich und Sitte in Western City.

Ach, meine ich, wieso sollte ich die Burschen umlegen, das soll besser ein anderer erledigen, ich schlage mal lieber den Weg über die Berge ein, aber er erwidert, das würde überhaupt keine Rolle spielen, denn wie viel von den fiesen Kerlen man auch von den Balustraden pflücke, beim nächsten einsamen Reiter würden doppelt so viele mit Gewehr im Anschlag auf den Dächern liegen und auf seine Ankunft warten.

„Mit den Indianern in der Gegend ist es noch viel schlimmer,“ fährt er in einem Fluss fort, da ihn das Reden offenbar ins Leben zurückholt, „die sehen alle gleich aus, befinden sich andauernd auf dem Kriegspfad und reiten unablässig in greller Bemalung mit wildem Kriegsgeschrei durch die Gegend, wenn zehn von denen unsortiert angreifen und todessüchtig gegen eine verbarrikadierte Mauer anrennen, du zwanzig davon von den Reitdecken holst, wobei die Tierschinder ihre Pferde spektakulär mit sich zu Boden reißen, ergreifen dreißig Überlebende die Flucht, währenddessen sie sich niemals eine Pause gönnen und pausenlos fortfahren mit ihrem schrillen Geschrei, das sich wie das Bellen vieler kleiner Hunde und das Kreischen von Möwen anhört, nehmen ihre Toten mit, die hurtig zu ihnen aufs Pferd springen, und verschwinden kläffend, um sich für einen neuen Angriff zu sammeln. Bald darauf tauchen sie in einer endlosen Reihe auf dem Hügelrücken auf, mit prächtigem Federschmuck auf dem Kopf in ihrem festlichen Zeremoniengewand, und warten stumm, während die Dorfkapelle einen fürchterlichen Lärm macht dazu, der sich irgendwie indianisch und nach Indianern anhören soll, bis mit schmetternden Trompetenstößen und gezückten Säbeln die Kavallerie durch immer das selbe Tal angerauscht kommt, ewig und eine Minute reitet, bis sie endlich vor Ort ist, den imposanten Auftritt der Indianer versaut und sie in die Flucht schlägt, wie viele es auch sein mögen.

Wenn du in die Stadt geritten kommst, und einen feschen jungen Mann mit langen Haaren, Vollbart und melancholischen Augen an ein Rad gekreuzigt siehst, ist das keine religiöse Vision, sondern der Held von Italo, um  den du dir aber weiter keine Sorgen zu machen brauchst, weil um die nächste Ecke bereits eine rassige Lady wartet, ihn aus seiner misslichen Lage zu befreien und gesund zu pflegen, damit er sich bitterlich rächen kann an seinen Peinigern. Diese erkennst du übrigens mit Leichtigkeit sofort an ihren verschobenen und verschlagenen Visagen. Sie lynchen Wehrlose und meucheln Kranke, erschießen Unbewaffnete, quälen schwangere Frauen und sind der übelste und verdorbenste Abschaum, den man sich denken kann, ihr einflussreicher und mächtiger Boss, dem ganz Western City gehört und der alle vom Sheriff bis zum Bürgermeister wie Marionetten nach seiner Pfeife tanzen lässt, ist der Teufel in Person.

Der Held muss ständig etwas rächen, weil die Bösewichter entweder einen Kumpel, meistens ein blauäugiges Greenhorn, eine befreundete Familie oder jemand Anderen, der ihm nahe steht, auf bestialische Weise ins Jenseits befördert haben, so dass er immer weiß, was ein Mann zu tun hat und sich nicht vorher aus dem Staub machen kann. Manchmal hantiert er auch auf dem Friedhof rum und bastelt aus einem Maschendraht und einem Haufen Colts und Gewehren eine Selbstschussanlage, kauert sich hinter einen Grabstein und wartet lauernd, bis die schwerstbewaffneten Banditen auftauchen, sich in einer Reihe, jeweils einer vor jeder Mündung, postieren und artig über den Haufen schießen lassen, sowie er an der auslösenden Schnur zieht, nur ihr Anführer, erklärter Todfeind des Helden, ist nicht sofort tot und versucht den Ahnungslosen noch im Sterben heimtückisch hinterrücks abzuknallen, aber da ist plötzlich die Lady vor Ort und verpasst dem Schuft aus ihrem Versteck heraus den verdienten Blattschuss, obwohl sie noch nie eine Knarre in Händen gehabt hat.

Tja, so ist das in Western City, das Kaff gibt es schon ewig, es trug schon etliche Namen und hat seitdem ebenso viele Helden verbraucht, aber im Grunde hat sich nicht recht viel geändert in seinen staubigen Straßen, also bei genauer Betrachtung so gut wie überhaupt nichts.“

Was für ein abgedrehtes Nest, aber einen alten Desperado wundert nichts mehr, der hat alles schon mehrmals gesehen von Kindesbeinen an, deshalb nimmt er auch den friedlichen Weg übers Gebirge.

Jedenfalls dachte ich, dass es der friedliche Pfad wäre. Denn während ich noch über die rätselhaften Begegnungen nachsinne, kommt in gestrecktem Galopp ein Blaurock angeflogen, auf schweißgebadetem American Quarter Horse, mit gezücktem Remington Revolver und wie üblich ohne Hut, längst hat man sich an seinen verwegenen Anblick gewöhnt. Seine Vergangenheit ist undurchsichtig und schillernd, er ist Meister des Kartenspiels und im Umgang mit der Waffe, wurde als Lieutenant in das Gebiet um Arizona und New Mexiko strafversetzt, versteht nicht nur die Sprache der Chiricahua und war angeblich sogar bekannt mit deren Häuptling Cochise, der sich über zwölf lange Jahre einen gnadenlosen und erfolgreichen Guerilla Krieg gegen die wüstenunerfahrenen Unionstruppen lieferte. Fünfzehntausend Bleichgesichter kosteten seine Schrecken das Leben, die Zahl der getöteten Apachu, die sich selbst Tinde, Tinneh oder Inde’ nennen sprich Volk, ist nicht bekannt, vermutlich weil sie unzählbar ist.

Es heißt, dass der Blaurock, zwischenzeitlich angeblich mal Sheriff irgendwo in Texas, an der Befriedung Cochises mitbeteiligt war, zusammen mit Tom Jeffords, der wesentlich  zur Beendigung des Verteidigungskrieges beigetragen hat, als er sich als einer der wenigen zu dem bereits über Fünfzigjährigen und strategischen Genie durchschmuggeln konnte und recht gut mit dem charismatischen Chiricahuaführer verstand, der das Ende seines Freiheitskampfes ohnehin nur um zwei Jahre überleben sollte und höchstwahrscheinlich dem Magenfresser erlag. Seitdem weiß er jedenfalls nicht recht was anfangen mit seiner Zeit, hat ständig Zoff und Ärger mit staatlichen Obrigkeiten und indianerfeindlich bornierten Generälen, treibt sich vorwiegend in der vertrauten Wüste der Sierra rum, nicht selten in Begleitung eines versoffenen Kumpels und schrägen Federhutvogels, ist regelmäßig in Schießereien mit mexikanischen Bandidos und marodierenden Ex-Südstaatlern verwickelt, findet trotz bester Partien weder Frau noch Ruhe und wird zusätzlich, als würde das alles noch nicht genügen, immer wieder zur Zielscheibe und zum Jagdobjekt räuberisch umherstreifender Apachenrestbanden.

Er sieht immer noch blendend und junggeblieben aus für sein Alter, grüßt mich fröhlich im Vorbeipreschen und ruft selbstironisch ausgelassen: „Hey Desperado, alter Wüstenfuchs, schön dich zu sehen! Ein Missverständnis, nichts als ein dummes Missverständnis!“ Und weg ist er um die nächste Biegung verschwunden. Schon kommen johlend und schreiend die verfolgenden Apache angestoben, sieben an der unheiligen Zahl, auch ihnen ist mein Gesicht nicht unbekannt. „Altes Bleichgesicht mit der Squaw des roten Mannes, sei gegrüßt“ ruft mir ihr gefürchteter Rädelsführer schon von weitem zu, „sorge dich nicht um deinen blauberockten Freund, unsere Worte konnten nicht zueinander finden und haben ihre Fährte im Zwist verloren, nun eilen sie wortlose Einigung zu suchen.“

Auch ihren Staub bekomme ich zu schlucken. Sie werden den Gejagten nicht zu fassen kriegen und das wissen sie. Er wird sie trotz ihrer Ortskundigkeit in eine Sackgasse und unentrinnbare Falle locken, sie werden wie vor den Kopf gestoßen in ihrem Kessel gefangen versuchen, ihre dampfenden Pferde zu beruhigen, irgendwo in den schroffen Felswänden über ihren wilden Scheiteln sein wohlvertrautes Lied hören, die Edelschnulze vom Blueberry Hill, und man wird eine gütliche Einigung finden. Die ganze Angelegenheit ist längst zu einer Art Wettstreit und Spiel geworden, so findet eben jeder zurück zu seiner ursprünglichen Bestimmung, im Falle des ewig jungen Blaurocks die des Zockers am Pokertisch, zu dem er die Wüste gemacht hat.

Unsere erste Begegnung vor ewigen Zeiten, als er wirklich noch jung war und ich wohl auch, verlief ein wenig unübersichtlich. Ich hätte mir durchaus vorstellen können, mit ihm zu reiten, er redete nicht viel und verfügte über die wesentlichen Fähigkeiten, im Südwesten zu überleben, allein er hatte den Makel, Blaurock zu sein, er seinerseits hätte sich einen Burschen wie mich gut an seiner Seite vorstellen können, allein ich hatte den Makel, Desperado zu sein.  Und so einigten wir uns auf einen gemeinsamen Abstecher nach Mexiko, einen Streifzug durch die Cantinas, in dessen Verlauf er mich irgendwann fragte, ob ich auch noch andere Leute kennen würde außer zwielichtigen Gestalten, schillernden Vögeln und Verrückten, ich verstand überhaupt nicht, was er damit meinte, da ich aus purer Rücksichtnahme ihm gegenüber darauf verzichtet hatte, ihn mit in „meine“ Cantinas zu schleppen. Was ich daraufhin schon aus Trotz nachholte, wie zu erwarten gerieten wir in einen kleinen Schlagabtausch, als er trotz guter Verkleidung an seinen Kavalleriestiefeln als Blaurock erkannt wurde, es gab auch noch eine kurzfristige Verfolgungsjagd, da sich ein paar zufällig in das Missverständnis verwickelte Caballeros aus unerfindlichen Gründen an unsere Fersen geheftet hatten, war alles halb so wild, kaum der Rede wert, aber er schien irgendwie genug zu haben von unserer Exkursion und Mexiko und Cantinas,  Abenteuer dieser Art und Ausprägung würden ihn auf absehbare Zeit seinen krisensicheren Job in der Armee kosten, wie er meinte, was ja nun nicht mein Problem war. Trotz dieser meines Erachtens nicht zwingenden Unvereinbarkeit blieb er mir wohlgesonnen bis heute. Hah, wie lange ist das her, vom Wind verweht wie die Staubwolke seiner Verfolger, die sich rasch verflüchtigt, als hätte es sie nie gegeben.

Vor mir breitet sich die berückend erhabene Schönheit der Sierra aus, endlose grenzenlose Weite, vom ewigen Wind geformte Schrecken und Wunder, schroff und abweisend ihr wildes Antlitz, magisch anziehend wie ein machtvoller Strudel, unwiderstehlich wie ein gewaltiger Sog.




Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 21 Dezember 2016, 09:15:25

Navajo


Der ganze Südwesten war ein einziges Haus, gebaut aus der Morgendämmerung.
Er war gemacht aus Blütenstaub und Regen.
Das Land war alt und ewig.
Auf den Hügeln und in der Ebene leuchteten viele Farben, und hinter den Bergen wuchs eine dunkle Wildnis.
Das Land war bestellt und voller Kraft, es war schön, soweit das Auge reicht.

So beschreibt ein uraltes Indianerlied das gewaltige Gebiet, in dem sich überwiegend Wüste und Halbwüste abwechseln. Die Bevölkerung seiner Großfamilie besteht in allumfassend weitestgehend unterschiedenem Sinne aus den Stämmen der Mohave im Nordwesten, den Halchid-homa, Quechan, Cocopa, Pima und Papago, Maricopa, Yavapai, Walapai, Havasupai, Hopi, Navajo, Jemez, Tewa, Jicarilla, Tiwa Pecos, Trano, Keres Tiwa, Laguna Acoma, Zuni, Piro, Western Apache, Chiricahua, Mescalero, Jocome, Suma, Jumano, Eudeve, Opata, Seri, Jova, Concho, Bajo, Yaqui, Tarahumara, Tobosco, Tubar, Mayo, Guasave, Acaxee, Tepehuam, Xixime, Tahue und Zacateca im Südosten. Das sind wenn ich mich nicht irre sage und schreibe fünfundvierzig Stämme oder besser gesagt Stammesverbände.

Die Walapai zum Beispiel sind ein kleines gut tausendköpfiges Völkchen, mit den benachbarten Yavapai und Havasupai verwandt und sprechen Yuma, ganz im Gegensatz zu der athapaskischen Sprache der Apache und Navajo, wobei sich einem Bleichgesicht der Unterschied nicht auf den ersten Blick erschließt. Die Apache wörtlich „Feinde“ kamen erst spät, nämlich kurze Zeit vor den Spaniern, aus dem hohen Norden ins Land der Sandhausleute, wie sie die ansässigen Pueblostämme der Wüste nennen. Diese leben hier schon seit der Steinzeit, sind sesshaft, betreiben Maisanbau und Viehzucht, ihre Vorfahren legten verzweigte Kanalsysteme an, deren Spuren bis heute zu sehen sind, und bauten legendäre Puebloburgen an die Hänge der Berge, wobei nebenbei bemerkt bis heute kein Pueblo der Bauweise des anderen gleicht.

Lange Zeit vertrugen sich die Alteingesessenen und die Neuankömmlinge nicht unbedingt so besonders gut miteinander, es gab bereits fünf verschiedene Kulturen im Südwesten und etwa ebenso viele Sprachen, und nun sollte noch eine weitere etwas fremdartige weil nomadisierende hinzukommen, die noch dazu die überaus unangenehme Angewohnheit mit sich brachte, den sakralen Raubzug als festen Bestandteil ihrer Daseinsbewältigung zu pflegen, was wie in solchen Fällen üblich eine Zwangsenteignung der nächsten kriegerischen Auseinandersetzung folgen ließ. Doch weder Räuber noch Beraubte sind lebensmüde, also gab es bessere Lösungen zu finden, als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, der Besitzerwechsel musste reibungsloser gestaltet werden, inzwischen geht er in den überwiegend allermeisten Fällen unblutig vonstatten. Es genügt, wenn die Schar der Apache, die sich auf einem sogenannten Raubzug befindet, gut sichtbar und in voller Zahl auf einer Anhöhe über dem Dorf oder vor einem Pueblo mit Schüssen und Geschrei auf sich aufmerksam macht und wieder verschwindet. Da es sich für gewöhnlich um eine überschaubare Gruppe von Kriegern handelt, wissen die Bewohner erstaunlich genau, wieviel an transportbereit verpacktem Proviant und verschnürten Waren sie an einem geeigneten Platz in ausreichendem Abstand von ihrer Siedlung hinterlassen müssen, Mais, Bohnen und Trockenfleisch für den Verzehr, Saatgut, Keramiktöpfe und Schalen, handliche Werkzeuge, schöne Kleider und Schmuck für den Weiterverkauf, um den Ansprüchen der Apache zu genügen. Mit Einbruch der Dunkelheit und manchmal schon davor kommen diese bedächtig angeritten, beladen in aller Ruhe ihre Pferde damit und machen sich aus dem Staub.

Im Laufe der kriegsermüdenden Zeit kommt es außerdem zu Verheiratungen, Vermischung und reger Tauschhandelsbeziehung zwischen Zugewanderten und Ureinwohnern, der Großteil der früher eingewanderten Navajo hatte längst die Lebensweise der Ureinwohner übernommen und bildet die kulturelle Brücke, und weil die Apache das prägnanteste und nicht zuletzt wehrfähigste Volk unter den Völkern der Wüste sind, nennt man die ganze riesige Region heute der Einfachheit halber Apachenland, obwohl nur etwa ein Viertel davon zu ihren eigentlichen Stammesgründen gezählt werden kann, das zudem, in verschiedene Gruppierungen aufgeteilt, von seinen Bewohnern keineswegs als der Lebensraum ein und desselben großen Stammes verstanden und betrachtet wird. Eine ihrer Abzweigungen zum Beispiel, die der Kiowa-Apache, zieht die Prärie der Wüste als Jagdgrund vor.

Das Herz des Südwestens ist die Apacheria, das Herz der Apacheria aber sind die Chiricahua. Dieses wilde Land, das die Alteingesessenen meiden, weil es ihnen zu schroff ist, zu rau und gefährlich, haben sie sich zur Heimat gemacht und sind mit ihm verschmolzen. Es ist, als hätte die Wüste selbst sich mit ihnen beseelt und ihnen ihre Seele eingehaucht, um ein menschliches Antlitz zu tragen. Kein Volk der Sierra zog mich mehr in seinen Bann, und von keinem weiß ich weniger.

Als ich in jungen Jahren, dem Ruf meiner Bestimmung folgend, meiner Heimat den Rücken kehrte, um gemeinsam mit Gleichgesinnten Wirklichkeit werden zu lassen, was ich schon immer fühlte, wusste ich so gut wie nichts über sie und die Apache im Allgemeinen. Gehört hatte ich von einem schrecklichen Massaker bei Santa Rita del Cobre, das in den späten Dreißigern an ihrem Volk verbrochen worden war, ein Halbblut hatte mir mal erzählt, dass es irgendwo in ihren Bergen eine Höhle gibt, in der Sonne, Mond und Sterne an den Wänden prangen, umringt von den Gestalten ihrer Berggeister, die die Apache aufsuchen um dort zu beten, das war so ziemlich alles. Dem, was die Leute meiner Hautfarbe über ihre Stämme, ihre Gotahs zu sagen hatten, schenkte ich auch damals schon kein Gehör mehr, was weniger an Unwissenheit bedeutete, als ich dachte, denn nichts davon entsprach auch nur annähernd der Wirklichkeit.

Für die Apache ist die Wüste beseelt, die Erde spricht zu ihnen, der Wind ist lebendig, die Berge, die Felsen, die Bäume, die Flüsse, ja alles und jedes, was da ist. „Der Berg da spricht zu mir“ bemerken sie mit einer Selbstverständlichkeit, als hätten sie sich angeregt mit einem Menschen unterhalten. In vielen Felsenklippen leben die Berggeister, und damit die Apache deren Stimmen und ihre Botschaften hören können, öffnen die Geister den Felsen und teilen ihnen mit, was da von Bedeutung ist. Man kann die Apache ohne Umschweife als tiefgläubige Menschen bezeichnen mit ausgeprägter spiritueller Begabung, doch auch diese ihre Eigenart unterscheidet sie von den anderen Völkern des Südwestens durch den sehr persönlichen Umgang damit und die Freiheit, die sie innehat.

Die Apache sind das freieste Volk auf Erden, das ich kenne.

Wilde Pferde.

Bläulich schimmernde Rappen mit weißen Fesseln und strahlendem Stern auf der kühnen Stirn, leuchtende Schimmel in blendendem Weiß, Apfelschimmel mit grauen Talern, nussbraune, kastanienbraune, erdbraune, mandelbraune, graubraune, rotbraune, gelbbraune, schwarzbraune Braune, feuerrote und purpurne Füchse, ockerfarbene und zitronenblasse Gelbe mit weißer Mähne und mit schwarzem Kamm, Schecken aller Farben, Formen und Musterung, fliegende Mähnen, wehende Schweife, jagende Hufe, Wiehern und Schnauben, Scharren und Stampfen.

Frei sind sie seit Generationen, alles Zahme ist längst von ihnen abgefallen und Wildem gewichen, seit den fernen Tagen der Spanier bewohnen sie den Südwesten, die hüpfenden, springenden und tollenden Fohlen wissen nichts mehr vom Frondienst ihrer Vorfahren, nichts mehr von einem behüteten Leben unter Menschen. Ihre Mütter lehren sie die Pfade von Wasserloch zu Wasserloch, von Weideplatz zu Weidefläche, lehren sie die Fluchtwege und Schlupfwinkel vor den Lassos der Cowboys, die Gefahr des lauernden Berglöwen und schleichenden Kojoten, der schlafenden Klapperschlange und des hungrigen Bären, lehren sie das wilde ungebundene Leben der Wildnis. Fluchttiere durch und durch ziehen sie dicke Staubfahnen hinter sich her, wenn ihre Herde die Witterung von Menschen aufgenommen hat, schneller als der Wind ist ihr kraftvoll athletischer Lauf, das Spiel ihrer Muskeln glänzt im Schweiß, ein wogender Keil pulsierender Leiber, kühn voran der kraftvolle Leithengst oder die erfahrene wuchtige Stute, unaufhaltsam und unbezwingbar, ein atemberaubender erregender überwältigender Anblick, so ziehen sie ihre ungezügelten Bahnen durch das raue Land, ihr weites Land, selbstbewusst, von unbeschreiblicher Schönheit und stolz, als würden sie die Wüstensteppen seit Jahrhunderttausenden beherrschen.

Kämpfende Hengste in dichten Staubwolken, ein Bündel aus Feuer und entfesselter Wildheit, wirbelnder Hufe, geschürzter Lippen und bis zum Zahnfleisch entblößter Gebisse, flammender Mähnen und peitschender Schweife, auf stämmigen Hinterläufen tanzend drücken sie gegeneinander an, ihre Vorderläufe ineinander verkeilt, die Zähne in die Mähne des Rivalen gegraben, bebend wie eine brodelnde Urgewalt, wie eine Windhose, ein Wirbelwind drehen sie sich im Kreise, schneller als das menschliche Auge folgen kann, entfesselt wie ekstatische Derwische, wie züngelnde Flammen in Rauch gehüllt, ein mystischer Anblick voll schaudernden Schreckens animalischer Natur.

Vergnügt und heiter das ausgelassene Spiel der Fohlen, staksend auf langen noch etwas unbeholfenen Beinen, hochspringend mit allen Vieren in der Luft, wild ausschlagend, Haken schlagend, sich wie ein Kreisel um sich selbst drehend, mit der Anmut einer Gazelle und der Wucht einer Bergziege rennen sie blindlings drauflos, den Hals hoch erhoben, zwischen die Vorderläufe geschoben, nach vorn gestreckt, mit wippenden wackelnden schüttelnden Köpfen, das unkontrollierte Spiel der Ohren unbeschwert, das Schwänzchen vorwitzig erhoben, ihr übermütiges Treiben ohne Absicht und erkennbaren Sinn.

Wachsam und klug die schwarzen Augen der Stuten, scheu und ängstlich, todesmutig zu allem entschlossen, tief wissend ihr Blick, die Seele in ihren Pupillen tragend, auf kräftigen Beinen die zum Teil rundlichen Leiber, wie ein Fels in der Brandung stehen sie, ihr ebenmäßiger Lauf pulst im Rhythmus des Herzens, wogt in den Gezeiten wie die Brandung der Meere. Fluchtburg und Insel, Hafen und Hort, geduldige Lehrmeisterin und gestrenge Erzieherin, brennende Beschützerin und kosende Trösterin, voll leidenschaftlicher Ruhe, feuriger Gelassenheit, schwelender Tollheit und launischer Klarheit, feinsinnig und verwundbar wie eine Schnecke ohne Häuschen, zäh und unverwüstlich wie eine blühende Kaktee, als wären alle Wesensarten vom Tarpan bis zum Araber in ihrem Gemüt und Geblüt zu unbesiegbarer Geschlossenheit, zur Einheit erhabener edler Anmut und lodernd flackernder Unberechenbarkeit verschmolzen.

König und Königin der Wüstensteppe und Karstgebirge, das ist der Mustang.

Auf den Felsnadeln des Spider Rock lauert die Spinnenfrau, die den Navajos das Weben beigebracht hat und ihre bösen Kinder frisst, ich fürchte ihre Netze nicht. Den besten Ruf genießt sie nun wirklich nicht gerade, die Spinnenfrau. Ein richtiges Scheusal soll sie gewesen sein, das arglose Menschen in ihr Haus lockte, nur um sie zu vergiften. Dann schnitt sie ihren Opfern den Kopf ab und hängte ihn in ihrer Stube auf, den aufgeschlitzten Leib aber warf sie in den Bach als Futter für die Fische. Aus den Schädeln entfernte sie das Hirn und hängte es vor der Hütte zum Trocknen auf, die abgeschnittenen Ohren fädelte sie auf eine Schnur und ließ sie in der Sonne verdorren, bis sie wie kleine Kürbisscheiben aussahen. Niemand konnte sagen, warum sie derlei Abscheulichkeiten pflegte, doch als die Menschen sich nicht mehr in die Nähe ihrer Behausung wagten, schlich sie nachts in die Dörfer und verschleppte immer wieder ahnungslos Schlafende.

Eines Tages hat der Schöpfer genug von ihrem widerwärtigen Treiben und befiehlt der Sonne und dem Mond, ihre Söhne auf die Erde zu schicken, um ihm ein Ende zu bereiten. Mit Pfeil und Bogen bewaffnet ziehen die beiden strahlenden Jünglinge gegen die Spinnenfrau, der ihr Kommen zugetragen wurde, sie schickt ihnen eine Heerschar von Schlangen entgegen, so dass die Helden Furcht überkommt. Doch dann erspäht der Ältere der Beiden eine große Klapperschlange in dem Gezücht, das schlängelnd den Wüstenboden bedeckt, mit einem gut gezielten Schuss jagt er ihr einen Pfeil in den Kopf, woraufhin sämtliche Schlangen in ihre Höhlen zurückkriechen. Die Spinnenfrau aber ist noch lange nicht am Ende mit ihren Gemeinheiten, tags darauf sind es unzählige Pumas, die sich den Burschen fauchend entgegenstellen, der jüngere will schon Fersengeld geben, der ältere aber macht ihm Mut und erlegt mit seinem Pfeil den größten Berglöwen, den er in der Menge ausmachen kann, worauf die andern in ihren Schlupfwinkeln verschwinden. So kommen sie der Behausung der Spinnenfrau immer näher, und als diese in einem letzten Versuch mit einer Horde wütender Bären aufwartet, nimmt sich auch der Jüngere ein Herz, sie töten die zwei größten Exemplare und der Rest flüchtet in die Berge zurück.

Derart geschlagen sieht die Böse sich veranlasst, auf die List der Heuchelei umzuschwenken, sie geht den Beiden entgegen und lädt sie überaus freundlich zum Essen ein, ob sie denn wilde Tiere gesehen hätten, will sie wissen, ja doch, antworten die Gefragten, aber wir waren zu schnell für sie und sind ihnen ausgewichen. Das sagen sie, um die Alte zu ärgern, weil sie wissen, dass die Tiere in Wahrheit böse Geister sind, die ihr dienen. Was die Grässliche ihren Gästen vorsetzt, sind Menschenhirne, doch die Zwei, die zuvor auf einer besonderen Wurzel gekaut hatten, überwinden ihre Abscheu und würgen sie hinunter, und während die Alte sich ausmalt, was für schöne Maissäcke sie aus den Häuten der hübschen Kerle machen kann und sich wundert, weshalb die Vergifteten noch nicht tot umgefallen sind, gehen diese hinaus ins Gebüsch und stopfen und ziehen sich die zu Brei zerkaute Wurzel in die Nasen, durch deren Wirkung sie alles Geschluckte auf der Stelle erbrechen. Langsam bekommt die widerliche Hexe es mit der Angst zu tun, also überredet sie die Beiden, in ihrem grausigen Heim zu nächtigen, um sich derweil eine weitere Scheußlichkeit überlegen zu können. Damit sie ihr nicht entwischen, legt sie sich quer vor den Eingang ihrer Hütte und schläft miserabel.

Mit den ersten Sonnenstrahlen bittet sie die Jünglinge zum heiligen Tanz. Sie werde die Lieder dazu singen, auf einem kleinen Plateau am Rande eines Abgrunds hat sie den Tanzplatz bereits hergerichtet, die Beiden aber reiben sich den ganzen Körper mit einer zaubermächtigen Salbe ein, bevor sie aus dem Haus treten. Die Spinnenfrau will sie so lange im Kreis tanzen lassen, bis ihnen schwindelig wird und sie die Schlucht hinunterstürzen, und um der Sache den nötigen Nachdruck zu verleihen, ruft sie mit ihrem Gesang schlimmes Wetter herbei.

"Wolken mögen sich ballen!
Schwarze Wolken, kommt herbei!
Schneesturm soll rasen,
froststarr werden die Welt!"

Und tatsächlich tobt ein heftiger Blizzard über die kleine Tanzfläche, um die Söhne von Sonne und Mond in die Tiefe zu reißen, doch diese verwandeln sich in Schneegänse und tanzen in deren Gestalt, ohne dass ihnen schwindelig wird dabei oder sie weg geweht werden. Auch die klirrende Kälte vermag ihnen nichts anzuhaben. Als die Spinnenfrau einsehen muss, dass sie gegen die Zwei nichts ausrichten kann, will sie den Tanz beenden und sie zum Frühstück überreden, doch die Beiden denken nicht dran, "Jetzt wirst du nach unserer Pfeife tanzen!", rufen sie und stimmen nunmehr ihren Gesang an.

"Sturm, geh vorüber!
Wolken, zieht fort!
Sonne, unser Vater, scheine auf uns!"

Und sogleich bricht die Sonne durch die zerreißenden und schwindenden Schneewolken, die Spinnenfrau aber muss das Tanzbein schwingen in ihrem strahlenden Schein.

"Vater! Komm näher zu uns herab!
Dein Haupt komme auf uns!"

Da wird es unerträglich heiß für die frühe Morgenstunde, die Spinnenfrau beginnt zu ächzen und schwitzen und fleht die Beiden an, innezuhalten, doch ihr Tanz ist noch lange nicht zu Ende.

"Unser Vater, die Sonne, möge die Heuschrecken zu sich rufen und sie senden!
Zu unserer Mutter, dem Mond, bei der die Alte da in Zukunft wohnt!"

Ein riesiger Heuschreckenschwarm lässt sich auf dem Plateau nieder und sammelt sich zu Füßen der tanzenden Spinnenfrau, ballt sich unter ihren Sohlen, bis sie von ihm emporgehoben wird, sie reißt sich die Kleider vom Leib, um ihn zu verscheuchen, springt wild herum nach allen Seiten, doch die Schar der Schrecken ist so groß, dass sie ihr nicht entkommen kann, und während die Brüder unaufhörlich ihre Lieder singen, wird sie in den Himmel hinaufgetragen, erst an der Sonne vorbei, von deren Glut die Spinnenfrau ordentlich angesengt wird, und von dort zum Mond, auf dem der Schwarm die still Gewordene absetzt, bevor sich die Heuschrecken in unzählige Sterne verwandeln.

Bei Vollmond sieht man die dergestalt Bestrafte bis heute gekrümmt herumirren, ihre Kleider hinter sich her ziehend.

Die Geschichte der Spinnenfrau gibt es in vielerlei Ausführungen, meines Wissens hat sie ihren Ursprung östlich im Herzen der Prärie,  mal ist der Schöpfer männlich, mal weiblich, die Namen der Brüder sind unterschiedlich und den jeweiligen Heroen angepasst, allein die böse Spinnenfrau ist überall und immer die selbe, bei den Navajo nun wird sie von den Söhnen der sich verändernden Frau auf die Spitze des Spiderrock verbannt.

Mein Haar, mein Mund, mein Hut, mein Rock, die Hose und die Stiefel sind so voller knirschendem Sandstaub, dass ich den Eindruck habe, in tausend feine Körner zu zerrieseln, mein Pferd ist fahl wie der Klepper des Sensemanns, durch den Sandsturm bin ich geritten, sein stechendes Peitschen erschien mir wie das Streicheln zärtlicher Liebkosung.

„Hey, Geisterreiter, kommst du aus der Tiefe der Erde gekrochen, wie die Hopi sagen?“

Die junge Stimme mit dem unverwechselbaren Slang gehört einem Navajo, der aus dem Schatten eines Felsens taucht und mir auf scheckigem Mustang entgegen getrabt kommt.

„Seh ich so aus, und wenn, dann wär ich dort geblieben“, erwidere ich mürrisch.

Mit gesenkten Augenbrauen nehme ich das vorwitzige Bürschchen in Augenschein, über der dunklen Stirn windet sich der Faltenwurf eines farbigen Tuches um den schwarz behaarten Kopf, dessen Enden übers linke Ohr bis an die Schulter herab flattern, eine doppelte Muschelkette hängt ihm um den Nacken bis ans Brustbein, er ist in einen luftigen längsgestreiften Überwurf gekleidet, eine dicke Schärpe schlingt sich über die rechte Schulter hinunter um die linke Hüfte, die Füße stecken in kniehohen bestickten Ledermokassins. Ein Dine wie er leibt und lebt, aufrecht auf dem Rücken seines Pferdes sitzend, mustert mich neugierig mit wachen, aufmerksamen Augen.

„Viele Monde lang war dein Hufschlag nicht zu hören, zweimal schon wanderte der Mond an selber Stelle, dort, von wo aus er jetzt auf uns herunter schaut.“

Mit der Rechten weist er nach oben, die Silberplättchen an seinem Ketoh glänzen türkis im Sonnenlicht, ein fahler Halbmond blinzelt verschlafen im blauen Himmelbett. Ich kann mich nicht erinnern, den Burschen jemals gesehen zu haben, der sich mir als Hastobíga vorstellt, dass er mich zu kennen scheint, wundert mich indes überhaupt nicht, die Navajo sehen einfach alles und wissen immer über alles und jeden Bescheid.

„Aus der Erde des großen Graslands bin ich gekrochen“, antworte ich ihm schließlich, von seiner offenen Freundlichkeit besänftigt, „sie hat sich in ein Meer von Blut verwandelt, die Präriehunde ertrinken in ihren Gängen und Höhlen, die Wüste erschrak bei meinem Anblick, der Wind füllte seine Hände mit Sand und warf sie auf mich, bis ich davon reingewaschen war.“

Ein Schatten der Betroffenheit huscht über sein Gesicht. Schmerz, Angst und Kummer haben tiefe Spuren hinterlassen in den Zügen des jungen Mannes, Bitterkeit und Zorn Furchen in seine Mundwinkel gekerbt, die Augenbrauen unter von Falten durchzogener Stirn gesenkt. Auf dem „Long Walk“, dem langen Marsch der Dine war er wohl fast noch ein Kind, das mitansehen musste, wie die Soldaten Gebärende im Wehenschrei erschossen, alten Frauen und Männern, Kranken und Verwundeten, die nicht mehr weiterkonnten, auch Kindern den Gnadenschuss gaben wie verendendem Vieh und ihre Leichname den Geiern, Krähen und Wölfen zum Fraß überließen. In der Hölle der berüchtigten Bosque Redondo Reservation ist Hastobíga zum Mann gereift, die Bilder des Grauens werden ihn sein Leben lang begleiten, einsam wird er unter seinen Kindern sitzen, noch einsamer unter seinen Kindeskindern. Schlagartig wird mir bewusst, dass auch ich ein einsamer Mann geworden bin, zur Einsamkeit verdammt.

Die Navajo haben einen langen Marsch hinter sich.

Im Grunde sind sie Schafbauern, aber alles andere als lammfromm. Als die Armeen der Weißen gegen sie vorgingen, wehrten sie sich mit entschlossener Verbissenheit und Wildheit und kämpften selbstbewusst und mit erhobenem Haupt gegen die Invasoren, so dass diese zu dem Schluss kamen, ihren Widerstand nur durch das Auswechseln ihrer Köpfe brechen zu können. Zu diesem Zweck sollten sie in der Nähe von Santa Fe in ein Umerziehungslager gesteckt werden. Man kann nur hoffen, dass diese Einrichtung keine Nachahmer findet. Eigens und ursprünglich für die Internierung von fünfhundert Mescalero errichtet, drängten sich zuletzt mehr als neuntausend Navajo in den Palisaden von Fort Sumner zusammen. Ihre Familiengruppen und Sippen waren der Armee förmlich in die Arme gelaufen auf der Flucht vor marodierenden meist mexikanischen Banden, die ihre Lager überfielen und Frauen und Kinder als Haussklaven verschleppten.

Die Armee trieb die etwa zehntausend Leute zusammen und schickte sie auf den berüchtigten langen Marsch, fünfhundert Kilometer den Rio Grande hinauf, ein Todesmarsch unvorstellbarer Strapazen und Qualen, und viele von ihnen erreichten ihren Zielort nie. Es war Winter, die Soldaten gaben den Hungernden kaum oder nichts zu essen, prügelten stattdessen wahllos auf sie ein und rissen den Frierenden die wärmenden Decken vom Leib, um sie unterwegs zu verschachern. Die mit teuflischer Präzision und erbarmungsloser Grausamkeit unter dem Kommando eines irrsinnigen Generals namens Carlton durchexerzierte Aktion indessen wurde ein gewaltiger Schuss in den Ofen, der große Geist schickte Dürre und Heuschrecken, die dem schlechten Boden den Rest gaben, verwirrte zudem die Planung des Unternehmens und aus der Umerziehung der Navajo zu Farmern wurde nichts. Die wollten davon auch nie mehr etwas hören oder wissen und wurden schließlich wieder in ihre Stammesgebiete zurück geschickt, die mittlerweile zu einem Reservat zusammengeschrumpft waren und zum Teil auf Hopi-Land angesiedelt. Sarkastischer Weise bewahrte sie diese abartige Umerziehungsmaßnahme vor ihrer Ausrottung, der kleinere Stämme ohne großes Aufhebens zum Opfer fielen.

„Hat man dir erzählt“, versuche ich das Thema zu wechseln, „warum die Soldaten in Fort Wingate die Navajo des großen Häuptlings Manuelito zusammengeschossen haben? Nein? Weil sie ihnen beim Pferderennen unterlegen sind, nur darum. Erst wollten sie Manuelitos Männer mit irgendeiner unhaltbaren Behauptung um ihren Sieg betrügen, und als die es gewagt haben zu protestieren, eröffneten sie ohne Vorwarnung das Feuer, zuerst mit Gewehren und dann mit Haubitzen.“

Ich habe seine volle Aufmerksamkeit gewonnen.

“Ich war zufällig vor Ort, um die Blauröcke verlieren zu sehen, ihre Niederlage war von vornherein klar, aber die Bleichgesichter können nicht verlieren, niemals, es gibt keinen schlechteren Verlierer als einen weißen Amerikaner. Etliche wehrlose Frauen und Kinder, die als fröhliche Zuschauer anwesend waren, haben sie ermordet, mitten hinein gefeuert in die Menge, einfach so, die Fliehenden brutal zu Boden geworfen und der Reihe nach abgeknallt, mit ihren Bajonetten aufgespießt, in aller Ruhe, ohne Unterschied. Ein Captain, wie hieß er noch gleich... Hodt, Nicholas Hodt, wollte noch dazwischengehen, er trommelte auf die Schnelle einen Haufen Soldaten zusammen, die nicht an dem Gemetzel beteiligt waren, der einzige Gerechte ließ sogar ein paar der Mörder entwaffnen und festnehmen, aber ohne durchschlagenden Erfolg.“

Das Pferd des Navajo macht ein paar nervöse Ausfallschritte.

„Als der durchgeknallte Colonel den diensthabenden Offizieren schließlich den Befehl erteilte, mit dem rollenden Donner auf die durcheinander laufenden unbewaffneten Dine - ganze Sippen darunter, Familien, verstehst du - zu schießen, wollte der Sergeant, der für die Berghaubitzen verantwortlich war, das erst gar nicht glauben und tat so, als hätte er den Befehl überhört, aber sein Vorgesetzter hat ihm so lange wutschnaubend mit Kriegsgericht, Entlassung und Arrest gedroht, bis der Befehlsempfänger schließlich doch eingebrochen ist und bebend gehorcht hat. Den traurigen Rest kannst du dir denken, ich will’s mal dabei belassen, nur damit du weißt, wer den Krieg angefangen hat damals.“

Der junge Dine hat den Blick gesenkt und starrt auf den Boden.

„Tja, so war das. Weil sie im Pferderennen verloren haben, einfach nur deshalb. Und um sich an Manuelito für die zugefügte Schmach zu rächen, als es dem Häuptling ein paar Jahre vorher um ein Haar gelungen wäre, mit tausend Kriegern Fort Defiance zu überrennen, nachdem Rope Thrower, der Bluthund des Majors, Manuelitos Viehherden abschlachten hat lassen, sein Dorf niederbrennen und alle seine Felder gleich dazu. Zur Erstürmung fehlte kein Skalp mehr, die Blauröcke saßen rettungslos in der Falle, doch dann hat Manuelito im letzten Augenblick eingelenkt und bereitwillig Frieden geschlossen mit Major Brooks, diesen Fehler hätte er nicht machen dürfen, glaube mir, das war sein Verhängnis, seins und das seiner Dine.“

Hastobíga nickt still und traurig, ich bin zwar noch lange nicht fertig, behalte die Gedanken, die in mir hochkochen, aber lieber mal für mich, der Bursche ist bedient. Seine Cousine ist beim Long Walk „umgekommen“, so oft hat er mir die Schilderung seiner Tante inzwischen erzählt, dass ich sie im Wortlaut wiedergeben kann.

„Es war furchtbar, wie sie unser Volk behandelten. Ein paar behinderte und alte Menschen, welche die Reise nicht machen konnten, wurden an Ort und Stelle erschossen, und ihre Leichen überließ man den Krähen und Kojoten. Meine Tochter wurde müde und schwach und konnte wegen ihrer Schwangerschaft nicht mit den anderen Schritt halten und weiterlaufen. Deshalb baten wir die Armee, eine Weile zu halten, damit die Frau ihr Kind gebären konnte. Aber die Soldaten taten es nicht. Sie zwangen uns weiterzugehen, wir waren noch nicht lange weitergezogen, da hörten wir einen Schuss.“

Was wird ein Kind nach diesem Verbrechen von der Welt der Weißen erwarten?

Hörst du mich Dinetah, gelobtes Land der Navajo, hört ihr mich ihr Heiligen Vier Berge, was habt ihr dazu zu sagen, warum seid ihr so still, so redet doch mit mir, oder hat es euch die Sprache verschlagen?

Der Hesberus im Nordwesten bewegt keinen Stein, sein Gegenüber im Nordosten, der Blanca, verharrt ebenso ungerührt, dem schweigenden Taylor im Südosten reite ich entgegen, er leuchtet friedlich in der Abendsonne, der Kamm der San Francisco Peaks in meinem Rücken ruht im Schatten.

Ach, macht doch was ihr wollt, vergreiste Schläfer die ihr seid, was braucht es euch zu scheren, schlaft weiter und träumt eure ewigen Träume. Four Corners wird euer Flecken Erde neuerdings genannt, als einziges Vierländereck der Vereinigten Staaten, aber auch das muss euch nicht kümmern. 
 
Der gelbe Hund des Navajo Nèsjája Hatáli hat graue Lefzen, mühsam schleppt er seine Hinterbeine nach. Als ich die beiden heranschlendern sehe, weiß ich nicht, wer nun bedrückter seufzt, der alte Hund oder sein bekümmerter Herr. Er hat seinen Köter tief ins Herz geschlossen, „der ist mir lieb geworden wie ein Kind“, bekennt er traurig, „so lange er schnüffelt und mit der Rute wedelt“, meint er hoffend, „hat er wohl noch Freude am Leben“.

„Aber ja“, sag ich, „klar hat er das, schau ihn dir doch an, das kann noch dauern, das hat noch Zeit“, ohne mir selbst ein Wort davon abzukaufen.

„Sag mal, Desperado“, fragt mich die Wäsche waschende Navajofrau Yébìchai am Bachlauf neugierig, „wie viele Jahre trägst du wirklich auf dem Buckel?“

„Ach Koshé, zwei mal die tausend und noch ein paar zerquetschte“, antworte ich so ehrlich wie möglich, „hab irgendwann aufgehört zu zählen“. 

Sie lächelt hintersinnig, schüttelt wissend das graue Haupt und fragt nicht weiter nach.

„In Wahrheit zehn und die Sieben“, schick ich höflich hinterher, „ich wurde als Greenhorn geboren und werde als Greenhorn sterben“.

„Willst wohl ein ewiger Jungspund sein?“ Schelmisch grinst sie mich an mit funkelnden Augen.

„Hahaha, schau mich doch an“, geb ich ihr lachend raus, „nein, ein ewiger Kindskopf, das bin ich.“

„Wird schon so sein“, erwidert sie mit vertieften Lachfältchen, „es gibt auch schlimme Kinder.“

Ob die Alte weiß, wie recht sie damit hat? Als ich geboren wurde, schlugen die Berge ihre Wolken über den Gipfeln zusammen, der Fluss seine Nebelschwaden über den Wassern und die Bäume ihre Zweige über den Wipfeln. Auch das noch, riefen sie vereint im Chor, haben wir nicht genug ertragen in all den ungezählten Zeitenwenden, womit haben wir das verdient? Woher soll ich das wissen, sag ich zu ihnen, jeder bekommt, was er verdient und keiner hat verdient, was er bekommt.

Die Dörfer der Navajo sind keinen halben Tagesritt entfernt, ihre Zivilisation überragt die ihrer Mörder himmelweit. Anders als die Pueblostämme wohnen sie in sogenannten Hogans, achteckigen, aus aufeinander geschichteten Baumstämmen gezimmerten Häusern mit Erde auf dem Dach. Ihr Alltag dreht sich im Großen und Ganzen um die von ihren Kindern gehüteten Schafherden, für deren Fortbestand und Gesundheit sie heilige Gesänge singen. Auch sonst sind sie große Sänger vor allem alter Geschichten.

Gott ist eine Frau, jedenfalls bei den Navajo.

Asdzáá Nádleehé heißt die „sich verändernde Frau“, und mitgebracht haben sie die vermutlich ums elfte Jahrhundert im Südwesten eingewanderten Navaho, die sich selbst Diné sprich Menschen nennen, aus dem hohen Norden Kanadas. Von den ansässigen Pueblo Stämmen der Hopi, Zuni, Keres und Tano übernehmen die nomadisierenden Immigranten den Ackerbau, überwiegend Maisanbau, Bohnenpflanzungen und Kürbisfelder, das Anlegen von Obstplantagen, Tierhaltung in Form von Schafen und Ziegen, Rinder- und Pferdezucht, also eine überwiegend ansässige unabhängige Lebensweise und sogar Teile deren spiritueller Gedankenwelt. In ihrer Vorstellung mussten ihre Ahnen, die wissenden Leute, ganze vier Welten durchwandern, um schließlich in der ihren und fünften anzukommen. Die war bedauerlicherweise grade von einer großen Flut bedeckt, weil der Kojote sich erdreistet hatte, eins der Kinder der urzeitlichen Wassermonster zu entführen. Der Kojote macht manchmal so Sachen, jedenfalls gab er das Kindlein zähnefletschend zurück, und siehe da, dem Chaos entstiegen Sonne, Mond und Sterne, nebst Pflanzen und Tierwelt, es kam zur Scheidung von Tag und Nacht.

Aber die Wassermonster hatten sich inzwischen vorzüglich an die Weltherrschaft gewöhnt und sich zum Zwecke ihrer Aufrechterhaltung mit den Ungeheuern verbündet, einer weiteren Sippschaft urweltlicher Scheusale. Dieser finsteren Übermacht nun stellten sich die zwei Söhne der „sich verändernden Frau“ entgegen, die Mutter Erde und ihren Jahreslauf verkörpert, und gaben ihnen derart eins auf die grässlichen Rüben, dass die Ausgeburten klein bei gaben und sich ins Innere der Erde davonmachten, wo sie wohl auch hingehören und jedenfalls bestens aufgehoben sind. Worauf die Navajo-Männlein und Weiblein emsig ihren ersten Hogan bauten, ein noch recht archaisches Gebilde aus Zweigen und Matten zwar, aber immerhin. Nach den Bauplänen der wissenden Leute versteht sich, die ihnen auch sonst alles beibrachten, was sie so zum Leben brauchten. Zuallererst selbstverständlich mal das nötige Werkzeug zur Erringung und Erhaltung ihres Seelenheils, dem unermüdlichen Streben nach dem Gleichgewicht allseitiger Harmonie, Schönheit und Güte sprich Hózhó. Und wer diese aus welchen Gründen auch immer, denen der Welt der Weißen nicht bemerkenswert unähnlich, einbüßt, der wird ausgiebig von ihrem rasselschüttelnden Hataali besungen, im Rahmen eines ausufernden Rituals versteht sich, das sich über mehrere Tage hinzieht, über hundert Gesänge beinhaltet und die Zeremonie des „heiligen Weges“ genannt wird.

Bestehend aus über fünfzig Klans verteilt sich das Volk der Navajo vom Grand Canyon im Norden, dem Little Colorado im Westen bis zum Rio Grande im Osten, angrenzend an New Mexiko im Süden übers weite Land Arizonas in alle vier Himmelsrichtungen wie es sich für ein ordentliches Indianervolk gehört. Bemerkenswert ist die hochrangige Stellung der Frau unter den Navajo, die für die wirtschaftlichen und zwischenmenschlichen Belange der Klans zuständig ist, diese mit kluger Hand verwaltet und regelt und auch in der traditionellen Organisation sprich Politik der jeweiligen Gruppe ein gewichtiges Wörtchen mitzureden hat. Die Männer ziehen weiterhin nach der Hochzeit zur Familie ihrer Frauen, die Verwandtschaft wird vom Stammbaum der Mütter abgeleitet und über die weibliche Linie bestimmt, ein höflicher Navajo stellt sich mit seinem persönlichen Namen und dem des Klans seiner Mutter vor. Zwei Häuptlinge stehen einem Klan vor, ein Friedenshäuptling und ein Kriegshäuptling, wobei die Position des ersten nicht selten von einer Frau übernommen wird, das blutige Kriegshandwerk überlassen die Frauen mal besser den Männern, die Raufbolde, Wichtigtuer und Angeber sind wenigstens dafür ganz gut zu gebrauchen und sollten ihre Befähigung alsbald unter Beweis stellen müssen.

Ihre Kinderlein schlummern nicht nur in den kalten Monaten in Fellwindeln gewickelt an der knackenden Feuerstelle unter dem kuppelförmigen Dach der wohnlichen Hogans und lassen die Sturmwinde über ihre heimeligen Behausungen hinwegbrausen. Die Schäfer haben ihre gescheckten Herbstlämmchen, die noch etwas wacklig auf den dünnen Beinen sind, zu sich in den geschützten Erdbau geholt, in dessen Grube die Schäfchen nun die Menschen umlagern und das Wigwam mit ihren dampfenden Leibern zusätzlich erwärmen.

Als die Spanier kommen, bringen sie das Christentum mit und den Teufel im Tross. Der Glaube der Navajo an das „Heilige Volk“, das mit dem Wind übers Land eilt, auf einem Sonnenstrahl einhergeht oder im Donnerschlag erscheint, wird wie gewohnt als finsteres Heidentum abgetan, als Götzendienst gebrandmarkt, entsprechend unerbittlich verfolgt und als Feind der mitgebrachten einzig heilmachenden Wahrheit unterdrückt,  auch die veränderungsfähige Frau passt nicht ins imperialistische Konzept der Konquistadoren. Gegen die militärische Übermacht der eindringenden Spanier hilft den Kriegern ihr ganzer Kampfeswille nichts, sie werden geschlagen, unterworfen und zum Freiwild für Sklavenjäger erklärt. Diese barbarischen Menschenschinder lassen nicht lange auf sich warten, in Gestalt staatlich sanktionierter Truppenverbände sowohl spanischer als auch mexikanischer Herkunft fallen sie über die Ansiedlungen der Navajo her und verschleppen alles was ihnen arbeitsfähig erscheint, der unbrauchbare Rest wird erbarmungslos niedergemetzelt. Dummerweise erweisen sich die gefangenen Navajo als untauglich für den Frondienst in den Silberminen und sterben den Kannibalen weg wie die Fliegen, ohne dass man genau sagen könnte wieso und woran, worauf die Unersättlichen nach Afrika überschiffen, um im schwarzen Kontinent robusteres Menschenmaterial zusammenzufangen.

Als Mitte unseres neunzehnten Jahrhunderts im Rahmen der mexikanischen Kriegswirren endlich die Amerikaner den Südwesten annektieren, brechen keineswegs bessere Tage an für die gebeutelten Diné. Den uneinsichtigen Navajoklans scheint es doch tatsächlich nicht zu gefallen, dass ihnen Stück für Stück ihres Landes gewaltsam abgezwickt wird, weshalb die glorreichen vereinigten Staaten kurzerhand ihre Zwangsumsiedlung beschließen. Um die kulturlosen Wilden von ihrer Scholle zu vertreiben, reicht es vollständig, sie ihrer Lebensgrundlagen zu berauben, diese ehrenhafte Aufgabe übernimmt ein Colonel namens Kit Carson, bei den Navaho berüchtigt und als grausamer Menschenschlächter gefürchtet. Mit einer siebenhundert Mann starken Armee überfällt dieser große Streiter der amerikanischen Freiheit das Gebiet der Navajo, macht sämtliche Obstgärten, Getreide- und Maisfelder dem Erdboden gleich und schlachtet, um die Sache abzurunden, ihre Schaf-, Ziegen-, und Rinderherden ab, sowie aus Gründen der Gründlichkeit sogar noch die Pferde, veranstaltet ein grässliches Schlachtfest mit Strömen von Blut wehrloser Tiere und kehrt als siegreicher Bezwinger zu seinem Auftraggeber zurück.

Colonel Christopher „Kit“ Carson, der Seilwerfer, wie die Indianer ihn nennen, ist der übelste Verräter, den der Westen je gesehen hat.

Einst warf er Seile und knüpfte Bande, als Scout und Pelzhändler kannte er die Stämme, ihr Leben und Denken, monatelang lebte er mitten unter ihnen, hat ein Kind gezeugt mit einer Arapaho und teilte viele Jahre seines Lebens mit einer Cheyenne. Auch als die Militärs seine Fähigkeiten erkannt haben und ihn verdingt, blieb er eine gute Zeit lang Freund des roten Mannes, hat des Öfteren grausame Befehle missachtet und war gut zu den Gefangenen, kümmerte sich um die Verwundeten, versorgte Frauen und Kinder. Mit der Zeit aber ist der Sack steinreich geworden, erfreut sich allseitiger Beliebtheit und beginnt die Karriereleiter hochzuklettern, ist in die bessere Gesellschaft aufgestiegen und schließlich zum Speichellecker der hohen Offiziere geworden. Erst wollte er nicht gegen die Navajo in den Kampf ziehen, aber die Regierung hat ihn rumgekriegt frag nicht wie, zuletzt völlig der Ruhmsucht verfallen, wurde Kit im Krieg gegen die Dine zum eifrigen Handlanger von General Carleton, diesem geradezu besessenen Indianerhasser.

Wie tönte der US General seinerzeit mit dem Brustton der Überzeugung bis auf die Titelblätter der großen Zeitungen?
„Die Navajos sind Wölfe, die durch die Berge streifen und gezähmt werden müssen.“ Deshalb seien sie unverzüglich nach New Mexiko umzusiedeln, auf ein Land, welches von der Sonne verbrannt und „zu wüstenähnlich ist, um je einer weißen Gesellschaft dienlich zu sein“. Sprich in die Hölle von Bosque Redondo, wohin er die Mescalero bereits verfrachten hat lassen. Der Irre sprach das Ungeheuerliche aus, als ginge es um das Schlagen einer Brücke, und der Seilwerfer hat artig die Balken zusammengeknüpft.

„Wir entdeckten und vernichteten dreißig Hektar Mais. Drei Stunden später lagerten wir in großen Weizen- und Maisfeldern. Etwa sechs Hektar Weizen wurden an die Tiere verfüttert und zwanzig Hektar Mais wurden vernichtet.“

Das waren die großen und legendären Heldentaten Kit Carsons, und der gewissenlos Gewordene rühmte sich auch noch schamlos damit, die Navajofamilien dem Hungertod auszuliefern und die „Aufsässigen“ auf diesem tapferen Wege zur Aufgabe zu zwingen und ins endgültige Elend. „Politik der verbrannten Erde“ nannte Carleton diesen seinen genialen Kriegsplan. Wer nun erwägen will, das General Carletons rechte Hand Colonel Christopher Carson diesen Weg der Vernichtung aller Lebensgrundlagen nur beschritten hat, um die Navajo wenigstens vorläufig am Leben zu erhalten und ihre militärische Ausrottung durch die Truppen zu verhindern, der lasse sich nicht täuschen. Der ehrgeizige Streber hat gleichzeitig jeden Angriffsbefehl auf Komma und Jota befolgt, die Kämpfer der Dine erbarmungslos und mit aller Brutalität niedergemacht wo und wie immer er konnte, die letzten davon tief in den Chelly Canyon hinein getrieben, in das uralte Pueblo der White House Ruins, wo die Todgeweihten bei den Geistern ihrer Vorfahren Zuflucht suchten und ihre letzte Ruhestatt fanden bei den Ahnen. Nur eins der Gemetzel, das ihm bei den Navajo den hochverdienten Namen Bluthund eingebrockt hat.

Pfui Teufel kann ich da bloß sagen.

General Carleton, seines Zeichens Militärkommandant für die Navajo-Gebiete New Mexikos und nach eigenen Worten „begeisterter Ausrotter von Indianern“ ist jedenfalls überaus zufrieden mit seinem Zeremonienmeister und befiehlt die Internierung der ungefähr achttausend Navajo, die keinen anderen Ausweg zum Überleben mehr sehen als ihre bedingungslose Kapitulation, in einem einzigen viel zu kleinen Fort namens Canby, wo die Hungernden und wie Vieh Zusammengepferchten unter menschenunwürdigen Bedingungen auf ihren Abmarsch warten.

Der Todesmarsch folgt auf dem geschundenen Fuß.

Die zugewiesene und angepeilte Reservation am Pecos River ist vierhundertachtzig Meilen entfernt, die völlig entkräfteten Männer, Frauen, Kinder und Greise haben nicht einmal die nötigen Kleider am Leib für die kalte Frühjahrstemperatur, geschweige denn ausreichend Verpflegung und Versorgung sowohl leiblicher als auch medizinischer Natur. Wer aus Erschöpfung keinen Schritt mehr weitergehen kann, wird um Kugeln zu sparen mit Bajonetten zu Tode gespießt, dieselbe Sonderbehandlung erfahren schwangere Frauen, selbst wenn sie in den Wehen danieder liegen. Die verrohten Soldaten vergewaltigen wahllos und morden nach Belieben, junge Frauen werden aus dem Menschenzug gepflückt und kostengünstig in nahegelegene  Bordelle verschleppt, junge Männer unter der Hand an Sklavenhändler verkauft, die den Todesmarsch wie stinkende Aasgeier begleiten.

Etwa zweitausendfünfhundert Navajo bleiben auf diese Weise auf der endlosen Strecke, werden entweder am Wegesrand umgebracht oder sterben vorher an Erschöpfung und Entbehrung, mehr tot als lebendig endlich angekommen in der Reservation erliegen noch mal tausend Menschen dem schrecklichen Zusammenspiel von Hunger und ausbrechenden Krankheiten. Das ist der amerikanischen Öffentlichkeit im aufgeklärten Osten dann doch ein klein wenig zu viel an nicht mehr zu übersehender und tot zu schweigender Unmenschlichkeit, Mr. Präsident Grant und seine Regierung geben schließlich dem Druck der empörten weißen –man höre und staune - Bevölkerung nach und ordnen vier Jahre später die Rückführung der überlebenden Diné in ihre angestammte Heimat an. Womit ihr Leidensweg noch lange nicht zu Ende ist, denn heute leben sie umzingelt als Rechtlose und Enteignete im drastisch verkleinerten Rest ihres eigenen Landes.

Ob und wie die Frau, die sich verändert, sich und das Los ihrer Kinder noch einmal zum Guten hin verändern kann, wird sich herausstellen.
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 28 Dezember 2016, 07:21:28

Die weiß bemalte Frau


Bei den Apache wird die sich verändernde zur „Weißen Frau“, bei ihnen ist vieles ein wenig andersrum.

Bei einem seiner Streifzüge findet der Kojote eines in grauer Vergangenheit versunkenen Tages einen großen, gut verschnürten Sack, den er, seiner unbändigen Neugier erliegend, mit unverzüglichem Eifer öffnet. Blöder Weise handelt es sich bei dem verlockenden Päckchen um das Gefängnis der Ungeheuer der Finsternis, die Schöpfer Usen selbst eben darin gebündelt hatte, um die Welt vor ihrer zerstörerischen Kraft zu bewahren. Kaum freigesetzt, reißen die machtlüsternen und gewalttätigen Scheusale unverzüglich die Herrschaft an sich und tauchen die grüne Erde in tiefschwarze Nacht, was die Wesen des Lichts in arge Bedrängnis bringt und in tiefstes Unbehagen stürzt. Bis sie schließlich keinen anderen Ausweg mehr und sich genötigt sehen, den verzweifelten Kampf gegen die übermächtigen Monster der Dunkelheit aufzunehmen, den sie ob ihrer verbündeten Entschlossenheit tatsächlich siegreich beenden können.

Die weiß bemalte Frau, die sich im Freiheitskampf ob ihrer Weisheit und Klugheit vor allen Lichtgeschöpfen ausgezeichnet und ob ihres Mutes als Anführerin bewährt hat, bringt einen gesunden Sohn zur Welt, der vielleicht nicht gerade weise, dafür aber clever und gewitzt ist, vor allem jedoch furchtlos und verwegen. Und als dem draufgängerischen Bengel zu Ohren kommt, dass eins der schrecklichen Nachtgeschöpfe den vorzeitlichen Krieg der überirdischen Mächte überleben hat können und weiter sein schauriges Unwesen treibt, macht er sich sofort auf den Weg, das dunkle Monster aufzuspüren und die Restmacht der Finsternis endgültig zu vernichten. Bald schon stellt der findige Jüngling den grausigen Unhold, lockt ihn aus seinem unterirdischen Versteck, reizt das geifernde Scheusal zum Angriff und macht ihm mit einem einzigen, gut gezielten Pfeilschuss den Garaus. Dieser strahlende Held ist selbstverständlich der erste Indé, der Urvater aller Apache und ihrer weit verzweigten Stämme.

Ein Apache-Mädchen nun, bei dem die erste Monatsblutung einsetzt, wird nicht tagelang auf angewärmten Steine in eine Grube gelegt wie etwa bei den Shoshone, sondern feierlich zur Prinzessin gekürt. Ihm zu Ehren gibt es ein großes Freudenfest, bei dem zuerst maskierte Tänzer auftreten und hinterher eine viertägige Feier mit Rund- und Paartänzen veranstaltet wird, in deren Mittelpunkt die stolze Maid steht.

Für den festlichen Anlass wird das junge Mädchen in ein wunderschönes Kleid gewandet, das in liebevoller Arbeit eigens für ihren großen Tag genäht wurde, über einem befransten und mit Röhrchen verzierten knöchellangen Rock aus sechs Hirschfellen trägt es einen Poncho über den Schultern, dessen dichter Behang aus feinen Fransen bis an die Knie reicht, Kragen, Ärmelöffnungen, Nähte und Ränder sind mit farbigen Stickereien eingefasst. Der Schneiderkunst unkundig fehlt mir die Sachkenntnis, die Pracht ihres Festkleides anschaulich zu beschreiben, selten nur konnte ich ein Gewand von dieser Anmut und schlichten Schönheit bewundern.

Die Gefeierte wird schon Tage vor ihrer symbolischen Frauwerdung von einer älteren Frau begleitet und beraten, die für ihr ganzes weiteres Leben ihre Patin bleiben wird. Leitung und Gestaltung der Feierlichkeiten übernimmt der „Sänger“, ein von den Eltern ausgesuchter Fachmann für dieses Ritual, in dessen erfahrenen Händen das viertägige Fest bestens aufgehoben und sein Gelingen gewährleistet ist. In einem eigens dafür errichteten Zeremonienraum, der von der Bauweise her an ein Tipi erinnert, wird das Mädchen eingekleidet und vorbereitet. Hierbei wird es von den Frauen voller Hochachtung als „Weiße Frau“ angesprochen, als Isdzánádleeshé, die Urmutter aller Apache, die es in diesen besonderen Tagen verkörpert. Vor ihrem großen Auftritt wird die Glückliche von ihren älteren Betreuerinnen kräftig durchmassiert, sozusagen körperlich geformt, wodurch sie Gesundheit und Stärke erhalten soll. Um ihre erlangte Frische zu beweisen, darf die Zelebrantin viermal um den Korb rennen, in dem sich die für die Zeremonie wichtigen Gegenstände befinden, unter anderm verschiedene Rasseln und eine große Adlerfeder, was zudem ihre gespannte Vorfreude noch ein wenig mehr zum Fiebern bringt.

Die Verköstigung der Arbeitsgruppe mit Obst und Nüssen übernimmt selbstverständlich ihre Familie. Abends dann wird ein großes Feuer angezündet, das die ganze Nacht über den Tanzplatz erleuchten wird. Ein Ruf erklingt, wie aus dem Nichts tauchen geisterhaft die Zeremonientänzer aus der Dunkelheit, am ganzen Körper schwarz bemalt, in Händen lange mit Zickzacklinien bemalte Stäbe, die Gesichter hinter schwarzen Lederkapuzen verborgen, auf dem Kopf das einem Geweih ähnliche Geäst, an dem zu kleinen Bündeln geballte Holzstäbe baumeln, die ihren Tanz rasselnd und klappernd untermalen. Obgleich begeistert begrüßt von der anwesenden Festgemeinde dürfen die Maskierten keinesfalls berührt werden oder mit Namen angesprochen, da sie Berggeister sind, die Lehrmeister und Beschützer der Apachen, eigens von den Höhen herabgekommen, um mit ihrem Tanz Unglück, Krankheit und Böses abzuwenden im Allgemeinen, vor allem aber von der Gefeierten.

Mit den ersten Sonnenstrahlen des nächsten Morgens wird die Prinzessin mit weißer Farbe und Abalone-Muscheln verziert, den Symbolen von Weiß-Bemalte-Frau, das Mädchen tanzt sich schon mal warm in ihrem etwas abseits aufgebauten Zeremonientipi, begleitet von den heiligen Gesängen, die sie auf Geheiß der weiß bemalten Frau und Stammmutter der Apache ihr Lebtag begleiten sollen bis ins hoffentlich hohe Alter. Nach dem sakralen Tanz steckt ihr die Mutter die Adlerfeder in die Haare und schmückt ihre Stirn mit einer schön geschliffenen Abalone-Schnecke, und es folgt das eigentliche Ritual. Das Mädchen kniet hierzu der aufgehenden Sonne zugewandt auf einem ausgebreiteten Hirschfell, mehrere daruntergelegte Decken schonen seine Knie, es hebt die Arme auf Kopfhöhe mit nach vorne gerichteten Handflächen, schließt die Augen und empfängt den Segen ihrer Urahnin, der Weißen Frau, so wie diese voreinst von der Sonne befruchtet wurde, ihm zur Seite steht seine Patin, hinter ihm aufgereiht schlagen ein paar Zeremonienmusiker ihre Handtrommeln, pfeifen mit Apacheflöten und singen den Ritualgesang. Der Zeremonienmeister segnet die Kniende, indem er einen kleinen Korb mit Süßigkeiten, Maiskörnern und Münzen über ihren Kopf entlädt, was den Leckereien und kleinen Schätzen übernatürliche Kräfte verleiht, aber nicht nur diesen, sondern allen, die in gefüllten Körben rund um die Gesegnete aufgestellt sind. Die männlichen Verwandten verteilen hierauf den Inhalt der Körbe - Früchte und allerlei süße Sachen nebst Geldstücken - an die Gäste, wer eine Münze abbekommt, darf damit rechnen, dass ihm nie das Geld ausgeht.

Das Mädchen darf sich nun auf einem bequemen Fellsitz am Tanzplatz niederlassen, darauf hocken bleiben oder auch ein wenig mittanzen, das Hirschfell soll zudem seine Fleischversorgung symbolisieren und garantieren, auf dass es sein ganzes Leben lang keinen Hunger leiden muss. So wohnt die junge Frau den Festivitäten bei, die ihr zu Ehren stattfinden. Kinder werden im Lauf der Feierlichkeiten zu dem Mädchen gebracht, damit es sie segne, indem es den Kleinen in den Mund bläst, alte Leute und Kranke kommen zu ihm, damit es sie von ihren Gebrechen heile, da die Maid über diese außergewöhnliche Begabung verfügt, während sie sich in ihrem einmaligen Übergangsstadium befindet, ja selbst Schamanen und Häuptlinge knien vor ihr nieder, um von ihr berührt zu werden und Segen zu empfangen.

Beim großen Tanzvergnügen herrscht Damenwahl, den eigenen Ehemann und sämtliche Verwandten ausgenommen suchen sich die Frauen, die ohne jeden Zweifel im Mittelpunkt des Geschehens stehen und den Laden schmeißen, ihre Tanzpartner aus,  getanzt wird die ganze Nacht durch, am Ende der Feier haben die Auserwählten zudem die Ehre, ihre Partnerinnen für den Tanz bezahlen zu dürfen. So geht das vier Tage und Nächte lang, erst in der vierten Nacht schließt sich das gefeierte Mädchen dem Reigen an und tanzt fröhlich durch bis zum Morgengrauen, abschließend rennt die Gesegnete ein letztes mal um den Korb herum und beendet damit das große Tanzfest zu ihren Ehren, dem sich ein großes und reichhaltiges Festessen anschließt, die Leute haben schließlich ordentlichen Hunger nach der ganzen Tanzerei. Wenn alle satt sind und zufrieden, wird gemeinsam das Zeremonialzelt abgebrochen, bevor die geladene Festgemeinde ihre Heimreise antritt.

So wird ein Apache Mädchen zur Frau, es geht auch anders wie man sieht.

Wie um die Sache auszugleichen, sind es bei den Apache die Buben, die ihre Initiation als weniger angenehm erleben, um nicht zu sagen als verdammt hart. So müssen die armen Kerle zum Beispiel einen Mund voll Wasser nehmen und durch die flirrende Sommerhitze der Wüste einen Langstreckenlauf hinlegen, den Blick immerzu auf die Sonne gerichtet, ohne das Wasser schlucken zu dürfen. Im Winter dürfen sie ein Loch in die Eisdecke der zugefrorenen Flüsse schlagen, nach der Plackerei ins kalte Wasser hüpfen und sich ein erfrischendes Bad gönnen. Und ähnliche Übungen zur Leibesertüchtigung und Abhärtung mehr, die richtige Männer aus ihnen machen sollen, derlei Drill überlassen Mütter und Frauen selbstredend den Vätern. Andrerseits erklärt das, weshalb es den Apache gelingt, ganze Armeen von Blauröcken an der Nase herumzuführen und zum Narren zu halten, ohne dass ihre Verfolger auch nur in Sichtweite herankommen können an die Gejagten, die ohne Ermüdungserscheinungen wochenlang durch die größte Gluthitze reiten oder laufen und tagelang ohne Wasser aushalten. Wenn es sein muss, legen Apache zu Fuß locker um die sechzig Kilometer am Tag zurück, beritten mühelos über hundert, ohne ihre Pferde zu schinden dabei.

Wer in der Wüste lebt, der muss lernen in ihr zu überleben, um das zu vermögen, muss er ihre unbarmherzigen Gewalten nicht nur kennen, sondern vor allem bezwingen und beherrschen. Die Apache können das ohne jeden Zweifel. Nur der kann in der Wüste Heimat  finden, der selbst zur Wüste geworden ist. Als Desperado kennst du jeden Karnickelbau, jede Erdhörnchenkolonie, jedes Schlangennest, jede Spalte, jeden Klafter und jedes Loch Treibsand, alles, was einem Pferd die Fesseln und seinem Reiter den Hals brechen kann. Du weißt, wo die Bandidos auf der Lauer liegen und aufständische Apache ihren Hinterhalt stellen. Du kennst jeden Abgrund und jede Sackgasse, jedes vergiftete Wasserloch und jeden Irrweg. Da trägst du schon ein wenig Verantwortung mit dir rum, ob es dir nun passt oder nicht.

Das verrohte Bandido Gesindel da draußen fragt nicht danach, ob da einer nur zufällig des Weges kommt, was er vorhat oder im Schilde führt, ob er Frau zuhause hat und Kinder, in wichtiger Mission unterwegs ist oder mit höherem Auftrag. Wenn diesen Aasgeiern einer in die Quere kommt ohne es zu tun, sein Gesicht ihnen nicht gefällt oder die Art wie er im Sattel sitzt, wird er ohne Grund und Begründung umgelegt und unbeerdigt liegengelassen wie ein verendetes Stück Vieh. Es macht dem Gesocks ganz einfach Spaß, Menschen –mit Vorliebe Indianerfamilien - zu erschießen, vergewaltigen, mit allen Vieren ausgestreckt an den Boden zu pflocken, zu pfählen, rädern, bis zum Hals einzugraben, zu Tode zu schleifen, an ihre Rösser zu fesseln und vierzuteilen. Das ist purer Zeitvertreib für sie und Zerstreuung ihrer tödlichen Langeweile. Sie spüren dabei weder Gewissensbisse noch Mitleid, sondern böse Lust und Befriedigung.

Wer grade mal frisch aus der Stadt geritten kommt, mag sich das nicht recht vorstellen können, es ist aber nichtsdestoweniger so und wird ihm im Falle eines Falles die unerfahrene Haut nicht retten. Und ob der Desperado nun dafür geliebt oder gehasst wird, immer wieder mal einem Ahnungslosen oder Leichtsinnigen zu verkleckern, er solle mal lieber wenn ihm sein Leben lieb ist die Richtung wechseln oder sein Vorhaben als Ganzes in den Wüstenwind schießen, darf und muss ihm vollkommen gleichgültig sein. Und das ist es auch. Er hat einfach schon zu viele Knochen bleichen sehn im glühenden Wüstensand. Klar ist seine Spaßbremse nicht gern gesehen. Grade war ich so gut unterwegs, mein Pferd flog über die dürre Erde, weit und breit keine Gefahr und kein Hindernis in Sicht. Woher soll er auch wissen, dass die Apache sich in Steine und Adler verwandeln können, unsichtbar im Sand eingraben und durch kleine Holzröhrchen atmen, bis sie seinen Hufschlag nahe genug und über sich haben, um zuzuschlagen wie ein tödlicher Blitz aus heiterem sonnenklaren Himmel, eine Klapperschlange aus ihrem sicheren Versteck, die Kehle des Burschen ist lautlos durchschnitten, noch ehe der arme Kerl begriffen hat, was vor sich geht, vermutlich reitet er immer noch, grade eben mal tot wie er ist, wenn er’s denn sein darf.

Wer die Wüste kennt, dem scheint es nicht allzu verwunderlich, dass sich eine Gruppe vierzig ortskundiger Apache den Nachstellungen einer mehr als hundertmal so großen Übermacht dauerhaft entziehen kann. Die Halbherzigkeit der innerlich zerrissenen Scouts, die ihre flüchtigen Verwandten insgeheim bewundern, dürfte das ihre zu der Unsichtbarkeit und Unauffindbarkeit des Häufchens beitragen. Wer stört sich schon daran, dass Apache, ob Mann ob Frau ob Kind, jederzeit vor den Augen ihrer Feinde spurlos in Felswänden verschwinden und auf Nimmerwiedersehen in den Stein tauchen können, aus dem Nichts offensichtlich nicht zu übersehender Unsichtbarkeit auftauchen und mit markerschütterndem Geschrei und todbringender Gewalt über ihre völlig überraschten Verfolger herfallen, um nach erledigter Arbeit lautlos wieder in der Selben zu verschwinden, sich im Wimpernschlag eines Augenblicks in Adler, Falken, Springmäuse und Kojoten ja sogar Staubwolken und Gestrüpp verwandeln und dergleichen vorteilhafte Veränderungsfähigkeit und außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit an ihre unwirtliche Umgebung mehr. Wer weiß schon, dass Apache gleichzeitig an zwei weit voneinander entfernten Orten am gegenüberliegenden Rand der Wüste gesehen werden, ihre Anzahl jederzeit verdoppeln oder verdreifachen können und mit der bloßen Kraft böser Bannsprüche und Verwünschungen ihre Feinde in einen grauenhaften qualvollen Tod treiben. Dass sie weder Wasser noch Nahrung zu sich nehmen brauchen und dennoch tage- ja wochenlang frisch und munter und überaus kampfeslustig durch die Gegend jagen und reiten wie Wesen aus einer anderen, geisterhaft unheimlichen Welt.

Wer nicht unmittelbar am eigenen Leib einen ihrer aus dem Hinterhalt abgeschossenen Pfeile im Fleisch zu spüren bekommen hat, lauscht diesen Geschichten voll schaudernder Lust, bei deren Entstehung sich die abergläubische Furcht vor dem Unbekannten der blinden, tauben und des Geruchssinns beraubten Soldaten auf glänzende Weise mit den Ammenmärchen und alten Mythen der Scouts ergänzen konnte. Das jedenfalls ist Lesart und schlüssige Erklärung zeitgemäß aufgeklärter Historiker des unbegreiflichen Geschehens, die eben schlicht und ergreifend keinen blassen Dunst von den Geheimnissen der Wüste und ihrer Bewohner haben und diesen Ort des Schreckens nur vom Hörensagen kennen. Die Abteilungen der Blauröcke, die im Laufe der Nachstellungen spurlos im Nichts verschwanden und auf rätselhafte Weise von der Wüste verschluckt wurden, könnten ihnen eine etwas andere Entschlüsselung der Ereignisse übermitteln.

So sie es denn noch könnten.

Ein Punkt nur ist es, kaum ein Schmerz,
nur ein Gefühl, empfunden eben...

Der große Dichter Theodor Storm ist Kraut und ich hab's versaut, will meinen vergessen...

So seltsam fremd wird dir die Welt,
und leis verlässt dich alles Hoffen,
bis du es endlich, endlich weißt,
dass dich des Todes Pfeil getroffen.

Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 02 Januar 2017, 15:44:26

Baumstammhochzeit


Von Gluthitze und Trockenheit der Wüste wird viel erzählt, nicht aber was es bedeutet, wenn es in der Wüste tatsächlich mal regnet. Du kannst hundert Jahre in ihr leben und wirst nicht dagegen gefeit sein, von einem Gewittersturm mit Wolkenbruch überrascht zu werden, die drohende Gefahr eines Wetterumsturzes innerhalb einiger weniger Minuten lässt sich mittels noch so reicher Erfahrung weder erkennen noch erspüren, nicht einmal von den Tieren.

Gemächlich und behäbig wie gewohnt reite ich auf Infinis breitem Rücken durch ein ausgetrocknetes Flussbett, als wie aus dem Nichts hochschwanger tiefschwarze Regenwolken vom Meer her über die Sierra Nevada gekrochen kommen und sich innerhalb von Minuten sämtliche Schleusen des Himmels öffnen. So schnell ich kann, hülle ich mich in meinen Regenumhang, ein wettertaugliches  Geschenk der Kiowa, und sehe die Wüste vor Wasser nicht, das in riesigen Tropfen und armdicken Güssen von oben herab geschossen kommt und den steinharten Boden mit einem Meer laut klatschender platzender Fontänen unzähliger Einschläge überzieht, mit einem Getöse wie von prasselndem Trommelfeuer tausender Gewehrsalven. Da ist es nicht allzu verwunderlich, dass ich das dröhnende Rauschen in unserem Rücken erst vernehme, als es bereits zu spät ist, seiner Ursache auszuweichen. Als ich mich umschaue, sehe ich eine gewaltige Schlammlawine voller Geröll und Geäst auf uns zuschießen, die an beiden Seiten an die ausgedörrten Uferhänge klatscht und sogar lechzend drüberschwappt. Nicht die Spur einer Chance dem Inferno zu entkommen, verrichte ich in aller Hast meine letzten Gebete, als sich von hinten ein Baumstamm zwischen Infinis Beine schiebt, der allem voran aus der tosenden Masse ragend daher gepfiffen kommt wie ein gewaltiger Speer.

Und ab geht die Post und der Höllenritt, bald sind wir in eine dicke Schlammschicht gepackt, aber wenigstens bleiben unsere völlig überforderten und infolgedessen leeren Köpfe überwiegend über Wasser, Schlick, Dreck, Schlacke oder aus was auch immer die talwärts jagende Brühe sich zusammensetzt. Es geht dahin mit irrsinniger Geschwindigkeit, jähe Fälle hinab und über aufgestaute Wälle, durch Steilwandkurven und per Luftweg über Sprungschanzen, und selbst in flachen Abschnitten verliert der Strom nichts an Fahrt. Hin und wieder gelingt es mir, eine Hand soweit frei zu bekommen, mir wenigstens ein Auge damit frei zu wischen, während sich die andere verzweifelt würgend um Infinis Hals klammert, aber alles, was ich sehe, ist braune tobende schäumende Gischt unter uns, vor uns, um uns her, hinter uns und immer wieder auch über uns, so dass ich dieses vergebliche Unterfangen alsbald auf und mich meinem Schicksal ergebe.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so unterwegs waren, eine ganze Weile dürfte es wohl gewesen sein, denn als wir irgendwann in den Strom des Colorado River münden und in hohem Bogen in seine Fluten pfeifen, klatschen und tauchen wie eine Harpune, ist es bereits Abend geworden hinter den auseinanderreißenden Regenwolken. Infinis feister Ranzen ruht noch immer wie angegossen auf dem Rücken des Baumstamms, der sich als Monstrum von enormer Länge herausstellt. Während wir an seinem vorderen Ende kleben, ich eine Klapperschlange über meinem Scheitel rasseln höre, die sich fest um meinen Hut geschlungen und gewickelt hat, spüre ich in meinem Rücken die Gegenwart verschiedener anderer Individuen, die da spucken, husten, röcheln, nach Luft schnappen und fauchen, und als ich mich sicherheitshalber mal zu ihnen umwende, hocken da ein Puma, ein Stachelschwein, ein Stinktier und ein Kojote mehr oder weniger aufeinandergeschichtet und zu einem dichten Knäuel zusammengestaucht auf dem Rundholz und glotzen mich mit acht nicht genau zuzuordnenden, verblüfften großen Augen an und ich nicht minder verdutzt zurück, ehe sie ihre ineinander verknoteten Gliedmaßen entwirren und sich, Richtung Flussufer schwimmend und paddelnd, davonmachen.

Und darunter kommt sie zum Vorschein, unter dem entwirrten und entschwundenen Bündel aus Fell und Stacheln zusammengekauert klammerte sie sich an den Stamm und tut es immer noch, hebt ihren Kopf, starrt mich zwischen triefenden Haarsträhnen mit erschrocken ratlos geweiteten Augen an und ich sie und es ist um mich geschehen.

„Wie kommt es, dass du nicht bei deiner Sippe bist?“

Ich hab mich im Sattel umgedreht und sitze ihr gegenüber, die sich aufgerichtet hat und mich aufmerksam mustert. Infini prustet erschöpft und erledigt, die Wellen des Colorado plätschern um meine klatschnassen Stiefel.

„Wie kommt es, dass du die Sprache der Schoschonen sprichst, Blassgesicht?“

Ihre Augen funkeln mich herausfordernd an. Sie seufzt und fährt mit gesenkter Stimme in fließendem Englisch fort. „Fremd ist mir meine Familie geworden, nicht erst in der Schule der Weißen, fremd geworden ist mir das Land der Lebenden, vertrauter bin ich dem der Toten.“ Sie redet ruhig und klar wie jemand, der weiß wovon er spricht.

„Nun“, sag ich, „wer den Tod nicht fürchtet, der muss mich nicht fürchten.“

Schwing mich aus dem Sattel und hantele mich durchs Wasser vor zur Spitze des Baumstamms, an der sich allerlei Treibholz und Gestrüpp verfangen haben, und beginne sie von ihrem Ballast zu befreien. Dabei bekomme ich einen Schenkelknochen mit dazugehörigem Becken in die Hände, und mögen die sterblichen Überreste auch menschlicher Natur sein, sie eignen sich hervorragend für ein Paddel und lassen sich problemlos zu einem solchen zusammenstecken.

„Komm nach vorn“, sag ich, „setz dich in den Sattel, und ich rudere uns ans Ufer.“

Sie tut wie ihr angeboten, ich klettere ein Stück dahinter auf unser sonderliches Kanu und beginne das Becken als Paddel in die Strömung des Flusses zu wuchten. Dabei bemerke ich zu meiner Verwunderung, dass uns am Ufer  in hurtigen Sprüngen der Skunk begleitet, mit erhobenem Schweif, und immer wieder schnuppernd zu uns herüber näselt. Der Stamm ist schwer und träge, schnell sammelt sich der Schweiß auf meiner Stirn. Sie holt ein Schälchen aus ihrem um den Leib gebundenen Beutel und füllt es mit klarem Wasser, dreht sich nach mir um, um sie mir zu reichen, gerät dabei aus dem Gleichgewicht und droht aus dem Sattel zu rutschen, als ich sie grade noch am Handgelenk erwische und mit kräftigem Ruck in die rechte Sitzhaltung zurückziehen kann.

„Ja“, sagt sie, „vom ersten Blick an, da ich dich mit meinen Augen sah.“

Ich verstehe nicht recht, was sie damit meint, sie liest es in meinem fragenden Gesicht und fährt fort: „Hättest du von der Schale getrunken, wären wir zueinander fortan gewesen wie Bruder und Schwester, stattdessen aber hast du mit festem Griff mein Handgelenk umfasst und somit um mich geworben und um meine Hand angehalten. So ist das Sitte bei den Liebenden der Shoshone.“

„Diesen Brauch kannte ich gar nicht“, meine ich mit selbstverständlicher Klarheit im Kopf, „hab noch nie eine Shoshone gefreit, aber nun, ich will es ebenso und freue mich, ja bin überglücklich über deine Antwort.“

Als ich endlich nach einigen missglückten Landungsmanövern den Stamm auf einer Sandbank zum stranden bekomme, sind wir ein Paar und Mann und Frau, als wären wir es immer schon gewesen und nie etwas anderes möglich. Infini grunzt erlöst, als er endlich wieder aufgeweichten Boden unter die Hufe bekommt und seinen Bauch mit schmatzendem Geräusch von der harten rauen Unterlage befreien kann. Ein Pferd ist da um geritten zu werden, schnaubt er mürrisch, und nicht um zu reiten. Die längst vergessene Klapperschlange windet sich von meinem Hut, schnellt wie ein Pfeil von seiner Krempe und verschwindet lautlos im Ufergebüsch. Inzwischen kommt begeistert das Stinktier, ein betagtes Weibchen, angesprungen und leckt meiner Shoshone ausgiebig und innig das lachende Gesicht, die es herzend in ihre Arme nimmt wie ein Kind.

„Das ist Chinga. Hab ich in der Wüste aufgelesen, von Räude zerfressen, nackt wie ein Mull und dünn wie ein Wiesel, und mühsam ins Leben zurückgeholt, seitdem sind wir unzertrennlich, du hast mich genommen, also hast du auch sie genommen, uns gibt’s nur im Doppelpack.“

„Schon recht“, sag ich, „aber unter meine Decke kommt mir der kleine Stinker nicht.“

„Dann wird sie sich auf deine Füße legen“, antwortet sie lachend, „oder noch besser auf dein Gesicht.“

„Wo sind wir hier eigentlich?“ frage ich, um den Gedanken zu verdrängen und die Sache erst mal zu vertagen.

„Am Fluss in der Tiefe, der aus der großen Schlucht gekommen ist“, antwortet sie und blickt sich aufmerksam um, “am jenseitigen Ufer im Land der Chemehuevi.“

„Ach“, mein ich, „die kenn’ ich schon ewig, wenigstens vom Namen her, seit meiner Zeit an der mexikanischen Grenze. Auch durch den großen Canyon bin ich schon geritten, hab’ im Pueblo der Geister geschlafen, das Tal der Monumente durchquert, den Rio Grande flussaufwärts nach Santa Fe, gottverlassenes Drecksnest, ach was soll’s... das Tal der Götter kenn’ ich und über den großen Salzsee bin ich schon geritten, durch den Höllen-Canyon und den Schlangenfluss entlang. War auch schon hoch oben im Norden, das Eismeer hab’ ich gesehen und den weißen Bären, bin mit den Waldmenschen –psst-  in den ewigen Wäldern herumgezogen, die Küsten entlang gewandert hinauf und hinunter, den Wall der großen Berge hab’ ich bezwungen und das wogende Präriegras durchpflügt, aber in dieser Ecke war ich tatsächlich noch nie.“

„Dann wird es höchste Zeit“, kommentiert sie meine großen Sprüche trocken.

So kam ich zu meiner Hózhó, einer Shoshone vom Bergvölkchen der Cupeno, und auf welchem Wege sie auf unserem schwimmenden Untersatz gelandet ist, weiß sie nicht mehr zu sagen, sie kann sich in etwa so detailliert an das gesamte Geschehen erinnern wie ich es tue, nämlich überhaupt nicht. Von Infini ganz zu schweigen, der das Ganze bis heute für einen schlimmen Albtraum hält, der nie stattgefunden haben kann.

Es macht wenig Sinn einen Mühlstein, der zum Grabstein zu werden droht, anzubohren, er hat Löcher genug und ist sprengsicher, alles was bleibt ist ein gemeinsames Wuchten, Zerren, Ziehen, Aushebeln und Schieben, bis er sich dazu herablässt, sich von der Stelle zu rühren und wegzubewegen. Jesus hatte meines Wissens auch einen mächtigen Blitzengel nötig für diese Befreiungsaktion.

Eine kinderlose Squaw hat es nicht leicht in den kleinen Familiengruppen des nicht minder kleinen Gebirgsstammes. Mehr zu leisten und arbeiten fühlt sie sich gedrängt als die gebärenden Weiber, um ihren Makel auszugleichen. Ihr Mann wendet sich früher oder später ab von ihr, um seine Nachkommenschaft mit Hilfe eines anderen Schoßes zu gewährleisten, und fällt zu allem Unglück auch noch der düstere Geist der Traurigkeit auf sie, wird sie von ihrer Sippe gemieden, als hätte eine ansteckende Seuche sie befallen, weil der finstere Tsoápa Besitz ergriffen hat von ihr, um womöglich den ganzen Clan zu verderben. Stirbt zudem ein wichtiges Familienmitglied um diese Zeit oder erkrankt lebensbedrohlich, ist ihre - zwar nur vorübergehende aber nicht minder schmerzliche - Verbannung beschlossene Sache. So zieht sie los mit ihrem Bündel, in der Einsamkeit Antwort zu finden auf das Rätsel ihres harten Loses, wochenlang irrt sie herum und wird von den Leuten gemieden wie ein Schreckgespenst, ein Dämon aus der Unterwelt, bis sie alle Hoffnung fahren lässt und beschließt, in der Wüste den Tod zu suchen. So wie es auch die Alten ihres Volkes in Notzeiten tun. Der Regengesang des Medizinmannes auf den kahlen Gipfeln hat ihr das Leben gerettet, ein Leben, das sie verloren glaubte samt Heimat und Familie, der herbei gesungene Wolkenbruch sie vor dem selbstgewählten sicheren Tod bewahrt und auf einen wild durch die brodelnden Fluten schießenden Baumstamm gespült. Wo sie Halt und Bestimmung fand in einem todessehnsüchtigen Desperado. Auch diesen hat der Tanz des Regenmachers oben in den nackten Bergen ins Leben zurück befördert, das er nicht länger mehr ertragen wollte, aufgegeben hatte wie eine leer geschürfte Goldmine und verlassen wie ein vertrocknetes Wasserloch, ihm für immer den Rücken gekehrt wie einer ausgestorbenen Geisterstadt.

Eine Kaktusblüte ist zwar stachlig, aber deshalb noch keine Rose, das mag wohl sein. Nun aber, da ich meine goldene Rose im Herzen habe, finde ich meine Finger genug zerstochen und vernarbt von meinen Pflückversuchen, nur um wieder und wieder die Erfahrung gemacht haben zu dürfen, dass die Königin der Blumen ihre Blüten abgeworfen hatte, bevor ich sie noch in die Vase stecken konnte. Eine getrocknete Kaktusblüte indessen hält jahrzehntelang.

Wie ich genau an meine verschiedenen Frauen gekommen bin vor meiner für mich bestimmten, weiß ich im Nachhinein nicht mehr so genau zu sagen. Man könnte mit biblischen Worten sagen „es begab sich, es geschah“. Einmal abgesehen von ortsbedingt zeitlich beschränkter Zielstrebigkeit war meines Wissens, nein meiner absoluten Gewissheit nach vorsätzliche Absicht und Planung nie im Spiel, gestern ritt ich allein und am Morgen darauf erwachte ich neben einer Braut, so in etwa ungefähr alles in allem über einen Kamm geschert, und jedes Mal kam der Morgen gegraut, an dem ich alleine erwachte und das zerknitterte Lager neben mir verlassen fand. Eines Tages jedenfalls hatte ich den Glauben an die Liebe endgültig verloren, und mit ihm den an mein Leben, den Bezug zu meiner Vergangenheit, meiner Gegenwart, zu allem und jedem einfach, vor allem aber zu mir selbst, mein Ichbinich war mir gründlich und unwiederbringlich scheinend abhanden gekommen. Ich verstand noch weniger als vor meiner Geburt und kam mit all den Lebenslügen rundherum nicht mehr klar, zumal meine eigenen in leuchtenden Farben über die ihren gepinselt waren, von mir, dem Schicksal oder einer Geisterhand, sie prangten in fetten Lettern an der Wand wie ein Menetekel. Ich hasste und verabscheute mich, das Leben und den Rest der Welt, alles war mir zuwider und ich seiner und meiner überdrüssig ohne Aussicht auf Erlösung. Hätte mir wer eine Insel angeboten, ich hätte mich umgehend eingeschifft noch vor Bekanntgabe ihres genauen Standorts, aber alle Inseln schienen einer verheerenden Sturmflut zum Opfer gefallen zu sein, weggespült und auf Nimmerwiedersehen von den Wogen der Zeit verschluckt, rundum wogte das aufgewühlte Meer und meine Nussschale fasste Wasser bis zum Kiel, da half kein Schöpfen und kein Rudern, die Haie warteten hungrig und gefräßig, umkreisten meine sinkende Scholle mit funkelnden Augen und gefletschten Zähnen.

Schwarz war die Nacht, wie war die Nacht so schwarz und ihr Elend wollte kein Ende nehmen.

In schrecklicher Öde erwachte ich, aller Träume selbst beraubt, ausgeplündert und verhärmt, ein im Grunde armseliger Tramp in Liebesdingen, ein verbeulter Kinderkreisel, der sich unablässig in immer schneller werdendem Kreiseln um seine verlorengegangene Mitte drehte, bis diese sich in Nichts auflöste, weil über allem Leben der fade Geschmack der Lebenslüge hing wie der Gestank von zähem schmierigem Fettgbelag. Nacht brach herein über mich mit bisher nicht gekannter Macht, Gewalt und Finsternis, verschlang den letzten spärlichen Rest an Lichtfetzen in meiner müden Seele, füllte ihre Kammern vollends aus und verdunkelte sie rettungslos. Der Kreisel war endlich umgekippt, ein paar mal kreuz und quer durch die Stube geschossen und schließlich in einer mit Spinnennetzen verhangenen Ecke zum Stillstand und Liegen gekommen. Und da lag ich nun, bis eine traurige Squaw des Weges kam, meiner ansichtig wurde und mich kurzentschlossen an sich und mit sich nahm.

Eine Desperada, meine Desperada.

Meine Squaw spazierte schnurstracks lächelnd in meine finstersten Gemächer, sah sich in aller Seelenruhe um und meinte: „Schön hast Du’s hier, ein bisschen düster vielleicht, aber das stört mich nicht, ich mag das.“

Und das Leben grinste über beide Ohren wie das Totenkopfäffchen des Leierkastenmannes. Manchmal findest du am Ende des Endes ein Ende ohne Anfang, das zum Anfang ohne Ende wird.

Die Chemehuevi haben unsere Ankunft natürlich mitverfolgt, die wir in hohem Bogen, vom Scheitel bis zur Sohle in eine dicke Schlammschicht gepackt, auf einer mächtigen Woge geritten und wie Wesen aus der Welt der Geister in ihren Fluss geschossen kommen. Um in Gestalt eines Geisterreiters mit Schlange um den Hut, gemeinsam mit einer Shoshone Squaw, im Bündel in friedlicher Eintracht mit ihren Schutzgeistern vereint, wieder aus den Fluten aufzusteigen, was offensichtlich nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat bei den zugegebenermaßen wohl ein wenig Überforderten. Ihre wie aus dem Nichts erscheinende Delegation aus fünf hochgestellten Stammesmitgliedern ist nicht nur ausgesprochen prächtig gewandet, sondern bemerkenswert freundlich gesinnt, ja geradezu ehrerbietig. Mit meinem von überall her aufgeschnappten Sprachgemisch kann ich mich zufriedenstellend soweit mit ihnen verständigen, auf dem Weg nach Irgendwohin in friedlicher Absicht gekommen zu sein und ohne böses Mörderpack im Gefolge, wie sie es oft genug erleben mussten.

Ja, wenn wir wollten und Gefallen finden am Land ihrer Ahnen, könnten wir auch gerne hier bleiben, erwidert ihr Ältester zu meiner Verblüffung, der Fluss habe Fische genug für zwei heimatlose Menschen, und an meine Squaw gewandt, nur ein paar Meilen flussabwärts sei eine Furt hinüber ins Land der Shoshone, mit denen sie in Frieden leben würden seit vielen Sonnen aus der Zeit ihrer Väter, willkommen seien wir und eingeladen, teilzuhaben an den Gaben des großen Erschaffers, der für alle seine Kinder sorgt unter dem Sternenzelt. Ich tausche noch obligat einen alten Dollar mit dem Konterfei des weißen Vaters gegen eine kunstvolle Muschelkette, und ebenso lautlos, wie sie gekommen sind, verschwinden die imponierenden Gestalten auch wieder. In ihrer erlesenen Gesellschaft befand sich auch eine ansehnliche würdige Squaw, die ich offenbar ohne es zu merken etwas zu intensiv studiert hatte, jedenfalls kommt mir ein Mokassin an die Birne geflogen, kaum dass die Abordnung außer Sichtweite ist.

„Die Muscheln bedeuten, dass wir in ihren Stamm aufgenommen sind“, erklärt mir meine Squaw ohne weitere Erläuterung, während ich mir verwirrt den Kopf reibe.

„Schau an“, mein ich sprachlos, „und das für einen lumpigen Dollar:“

„Den wird der alte Häuptling voller Stolz an einer Kette um den runzeligen Hals tragen wie ein heiliges Bündel“, erwidert sie lachend und fährt fort „mein Volk und die Furt können mir gestohlen bleiben, aber etwas weiter flussaufwärts gibt es einen schönen Flecken Land, wo wir sicher einen geeigneten Platz finden werden für uns.“

Gesagt getan.

Abgesehen von der Anmut der äußerer Erscheinung, der Schönheit der schwarzweißen Fellzeichnung und der ulkigen Art der Fortbewegung hatte ich bis dahin nie das Bedürfnis gehabt, nähere Bekanntschaft mit einem Skunk zu machen. Seit ich einmal beobachten hab können, wie eine Skunkmutter ihre spielenden Jungen gegen einen unerfahrenen Kojoten verteidigte, weiß ich, dass das Stinktier seinen Namen nicht nur vollkommen zu Recht trägt, sondern ihm alle Ehre macht. Obwohl ich den Gestank der Ladung nur ausgedünnt zugeweht bekam, den der vorwitzige Jäger an seiner Nase ertragen musste, reichte mir diese ätzende Duftmarke vollends, um einem Skunk nicht mehr als unbedingt nötig näher zu kommen.

Umso erstaunter bin ich über die Klugheit dieser wehrfähigen Geschöpfe, wie sie mir in Chinga begegnet. Lernfähig noch in fortgeschrittenem Alter und gleichzeitig mit einem unbeugsamen Eigensinn ausgestattet, verlangt mir das pfiffige Wesen einiges an Überzeugungskraft und Überredungskunst ab, wenn es um Fragen der Rangordnung innerhalb unserer kleinen Sippe geht, in der sie bei aller Gehorsamsbereitschaft nie ihren ausgeprägten Charakter aufzugeben gewillt ist sehr zu meiner Freude und Bewunderung, wenn er mich auch mitunter in Zornwallung zu bringen imstande ist. Uns verbindet denn auch eine auf Vertrauen fußende Freundschaft, wohingegen ihr im gemeinsamen Überlebenskampf gewachsenes Verhältnis zu Hózhó ohne Umschweife als auf Gegenseitigkeit beruhende innige Liebe bezeichnet werden kann. Was nicht heißen will, dass sie nicht auch mir in kurzer Zeit ans Herz gewachsen ist, vielleicht sogar gerade ob unserer zwischenzeitlichen Machtkämpfe, hat sie ihre Grenzen meine Geduld betreffend erst einmal zufriedenstellend ausgelotet, fügt sie sich umso liebenswürdiger und gewinnender.

Zudem haben ihre Drüsen, mittels derer sie ihren Pestgestank weit zu verspritzen ausgerüstet ist, infolge ihrer Erkrankung ihre Tüchtigkeit fast vollständig eingebüßt, was deren regelmäßige Verstopfung nach sich zieht und die Notwendigkeit, sie ebenso regelmäßig auszudrücken, eine nicht unbedingt erquickliche, aber alles in allem leidlich erträgliche  Angelegenheit, die sie recht geduldig über sich ergehen lässt. Ansonsten müffelt sie vielleicht ab und an ein wenig, wie auch Hunde es mitunter tun, ein gründliches Bad im Fluss genügt, den unangenehmen Geruch zu zerstreuen, und auch ein solches lässt sie ergeben an sich abperlen, wenn auch mit dazwischen gestreuten Unwillensäußerungen. Meist läuft sie aufgeregt schnüffelnd im Zickzack neben uns her, wird sie irgendwann müde, richtet sie sich bittend vor Infini auf und ich pack sie in meine Satteltasche, wo sie sich behaglich zusammenrollt und in einen tiefen Schlaf fällt, aus dem sie so schnell nichts reißen kann.

Sie fühlt sich bei mir vollkommen sicher, und das macht mich stolz und froh.
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 09 Januar 2017, 07:43:33

Unerbetene Gäste


Ich hätte meinem Entschluss treu bleiben sollen, mich überhaupt nicht mehr mit Leuten meiner Hautfarbe abzugeben, ich wollte mir wohl beweisen, dass es auch unter denselben gute geben muss.

In den großen Städten musst du ehrliche Leute mit dem Vergrößerungsglas suchen wie eine Haarnadel im Präriegras, nicht selten werden sie genau deshalb regelrecht vertrieben aus dem Bauch dieser Molochs und siedeln sich abseits der großen Straßen irgendwo am Rand der Wüste an, wo es so grade noch Wasser gibt, eine sprudelnde Quelle, einen mäandernden Bach oder die Rinne eines kleinen Flusslaufs. Sie folgen der Spur der kleinen Wäldchen verkrüppelter Bäume, da kann man selten danebenliegen, manchmal zapfen deren senkrecht in den steinigen Grund gewachsenen Wurzeln auch unterirdische Wasseradern an, die nur durch einen tiefen Brunnen ans Licht befördert werden können, aber auch das ist mit dem nötigen Willen und der dazugehörigen Menge an Schweiß machbar.

Gemeinsam mit Hózhó halte ich mich seit einigen Monaten in einer dieser blutjung taufrischen Kolonien auf, deren Völkchen sich innerhalb der Mauern einer großräumigen, verlassenen Hazienda angesiedelt hat, nicht weit vom San Juan Fluss gelegen in der fruchtbaren Senke einer Gebirgskette, nördlich von Mesa Verde und nicht allzu weit von der Grenze hinüber nach Durango, ein gut gewählter Ort, an dem sich die Leute da niedergelassen haben, doch so abgelegen diese Oasen auch liegen mögen, bleiben sie natürlich dennoch nicht unentdeckt. Und es dauert nicht lange, da sind diese zerbrechlichen Inseln das Ziel und Opfer von allen möglichen zwielichtigen Gestalten und getriebenen Verrückten, die woanders nicht mehr landen konnten mit ihren absonderlichen Missionen und außergewöhnlichen Aufträgen und nun ihr Glück in der Abgeschiedenheit der unbedarften Provinz suchen. Die Regenmacher und Wünschelrutengänger sind da noch die harmlosesten Gesellen, denen magst du Glauben schenken oder nicht, beides bleibt gleichermaßen ergebnis- und folgenlos, die Abgesandten höherer und jenseitig angesiedelter Institutionen indes sind da schon ein anderes und durchaus bedrohliches Kaliber. Denn wer denen nicht glauben will und ihrer mahnenden Stimme unverzügliche Folge leisten, der kommt grundsätzlich mal in die Hölle.

So wie diese merkwürdige Tante, die mit vollbeladenem Packesel auf einem schneeweißen Maultier daher geritten kam unter dem Schatten eines pilzförmigen und mit Kordeln behangenen Handschirmes und die großen Taten und Wunderwerke des Allmächtigen pries an allen Ecken und Enden und zu jeder Zeit, noch ehe sie ihr stattliches und komfortables Zelt aufgeschlagen hatte, das ihr Grauer auf dem Rücken trug. Und niemand, der daran vorbeischlenderte oder bei ihr vorbeischaute auf einen Plausch, wurde verschont mit der unmissverständlichen Aufforderung, sein sündiges Leben auf der Stelle und ohne störrische Widerrede ihrem Herrn und Erlöser Jesus zu übergeben ohne Zögern und auf Gedeih und Verderb. Wofür sie immer die dazugehörige Stelle aus ihrer zerlesenen Bibel parat hatte und diese laut vernehmlich rezitierte und mit drohendem Zeigefinger phrasierte.

Eine Weile ging das soweit ganz gut, die einen sagten schulterzuckend lächelnd „aber das gehört ihm doch sowieso“, die andern meinten höflich„nun ja, wenn überhaupt dann nur freiwillig, im Augenblick sehe ich aber ehrlich gesagt keinen dringenden Bedarf“, aber mit der Zeit kamen die gutmütigen und aufgeschlossenen Leute dahinter, dass eine jede ihrer Antworten die falsche war und keine diejenige, die die Predigerin hören wollte. Denn es ging ihr ja wie allen Ihresgleichen gar nicht darum, dass die verlorenen Seelen zu ihrem jeweils persönlichen Erlöser geführt werden, sondern eben zu ihrem ganz persönlichen und speziellen, der da für alle andern und die Menschheit an sich den Anspruch auf Ausschließlichkeit besaß, und wenn er noch so viel haarsträubenden Unsinn von sich gab durch ihren unwürdigen Mund- und da war dann doch so allerhand Unfug und Wirrwarr dabei.

Was die Gottgesandte aber überhaupt nicht juckte, weil es eben das heilige und unumstößliche Wort ihres Heilands war, der ihr als Einziger das rechte Verständnis dafür anvertraut hatte, auch wenn's der Daniel oder sonst ein biblischer Prophet irgendwann irgendwo mal zu irgendwem gesagt und von sich gegeben hatte und eben nicht der Mann aus Nazareth. War schon recht großzügig und abenteuerlich dazu, was da Jesus alles in den Mund gelegt wurde an Zitaten anderer Leute anderer Zeiten und Epochen. Und wer's nicht wortwörtlich und Buchstabe für Buchstabe so schluckte, der war selbstverständlich ungehorsam und befand sich auf dem direkten Weg in die ewige Verdammnis. Nun war mir derlei Endzeitsermon nur allzu gut bekannt aus den wüsten und unsicheren Pionierzeiten und ich hörte gar nicht so recht hin, die Unruhe aber und der Unmut, die er in der Kolonie verbreitete jeden Tag ein Stück mehr, waren alsbald beim besten Willen nicht mehr zu überhören und sehen. Und da dachte ich bei mir: „Nö, das haben die lieben Leute hier nun wirklich nicht verdient, da gibt es weiß Gott geeignetere Kandidaten für.“

Ich nehme mir die eiserne Lady also mal in aller Ruhe vor, die da gleich wieder und wie nicht anders zu erwarten mit den Qualen der Hölle für alle Ungläubigen und Götzendiener anfängt, und frage sie ganz unverfänglich: „So so, die Hölle also. Warst du denn schon mal da?“

„Gott bewahre!“, entfährt es ihr erschrocken.

„Na, dann hör bitte auf damit, hier andauernd von Dingen zu reden, von denen du keine Ahnung hast.“

Für ein paar Sekunden erfassen mich ihre plötzlich hellwach gewordenen Augen mit aufblitzendem Funkeln, und ich kann die Gedanken förmlich lesen, die ihr durch den Kopf schießen: „Verdammt, der Hurensohn war da schon, und das nicht nur einmal, mit diesem Satansbraten ist nicht zu spaßen, dem macht keiner mehr was vor,  Hölle auf Rädern aber auch!“

Gesagt hat sie indes nicht mehr viel. Noch am selben Abend hat sie ihre sieben Sachen gepackt, am frühen Morgen des nächsten Tages ihr Zelt abgebrochen und ist weiter gezogen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Vermutlich hat sie, kaum außer Sichtweite, den Staub aus ihren Schnürstiefeln geklopft.

Nun denn, die Wüste kann's verkraften.

Nur wenige Tage später und kaum das wieder Ruhe eingekehrt ist in der Siedlung kommt ein stolzer Caballero angeritten auf ebenmäßigem Rappenhengst, Sattel und Zaumzeug mit Silberbroschen beschlagen, einen flachkrempigen Hut auf dem hoch erhobenen Haupt, den Schnurrbart zu geschwungenen Bögen gezwirbelt, den Rücken durchgestreckt , in schwarzes Leder gekleidet vom Scheitel bis zur Sohle seiner spanischen Stiefel, so trabt er gemessenen Hufschrittes die kleinen Häuserzeilen entlang und lenkt alle Blicke auf sich, noch ehe er von seinem -bei näherer Betrachtung schon etwas angestaubten- Pferd gestiegen ist.

Ich kenne Seinesgleichen und hab nichts gegen diese schillernde Sorte Hombres, klar, er hat die Welt gesehen, die schönsten Frauen aller Länder geliebt, spricht alle Sprachen, kennt jedes Lied und ist ganz offenkundig ein hervorragender Tänzer, gibt er jedenfalls vor, den schon nach ein paar wenigen steifen Schritten zeigt sich, dass er seine besten Tage bereits weit hinter sich gelassen hat und sein aufrechter Gang vielmehr den Rückenschmerzen geschuldet ist denn der edlen Haltung, die er vor sich herträgt wie einen bunten Strauß stachliger Strohblumen. Was noch übrig geblieben ist vom Glanz seiner verwegenen Tage, ist seine Liebe zum Tequila und der unerschütterliche Glaube, ein unwiderstehlicher Herzensbrecher alter Schule zu sein, wobei er offenbar übersehen hat, dass das alte Schulhaus schon vor langem abgerissen wurde oder gerade noch zum Schweinestall taugt.

Schon der erste Korb, den er nach eleganter Verbeugung und ein paar rezitierten Versen anzüglich säuselnder Zweideutigkeiten von einer selbstbewussten Lady vor seine dürren Beine geklatscht bekommt, bringt den abgehalfterten Casanova verletzter Eitelkeiten gnadenlos ans Tageslicht der brennenden Wüstensonne, und zum Vorschein kommt alsbald ein ziemlich heruntergekommener Strolch und hämischer Spötter, der dem bösen und hinterlistigen Weibe die Schuld gibt für seine abgelaufene Zeit, dem Leben für seinen fortschreitenden Alterungsprozess und Gott für seine Sterblichkeit. Und ehe er sich's noch versieht, ist der Strahlemann zum Lackaffen mutiert.  Bald meiden ihn die Frauen wie einen widerlichen Lustmolch, in nicht geringerem Maße aber zieht er mit seinen lächerlichen Attitüden und plumpen Annäherungsversuchen den Zorn ihrer Männer auf sich, da nützt auch keine noch so schmachtend vorgetragene Minne mehr, der klapprig gewordenen Hengst mit seinen gezinkten Karten hat ausgespielt, bevor er noch seine Mandoline aus der Azteken-Decke wickeln konnte. Was er aber um die Pyramide nicht wahrhaben wollte und erst recht nicht einsehen, es gab überhaupt keinen Zweifel für den edlen Botschafter von Liebe und Lust, von allen dafür geliebt, bewundert, umworben und verehrt zu werden.

„Hör mal, Caballero“, sag ich zu ihm, „vielleicht hast du's noch nicht bemerkt, aber das hier ist nicht Mazatlán und keine schummrige Cantina, in der sich dir willige Senoritas für einen halben Peso an den Hals werfen, um dem Elend ihrer Bettelarmut zu entkommen, hier kommst du nicht so besonders gut an mit deinen schlüpfrigen Sprüchen. Ojo, wenn du so weitermachst, wird dir noch eine erboste Lady einen Tonkrug über den Schädel ziehen, und glaube mir, ich weiß wie sich das anfühlt. Nicht dass ich dir mit den Scherben auch noch die letzten Haarwurzeln vom Kopf pflücken muss, die holde Denkerstirn ist so schon hoch genug, wenn ich das mal so anmerken darf mit Verlaub. Pass auf deinen Skalp auf, sitzt ja noch ganz fest soweit, ist nur ein gutgemeinter Rat.“

Hätte es wissen müssen und hab's auch gewusst, dass dieser bei ihm nicht so ankommt wie vorgesehen, selbstverständlich fühlt sich der  junggebliebene Haudegen von mir einfältigem Bauerntölpel, Gilipollas und Pendejo tief in seiner Ehre gekränkt, völlig egal, ob er nun noch eine solche hat oder nicht, ein verbitterter Tattergreis und lustfeindlicher Griesgram sei ich und dergleichen mehr, was von meiner Unwissenheit zeuge und meiner armseligen Engstirnigkeit, nun, iEso me importa una mierda, ich kenne derlei Litanei in und auswendig und lasse sie mit gleichmütiger Ergebenheit über mich ergehen, da jeder Widerspruch für die Katz ist und jede noch so höfliche Bitte um Mäßigung vergebne Liebesmüh. Irgendwann ist er denn auch fertig damit und beginnt die Umstehenden auf selbe Weise zu beschimpfen und verhöhnen, seiner unwürdig sei dieses gottverlassene und vergessene Drecksnest am Ende der Welt, der er einen Namen habe in den großen Städten dieses herrlichen Landes und weit über seine Grenzen hinaus. „Fragt sich nur welchen“, denk ich müde.

Noch während ihm die grob vor den Kopf Gestoßenen in aller Güte beschwichtigend ans Herz legen, er möge doch sein ohnehin gefundenes Glück erneut in den leuchtenden Palästen der Städte suchen, hat er schon sein Pferd gesattelt und ist kurz darauf hinter einer Staubwolke verschwunden, die Senoritas in der nächstbesten Cantina warten schon sehnsüchtig auf seine Einkehr und werden ihren Gönner mit gebührendem Jubel empfangen, en tierra de ciegos el tuerto es rey.

Saludos amigo, buena suerte.

Aller guten Dinge sind drei, heißt es, das scheint offenbar auch für die schlechten zu gelten. Denn kaum hat sich die kleine Gemeinschaft vom schrillen Miauen des eitlen Pfaus erholt, um sich wieder in Ruhe dem Bau ihrer schlichten Steinhäuser und dem Pflügen und Sähen, Jäten und Ernten ihrer kargen Felder zu widmen, kündet eine feine Staubfahne am Horizont bereits vom Nahen eines weiteren Ankömmlings. Schon von weitem kann man den seltsam altbacken gekleideten Reiter aus vollem Halse den Yankee Doodle Dandy singen hören, das Revolutionslied und die Hymne der Amerikaner aus dem Unabhängigkeitskrieg.

Nun mag aber einer aus der Kolonie dieses Lied um das Fort nicht leiden, weil es die Soldaten der Unionstruppen im Sezessionskrieg gerne geschmettert haben nach ihren verlustreichen und entsetzlichen Siegen gegen die Konföderierten, was sehr unangenehme Erinnerungen wachruft in dem damals noch jugendlichen Dixie, die ihm bis heute schlaflose Nächte bereiten. Die andern kümmern sich eher nicht darum, ein Paar kommt sogar aus dem Norden Alaskas, die andern irgendwo aus dem mittleren Westen oder von der Ostküste, jedenfalls verwundert es keinen von ihnen, als der von den Gräueln des Krieges für sein Lebtag Gezeichnete dem überzeugten Yankee sein Missfallen an dem pathetischen Gesang auf recht unverblümt ehrliche Weise bekundet. Denn alles in allem nervt sein schräger Bariton ohnehin und schmerzt gehörig in den Ohren.

Der wackere Streiter für die vereinigten amerikanischen Staaten indes singt nur noch lauter und inbrünstiger, wobei er eine zusammengerollte Fahne aus seiner Satteltasche wühlt und diese alsbald -und unablässig patriotische Nordstaatenlieder singend - am Stamm eines verdorrten Baumes befestigt, bis sie rauschend zur Entfaltung kommt und samt Sternen und Streifen im Wüstenwind zu flattern beginnt. Hier unter dem Banner der Freiheit wolle er seine einfache Hütte bauen, verkündet der Fähnrich lauthals, damit alle weithin sehen, dass der neue Geist der flammenden Liebe zum großen und vereinigten Vaterland auch in der rückständigen Provinz des tiefen Südens seinen siegreichen Einzug gehalten habe. Was dann doch wie eine schallende Ohrfeige in die verblüfften Gesichter der Kolonisten klatscht, die sich völlig zu Recht nicht als Hinterwäldler erleben, sondern als Sinn suchende Wegbereiter und Pioniere in einer lebensfeindlichen und unwegsamen Umwelt. Was sie den seltsamen Patrioten dann auch recht unmissverständlich wissen lassen, sie würden hier weder eine Unionsflagge brauchen noch die entsprechenden Hymnen dazu, und er möchte sie doch bitte den Präriehunden vortragen, wenn er sie denn unbedingt loswerden müsse, die werden ihm schon bellen, was sie von seiner musikalischen Darbietung halten.

Da kramt der Spinner sichtlich erbost eine Trommel und eine Querflöte aus seinem Gepäck und beginnt damit einen derartigen Krach zu machen, dass die schlafenden Nachtvögel zu Tode erschreckt aus den Höhlen ihrer Kakteen fliehen. Weder lässt er sich beschwichtigen noch beruhigen, kein noch so gut gemeintes Wort erreicht den Tobenden mehr, unbelehrbare Rebellen seien die Anwesenden und Feinde der amerikanischen Idee einer verbrüderten Staatengemeinschaft, wie der große und ehrwürdige George Washington sie gelehrt habe und die tapferen Helden des Unabhängigkeitskrieges mit ihrem Blute erstritten, alles seine direkten Vorfahren versteht sich, deren kühner Geist ihn erfülle in seinem einsamen Kampfe für die hehre Würde dieses seines wundervollen und unvergleichlichen Landes, für das sein Herz brenne mit einem Feuer, das niemand der ehrlosen Gesellen aus ihrer verräterischen Bande von Heimatlosen jemals zu ersticken mag.

„Will ja auch keiner“, sag ich zu ihm, „es juckt sie nur reichlich wenig, was da wo in dir zündelt für etwas, von dem sie nichts haben außer Scherereien und Schikanen, weil sie ihren eigenen Weg gehen. Oder was glaubst du, warum sie hier ins Nichts und Nirgendwo der Wildnis ihre bescheidenen Hütten hingestellt haben? Weil sie den Zirkel auf die Dollarnoten gezogen haben und damit den Stadtplan von Washington entworfen? Die ehrenwerte Gesellschaft mauert da frei vor sich hin, aber mitzimmern darf nur, wer sich einen Logenplatz leisten kann, kannst dich ja mal bei denen bewerben. Aber sieh zu, dass du dir keinen dritten schweren Fehler mehr leistest, dann darfst du russisch Roulette spielen mit voller Trommel, zwei hast du ja schon gemacht.“

„Woher willst du das wissen?“, zischt er mich lauernd an, plötzlich sehr schweigsam geworden.

„Will ich ja gar nicht, ich weiß es eben. Und noch eins weiß ich: Als deine edlen Helden die Engländer zum Teufel gehauen haben und ganz nebenbei die lästigen Irokesen ausgerottet, da steckte dein Opa grade mal in den Windeln, und die waren weder gestirnt noch gestreift. Versuch es doch mal unten bei den Hopi damit, die stehen auf knallige Farben, da wirst du sicher einen Abnehmer finden für deine Streifensternchen, und von deinem schrägen Singsang verstehen sie sowieso kein Wort. Aber wenn du vermeiden willst, dass sich dein Fetzen hier nicht wirklich entflammt, dann roll ihn mal wieder schön sorgfältig zusammen und sieh zu, dass du Land gewinnst in diesem deinem wunderbar unvergleichlichen Land.

Oh ja, ich bin gebürtiger Amerikaner, ein gottverdammter dazu, mehr davon als der ganze Rest, das darfst du mir glauben. Ich war schon durch und durch amerikanisch, als ich noch Mexikaner gewesen bin, verstehst du das? Eine Klapperschlange hat mich mal in den Allerwertesten gebissen, als ich über ihr ein Geschäft tätigen wollte, zu dem auch der Washington zu Fuß hingehen muss, hätt' ich an ihrer Stelle genau so gemacht, war ihr auch nicht böse deshalb. Da hatte ich rote Streifen bis hinauf an die Schultern und bis hinunter in die Kniekehlen und hab tagelang nur Sterne gesehen, ein glühender Patriot war ich da, lodernd gebrannt hab ich innerlich und bin auf allen Vieren gekrochen, mit den Kojoten hab ich gesungen die ganze Nacht durch, das war eine Hymne, Mann, eine wahre Hymne, die sich hören lassen konnte.

Damals gab's hier ja auch noch Kojoten, ganze Scharen davon, bevor sie per Regierungsdekret abgeknallt wurden und an Giftködern verreckten, fünf Millionen davon, verstehst du, fünf Millionen! Aufrechte amerikanische Bürger, die schon seit ewigen Zeiten in diesem herrlichen Land gelebt hatten, als ihre feigen Mörder noch gar nichts von seiner Existenz wussten. Aber ein paar wenige wirst du schon noch finden, die haben so ein prächtiges Stück Leinen immer gern, das sie nach Herzenslust zerreißen können und sich darum balgen, sie spielen nämlich für ihr Leben gern musst du wissen. Kannst ihnen ja was vorspielen auf deiner verstimmten Schottenpfeife, da heulen sie dazu, da bin ich mir sicher.“

Und während ich also so locker und entspannt mit ihm am Plaudern bin, murmelt er was von „konnte ja kein Mensch wissen, dass sie hier die Irrsinnigen frei rumlaufen lassen“, holt seine Flagge ein und macht sich ohne viel Federlesens aus dem Staub.

Abends dann sitz ich mit Hózhó und den Zuwanderern ums Lagerfeuer, die sind alle ganz durch den Wind und erschüttert wegen des alten Spinners, da mein ich nur: „Diese Sorte gab's immer schon und wird es immer geben, dagegen bist du machtlos. Die wachsen aus der Scholle ihrer Heimaterde wie die Brennnesseln, hacke eine davon aus und sieben wachsen nach. Da ist es besser, du verbrennst dir erst gar nicht die Finger an dem Nachtschattengewächs. Ich meine, wenn ich euer Rinnsal da mit den Tränen füllen würde, die ich wegen dieser Kerle hätte weinen müssen und nicht geweint hab, weil ich keine mehr übrig hatte, würde die Springflut eure schöne Ansiedlung davon spülen wie Nichts. Ihr müsst Gräben um eure Häuser ziehen, möglichst tief und breit, und einen Damm errichten zum Ufer hin, der nächste Wolkenbruch kommt bestimmt, dann schwillt das Wässerchen hier zum Sturzbach an. Ich könnte euch zeigen, wie man aus Maiskolben gutes Bier brauen kann oder wo ihr die besten Mescalwurzeln findet, aber sonst bin ich wohl zu nichts zu gebrauchen.

Ich meine, was ist denn groß passiert? Waren doch völlig harmlos, diese zugegebenermaßen etwas sonderbaren Vagabunden. Früher, als hier noch der Silberlöwe herumschlich und der Adler hoch oben am Himmel seine Kreise zog, da gab's hier noch Banditen und sonstige Halsabschneider, war nicht ganz ungefährlich die Gegend hier, aber ich weiß auch nicht, wie soll ich sagen - da wusstest du wenigstens, warum du deinen Colt an der Hüfte trägst, so ein einsamer Nachtritt, Mann, da hattest du Gänsehaut, obwohl's kein bisschen kalt war, und alle deine Sinne waren gespannt wie eine Bogensehne, und wenn da ein Käuzchen schrie, konntest du nie so genau wissen, ob es nicht die Apache sind, die jede deiner Bewegungen beobachten, war schon schön irgendwie, aufregend und geheimnisvoll. Und wenn nun heute mal eine Kaktuseule nachts in euren Fensterluken sitzt, dann verjagt sie nicht wie eine unheilvolle Todesbotin, die sind einfach nur unendlich neugierig, die kleinen Nachtgespenster, das ist alles. Interessieren sich ansonsten nur für Mäuse und wollen euch bestimmt nichts Böses.“

Muss ihnen ja nicht unter die Nase reiben, dass ich so manche Nacht mit dem alten Uhu plaudere, der sich behaglich auf dem Fenstersims niederlässt auf einen Schwatz, sonst glauben die am Ende wirklich noch, ich sei verrückt. Und noch viel weniger brauchen sie etwas von dem zu wissen, was mir mein gefiederter Freund so alles zu erzählen hat, denn erstens würde es ihnen nicht schmecken und zweitens nichts ändern. Denn die wirkliche Gefahr, die einer gefährdeten Kolonie wie dieser droht, kommt nicht von außen, sie lauert und schlummert in ihrer Mitte und kommt geifernd und Speichel triefend aus ihrem Versteck, kaum dass die Wortführer des Häufleins sich wohnlich im Herrschaftshaus der Hazienda eingerichtet haben. Und auf fast unheimliche Weise vom Geist der Herrschsucht befallen werden und vom verführerischen Sog der Macht verschlungen wie Fliegenlarven vom Molch.

„Ach weißt du, Boss, wenn ihr die Lady hier reinlasst, dann werden Hózhó und ich mal weiterziehn, das musst du verstehn. Ich kenn einen Mann, der den Aufstand der Dakota erlebt hat, damals im Bürgerkrieg, als die Santee halb wahnsinnig vor Hunger über die Siedlungen und Farmen hergefallen sind und ein entsetzliches Gemetzel angerichtet haben, und ich kann es dem Fellow nicht krumm nehmen, wenn er bis heute nicht besonders gut auf die Eastern Sioux zu sprechen ist, kann ich wirklich nicht... aber die Gör hier, die war ja damals noch nicht einmal geboren.“

Sag ich eines unschönen Tages zum stellvertretenden Gemeindevorsteher des kleinen Ortes, an dem sich's leben lässt und auch für mich und meine indianische Frau leben ließ, bis... ja bis eben diese Lady durch den offenen Torbogen gefahren kam in ihrem Zweispänner, sich umschaute und rief: „Hier gefällt's mir, hier will ich bleiben.“

Wogegen ja auch niemand was einzuwenden hatte, Platz und leerstehende Hütten gibt es mehr als genug, aber kaum dass die Lady eine Bleibe gefunden hat, die ihr entspricht, und sich eingerichtet mit dem, was sie in ihrem Karren mitgebracht hatte, fängt sie auch schon an, schreckliche Schauergeschichten zu erzählen von blutrünstigen und mordlüsternen Rothäuten, die sie auf ihrem beschwerlichen Weg hierher gesehen habe irgendwo zwischen Monument Valley und Chaco Canyon, und dass sie nicht verstehen könne, warum diese nicht in einer möglichst weit entfernten Reservation „untergebracht“ seien wie alle anderen Eingeborenen auch, wo keiner sie sehen muss und sie niemandem gefährlich werden können. Auch faul herumlungernde Mexicanos habe sie sehen müssen und dreckige Gypsys mit Kinderhorden, und dass es eine Schande sei, dass dieses nutzlose Gesindel sich hier noch immer herumtreiben dürfe, ja durchgefüttert werde von ihrer Hände Arbeit in diesem wunderbaren Land amerikanischer Freiheit, während es weiße Farmer gäbe, die da hungern müssten und die Wege und Straßen sich nach wie vor in einem verheerenden und kaum passierbaren Zustand befänden.

Anfangs gefallen ihre hetzerischen Reden den Leuten nicht, die im Großen und Ganzen versuchen, mit den Einheimischen und Alteingesessenen in ebenso friedlicher Koexistenz zu leben wie mit den wenigen Ureinwohnern, die es hier überhaupt noch gibt, aber da beginnt die durchaus nicht aufs Schandmaul gefallene Lady die üblichen und bewährten Schauermärchen zu erzählen von dunkelhäutigen Vergewaltigern und mordbrennenden Indianern, ja sie selbst sei ein Opfer dieser verbrecherischen Gräueltaten und Ungeheuerlichkeiten und habe von daher nicht nur das Recht, sie anzuprangern, sondern die heilige Pflicht, wie es die großen Präsidenten vor ihr getan, die kein Pardon kannten mit diesen heimtückischen Untermenschen und der gemeingefährlichen Brut roher und unverschämter Wilder. Die Namen der von ihr angeführten Vorbilder hab ich vergessen, ist sowieso einer wie der andere und keiner eine Silbe wert.

Auch ich habe beim Aufstand der Comanche meiner verlorenen texanischen Heimat so dies und das gesehen, was mir nicht besonders gefallen konnte, ganz zu schweigen von den ersten Jahren des Cochise Krieges, aber nun, Krieg ist Krieg, angefangen haben ihn in beiden Fällen die weißen Eindringlinge, und wer anhand des einen oder anderen unglückseligen Scharmützels eine ganze Nation, ja eine Nation von Nationen über einen Kamm schert und rigoros verdammt, der ist entweder fanatisch verblendet oder hoffnungslos bescheuert. Außerdem hat er ganz offensichtlich keinen Schimmer davon und will ihn auch nicht haben, wie verschwindend diese Vorfälle sind im Vergleich zu den namenlosen Massakern der Weißen an den Bewohnern dieses freien Landes, das schon lange keines mehr ist. Er stellt die Wahrheit einfach auf den Kopf, weil sich der tiefsitzende Hass gegen alle Menschen, die von keiner weißen Haut umhüllt sind, auf diese redliche Weise als berechtigte Empörung einer überlegenen Rasse präsentieren lässt - nicht nur ein alter verschimmelter Hut, sondern hochgradig widerwärtige Agitation und gemeingefährliche Idiotie dazu.

Will außer mir, Hózhó und einer denkfähigen und kämpferischen Mitbewohnerin der jungen Ansiedlung plötzlich keiner mehr so sehen, weil sie ja ein bemitleidenswertes Opfer sei, die arme Lady, ein weißer Mitmensch, der Respekt und Verständnis verdiene, weil er schließlich wisse, wovon er rede und deshalb das selbe Recht habe, sich hier niederzulassen wie alle andern auch. So schnell geht das, und im Nu haben alle Ideale ihre Gültigkeit verloren und einem neuen Platz gemacht, das dann doch alles in allem naheliegender ist und einleuchtender als diese theoretischen und überkommenen alle. Weiß ist eben weiß, und braun ist gleich rot, sprich fremdartig und folglich von geringerem Wert, kann deshalb also ruhigen Gewissens zur Seite geschoben werden und hintangestellt, wenn es darum geht, eine verwundete und notleidende weiße Seele zu retten - auf Kosten der dunkelgefärbten finsteren Seelen, die da draußen verwundet werden von Ihresgleichen und eine bittere Not leiden, die sie so niemals zu spüren bekommen wird und mit Gewissheit nie erlitten hat, ja keiner von ihnen.

All das hab ich den beiden stellvertretenden Gemeindevorstehern in aller Ruhe zu erklären versucht, von denen einer wenigstens halbwegs zuhörte, ohne allerdings meine Einwände in irgendeiner Form zu unterstützen, während der andere nur vor sich hin tobte und alle meine vorgetragenen Bedenken energisch von sich wies, hier herrsche freies Bleiberecht für alle, eine Stadtgründung wie die von ihnen geplante verlange nun mal Zugeständnisse, sie würden diese überflüssigen Befestigungsmauern ohnehin demnächst einreißen … „da werden sich die Bandidos aber freuen“ murmle ich müde... und als endlich der Bürgermeister zu Rate gezogen werden kann, der kurzzeitig außer Landes war und bei seiner Rückkehr eine hoffnungslos zerstrittene Kolonie vorfindet, und zwar derart tiefgreifend und unversöhnlich, dass er immerhin klug genug ist, die Lady zum unverzüglichen Verlassen der Hazienda aufzufordern, schon allein um des lieben Friedens Willen, war das Ding für uns längst gelaufen. Denn wer nun glaubt, dass mit dem Verschwinden des Zankapfels auch nur annähernd ein solcher einkehren würde in der aufgebrachten und einhellig umnachteten Gemeinde, der unterschätze nicht das Überlegenheitsgefühl und Sendungsbewusstsein jeder Art weißer Neuansiedlungen. Wie nicht anders zu erwarten, ist natürlich der Desperado mit seiner erschütterten Squaw der böse Unruhestifter, und deren weiße Verbündete eine streitsüchtige und rechthaberische Unperson, die ohnehin schon viel zu lange für Unfrieden gesorgt habe in ihrem kleinen Paradiesgarten, weil sie die unangenehme Angewohnheit besitzt, offen und geradeheraus ihre Meinung zu sagen mit mangelndem Feingefühl und ohne die nötige Rücksichtnahme, mit dieser möglicherweise bei irgendwem anecken zu können, der sie nicht mit ihr teilt.

Während nun ich als geübter Sündenbock stoisch alle Beschimpfungen und Bezichtigungen über mich ergehen lasse und keinen Millimeter von meiner Meinung abzuweichen wage, was den endgültigen Beweis erbringt, dass es sich bei mir um einen engstirnigen Weißenhasser und alles andere als ungefährlichen Indianerfreund handeln müsse, packt Hózhó tieftraurig unsere sieben Habseligkeiten zusammen und wir verlassen die bis dahin recht heimelige Niederlassung über Nacht, begleitet von unserer unbeugsamen Mitstreiterin, die sich des offenen Aufruhrs gegen die Grundprinzipien der Gemeinschaft schuldig gemacht hatte, indem sie sich mit klaren Worten auf unsere weißmenschenfeindliche Seite stellte. Die Gute ist vollkommen außer sich, dass sich die bis dahin von ihr hochgehaltene und mit vollem Einsatz verteidigte Gemeinde als ein Haufen feindseliger Rassisten herauskristallisiert hat, als die Frage sich stellte und eine Entscheidung verlangte, was mich wiederum überhaupt nicht im Geringsten verwundert, ehrlich gesagt hatte ich von Anfang an nichts anderes erwartet und war dem leidigen Thema bis dahin so gut es ging ausgewichen, um mir und Hózhó wenigstens eine Zeit der Erholung zu gönnen auf unserer bis dahin recht beschwerlichen Suche nach einer Bleibe.

„Wisst ihr, Männers“, sag ich beim Wegreiten zu den Siedlern, „ihr wollt verstehen, was nicht verstanden werden darf, ich muss euch also nicht verstehen. Aber eines frag ich mich – wie wollt ihr in der Wüste überleben, wenn ihr ihre einfachsten Gesetze nicht kennt? Die Karten sind gegen euch gepackt, das Leben serviert einem so manchen feinen Fischkessel, ist heute noch alles in Apfeltorten-Ordnung, werdet ihr schon morgen den Fassboden schrappen, wenn euer Blitz in der Pfanne erloschen ist, wenn's Schieben zum Stoßen kommt und ihr mit all eurer Ellbogenschmiere die Stalltür schließt, nachdem das Pferd gestohlen wurde, seid ihr gewaltig das Flüsschen hinauf und es bleibt euch die Wahl zwischen 'nem Felsen und 'nem harten Platz, dann wird’s zwischen einem 'es geht um' und 'es geht rum' keinen Unterschied mehr geben, einem 'man kommt rum' und 'man kommt um', ehrlicher Injun und ich meine nicht vielleicht, was an euren Klotzkabinen soll besser sein als ein Hogan? Ihr habt die Strafpredigerin verjagt, den patriotischen Yankee und den grauen Dandy, nun, die wären sowieso nicht glücklich geworden bei euch, eine Ausgeburt der Hölle aber wie diese von Hass zerfressene Irrsinnige habt ihr verteidigt, ihr könnt also getrost ein fettes KKK an eure Mauern pinseln, dann weiß wenigstens jeder gleich Bescheid, der zufällig vorbeikommt.“

Für uns war das der letzte längere Verbleib unter Bleichgesichtern, die eben doch allesamt gleich sind bis auf ein paar wenige rühmliche Ausnahmen - die freilich nicht allzu lange in ihrer Mitte geduldet werden. Im Westen nichts Neues und auch unter der alten Sonne nicht, meiner Hózhó hat das Debakel richtig wehgetan und ihrer vorbildlichen Freundin auch, mir hingegen ging's am sattelfesten Sitzfleisch vorbei wie immer und überall davor, aber deshalb bin ich ja auch Desperado und kein Normalsterblicher, man lernt mit seiner Bestimmung zu leben und lebt irgendwann gut damit.

Um nicht zu sagen prächtig.

Unsere in Acht gefallene Verbündete und Verräterin ihrer Rasse ritt weiter in Richtung Durango, uns zieht es magisch nach Südwesten, in eine Gegend, in der es –noch - keine blasshäutigen Menschen gibt, die ihre Luft mit vertrotteltem Hochmut und engstirniger Eitelkeit verpesten. Eh ich's vergess - bei unserm Abritt hat es sich Hózhó nicht nehmen lassen, die Behausung, in der die bösartige Lady sich eingenistete hatte, mit einem Fluch zu belegen, nach einem uralten Ritual ihres einst großen Volkes der Shoshone, andächtig und mit leisem Singsang vollzog sie die zeremonielle Handlung, eine Art von Todesbann, wirkmächtig und unauflöslich. Sie meint, es gehöre sich nicht zu gehen, ohne ein Gastgeschenk zurückzulassen.

Ich sehe schwarz für die Hazienda, verdammt schwarz.

„Weißt du“, sag ich zu Hózhó, „die Leute von heute darfst du getrost Rindviecher nennen, denn sie sind in der Tat wie Longhorns. Rein äußerlich ähneln sie zwar noch ihrem Urahn, dem schwarzen Auerochsen, doch im Innern sind sie längst zahmes Nutzvieh geworden, das Lasso von klein auf gewohnt tragen sie ihr Brandzeichen auf den Hinterbacken und halten ihre eingezäunten Weiden für die weite Welt. Ein großer Viehtreck ist das Abenteuer ihres Lebens, das auf der Schlachtbank endet, und ohne Cowboys würden sie qualvoll verenden in der Wildnis, die einst ihnen gehörte und der sie entstammen. Sie haben vollständig vergessen, wer sie sind und können sich nicht einmal erinnern, wer sie mal waren, auch dann nicht, wenn sie einen Bison sehen. Ihre verlorene Wildheit und Freiheit ist ihnen fremder geworden als die Gefangenschaft unter der Peitsche der Viehtreiber.

Genau so geht es den weißen Menschen mit uns und kein bisschen anders, wir sind ihnen fremder als die, die sie ihrer Freiheit beraubt haben, entmündigt und zu Abhängigen gemacht. Und selbst wenn sie die Freiheit kurzzeitig gesucht und sogar geschmeckt haben, dauert es nicht lange, bis sich aus ihrer Mitte ein paar Leute über die anderen erheben und an die Stelle jener treten, vor deren Knute sie gemeinsam geflohen sind, ja, sie werden von den andern sogar zu ihren Anführern erwählt, willig beugen die Wiedereingefangenen ihren Nacken unter das neue Joch, das ihnen einen vollen Futtertrog garantiert. Ich will jetzt nicht hämisch sein, aber es will mir auch nicht gelingen, sie zu bedauern, denn sie selbst wollen es so, und bei genauer Betrachtung kannst du sie allesamt und ausnahmslos vergessen, das ist alles, was dir übrigbleibt und was sie dir an Möglichkeiten lassen, sie schnellstmöglich zu vergessen. Denn weil sie sich selber abgeschrieben haben, ohne es zu bemerken, werfen sie das Unsereins vor und beschimpfen uns als anmaßende Unruhestifter und hochmütige Taugenichtse, die man getrost abschreiben kann und vergessen. Sie verdrehen die Wahrheit ins genaue Gegenteil und hassen jeden, der sich nicht verloren hat und seine Freiheit weggeworfen, wie sie es aus freien Stücken taten, und da sie ihr Nichts für Alles halten, können sie nicht einmal ein kleines Stück von dem, was in Wirklichkeit alles bedeutet, ertragen und in ihrer Nähe dulden. Kurzum, sie wissen einfach nicht, worum's geht.“

„Und selbst wenn sie's wüssten“, meint Hózhó trocken, „wären sie keine anderen und genau die selben Hornochsen.“

Da hat sie wohl recht, meine kluge Frau.

Der Geist der Freiheit weht nicht mehr übers Land, der Kleingeist der Sicherheit hat ihn vertrieben, gepflegte Friedhofsruhe duldet kein wildes Leben, wir lassen die Toten in ihren selbst geschaufelten Gräbern und ziehen mit dem Wind. Nach langer Wanderung erreichen wir schließlich das Tal des kleinen Colorado, dort in der Painted Desert an der Biegung des Flusses, auf einer hochwassersicheren kleinen Anhöhe, im bergenden Schatten einiger knorriger alter Bäume, bette ich zwar keine Grashütte in den saftigen Wiesengrund, sondern eine recht abenteuerliche Konstruktion, eine Mischung aus Hogan, Wikiup, Pueblokammer, Siouxhütte und  Seminole-Blockhaus mit kleiner Veranda und Pferdestall, Chinga jedenfalls ist rundum einverstanden mit unserer Wahl, Infini nicht minder ob des satten Ufergrases, Fanda wird den Ort der Niederlassung für den einzig möglich richtigen im gesamten Universum erachten.

Was ja wohl das mit Abstand Wichtigste ist.
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 16 Januar 2017, 17:22:04

Kojote


Sternschnuppenregen am endlosen Firmament.

Erloschene Welten, verblichene Träume, begrabene Hoffnungen. Vergessene Gräber der Erinnerung in den Friedhöfen der Vergangenheit. Entschwundene Zeiten, Gezeiten, Generationen, Menschenleben. Kaum spürbarer Lufthauch auf fröstelnder Haut, flüsternder Wind in den schlafenden Blättern knorrig verkrüppelter Bäume, in blaues Mondlicht getaucht die klobigen Gestalten roh geschliffener Steine, ein erstarrtes Meer schweigender Felsenwogen bis an die Wurzeln der Nacht, gewölbt wie ein gewaltiges Zelt der schwarze sternenklare Himmel über all den vergeblichen Wegen, den blinden Pfaden, die sich krümmen, verzweigen, kreuzen, verstricken und verlieren im Nirgendwo, mild gegossene tiefe Schatten geisterhaft leuchtender Gebeine, verblichene Werdegänge unter dem Zepter unerbittlicher Vergänglichkeit. Fein schneidet der jammernde Ruf einer Höhleneule durch die kühle Luft, fern wie ein Echo antwortet das klagende Heulen eines einsamen Kojoten, dann breitet sich wieder mächtige Stille über das ruhende Antlitz der Wüste, verschluckt das lautlose Huschen und Rascheln nächtlicher Kobolde. Sand knirscht unter dem dumpfen Hufschlag gleichmäßig langsamen Schrittes, dessen Rhythmus sich harmonisch in die beruhigende Öde bettet, nur eines der vielen geheimnisvollen Geräusche ihrer endlosen Weiten. Ein trottendes Pferd labt das staubig verklebte Fell in der erfrischenden Brise, das Gesicht des lässig im Sattel hängenden Reiters ist unsichtbar unter der Krempe seines Hutes verborgen, vor sich hin dämmernd schwebt er eingehüllt in vorbeigleitende Traumbilder halbwacher Zwischenwelten.

Die silberne Scheibe des Mondes fängt an zu tanzen und hüpfen, sich rasend schnell um die eigene Achse zu drehen und fällt gleißend in einem schweifenden Lichtkegel vom Himmel, hüpft ein paar Mal über die erzitternde Erde wie ein gigantischer Ball und rollt vor die Hufe des Pferdes, wo sie schwankend auspendelt und zum liegen kommt.

„Vorsicht, nich’ drauftreten, is’ zerbrechlich.“, murmelt der Reiter schläfrig.

Das Pferd nähert sich der glühenden Scheibe mit vorsichtiger Neugier, beschnüffelt es mit weiten Nüstern, prustet mit flehmenden Lippen und schüttelt seine weiße Mähne. Feiner Rauch steigt in Spiralen von den Rändern des Mondes, der silbern im Mondlicht glänzt. Wie der heiße Strahl einer kochenden Quelle schießt mir das Bewusstsein in den Kopf. Der Mond im Mondlicht? Hier stimmt was nicht. Und tatsächlich, ungerührt steht der Mond in ganzer Pracht am Himmel, während das tellerartige Gebilde vor uns im Wüstensand dampft. Ich steige erst mal ab, um das sonderbare Ding näher zu untersuchen. Es sieht aus wie ein umgestürzter blecherner Teller mit rundlicher kleiner Schüssel auf der Unterseite seines Bodens. Und dieses Schüsselchen bewegt sich. Ein Käfer oder eine Eidechse scheint darunter geraten zu sein, denn irgendetwas Lebendiges schiebt ihre Wölbung auf einer Seite energisch nach oben, bis sie senkrecht aus dem Tellergrund ragt wie ein geöffneter Pfeifendeckel. Und was mich darunter mit schneckenartigen Stielaugen anglotzt, habe ich noch nie zuvor zu Gesicht bekommen und macht mich sprachlos. Es hat etwa die Größe einer Spitzmaus und leuchtet in kräftigen Grüntönen, ein kugelrunder Bauch geht über in eine schmale Brust, auf dünnem Hälschen sitzt ein ballförmiger Kopf mit großen schwarzen Augen in beweglichen Stielen, einem kleinen Rüsselchen als Nase und einem breiten Mäulchen mit je zwei großen Zähnen in Ober- und Unterkiefer, mit dem es mich neugierig angrinst von einem seiner kleinen runden Ohren bis zum andern. Ein schlangenähnlicher Schwanz ringelt sich aus seinem Hinterteil, zwei spindeldürre Arme mit drei langen Fingern werden durch ebensolche Beine ergänzt.

So hockt das Etwas vorwitzig auf dem Rand der kleinen Öffnung, die sich unter dem Schüsselchen aufgetan hat, und gibt seltsam fiepende Töne von sich, die sich ungefähr so anhören wie ein „Fandafandafandafanda.“ Ich ohrfeige mich und kneife mich in die Wange, um sicherzugehen, dass ich nicht träume, aber so wie die Dinge vor mir liegen, bin ich hellwach. Und noch ehe ich zu einer weiteren Reaktion fähig bin, springt das Wesen mit unglaublicher Behändigkeit und Schnelligkeit auf meinen Arm, klettert mir auf die vor Überraschung reglose Schulter und von dort schnurstracks über mein verdutztes Gesicht bis zum Haaransatz, wo es geschickt und mit flinken Händen den Hut leicht anhebt, schwupps darunter verschwindet und emsig in meinen Haaren wuselt, bis es sich offenbar ein gemütliches Nest gebaut hat und übergangslos leise zu schnarchen beginnt. Infini, der den Vorgang aufmerksam verfolgt hat, wiehert in kurz abgehackten Stößen, die unschwer als spöttisches Gelächter zu deuten sind. Da sich der Knirps ruhig verhält und sich zudem –der Einfachheit halber - als Fanda vorgestellt hat, nehme ich sein unwirkliches Vorhandensein als gegeben hin, schwing mich auf Infinis Rücken und setze meinen Ritt fort, begleitet von leise pfeifenden, rasch aufeinander folgenden Schnarchtönen unterm Hut. Der Winzling beginnt mir zu gefallen. Wer kann schließlich von sich behaupten, einen Fanda auf dem Kopf mit sich herumzutragen.

Wie sich bald herausstellt, besitzt Fanda die Gabe der Gedankenübertragung. Was nun eigentlich kein Problem darstellen sollte, wenn auch nur eine einzige seiner Messages irgendeinen Sinn ergäbe oder halbwegs vernünftig wäre. Jedoch hat der kleine Schnarcher eine ganz und gar eigene Sicht der Dinge.

So ist er der festen Überzeugung, dass die Erdhörnchen sich jeden Morgen mit einer Mischung aus Wurzelsaft und Lehm ihre Streifen auf den Pelz malen, bevor sie im Pulk wie ein großer Hummelschwarm aus ihrer Höhle geflogen kommen, um abends im Sturzflug eins nach dem andern in ihre Löcher zurück zu sausen. Außerdem sei es der kleine Wüstenfuchs mit den Tütenohren und seinem buschigen Schwanz gewesen, der den großen Canyon mittels unaufhörlichem Schwanzwedeln in die Wüste gegraben hat, ebenso wie er seine Baue unablässig mit seiner Rute als Kehrbesen sauber fegt und dadurch die Berge aufgeworfen hat. Die Kojoten hingegen würden auf ihren Vorderläufen im Kopfstand herumlaufen, um die Welt mit ihren Augen auf rechte Weise sehen zu können, weil in ihrem Hirnkasten alles verkehrt herum auf den Kopf gestellt abgebildet wird und nur auf diese etwas ungewöhnliche Weise umgedreht werden kann.

Die Ohren der Kaninchen würden sich beim aufmerksamen rundum Horchen, bei dem sie ihre Lauscher nach allen Richtungen drehen, regelmäßig rettungslos ineinander verknoten und die Mümmelmänner müssten Purzelbäume durch die Lasche schlagen und hüpfen wie über ein Springseil, bis sich die Löffel wieder voneinander gelöst haben. Die Wildpferde ihrerseits würden Eier legen, die von den hurtigen Rennkuckucks aufgesammelt und ausgebrütet werden, bis kleine Road Runner Küken ausschlüpfen, die sich sinnigerweise für Wildpferde halten und wie wild drauf los rennen, obwohl sie als Vögel eigentlich fliegen könnten, und weil sie so schnell rennen können wollen wie ihre Verwandten fliegen, sind sie im Lauf der Zeit so flink und ausdauernd geworden.

Und andere Feinbeobachtungen erweiterter Tierkunde mehr, mit der er mir ununterbrochen die Gedanken voll labert, sogar während er schnarcht. Nun kommt erschwerend hinzu, dass er seine Naturstudien keineswegs für baren Unsinn hält, sondern tödlich beleidigt reagiert, wenn ich ihm entgegen zu denken wage und mich zu verhaltenem Zweifel oder gar Widerspruch hinreißen lasse. Ist der Herr Professor jedoch eingeschnappt, beginnt er mit seinen sechs wurstförmigen Spinnenfingern und ebenso gestalteten sechs Zehen in irrsinniger Geschwindigkeit auf meiner Schädeldecke herum zu trommeln, was pro Sekunde zwölf ratternde Klopfzeichen ergibt, die zwar nicht wehtun aber mich innerhalb kürzester Zeit in den Wahnsinn treiben. Es macht auch wenig Sinn, mir den Zappelnden zu schnappen und aus den Haaren zu fischen, um ihn überdrüssig unter mein Hemd zu stecken, weil er nach kurzer Zeit aus seiner Schmollecke hervorgeschossen kommt und begeistert fiepend vor meiner Nase auftaucht mit der Frage, ob ich schon gewusst habe, dass die Klapperschlange ihre Rassel aus den Schuppen der abgestreiften Haut der Krustenechse zusammenfügt, die sie mittels des Bindemittels von Froschlaich an ihr Schwanzende klebt, oder mit der eifrigen Schilderung ähnlicher Schlussfolgerungen. Und so bleibt mir nur ein „interessant, erstaunlich, aber selbstverständlich“ zu denken oder murmeln übrig, was zur unweigerlichen Folge hat, dass ich seinen Unfug allmählich selbst zu glauben beginne. Was andrerseits auch schon egal ist, verrückt war ich vorher schon, und es gibt keinen Aberwitz und keinen Widersinn, an den man sich nicht gewöhnen kann oder besser muss, weil die Menschheit diesbezüglich eine unübertreffliche Lehrmeisterin ist.

Fanda ist beleidigt, wenn die Kojoten ihren vielstimmigen abendlichen Chor beenden und damit aufhören, diese wundervollen Klänge zu erzeugen, die er da vernommen habe, der grüne Knirps grummelt und quengelt vor sich hin wie ein kleines eigensinniges Kind, so dass mir der Hut hochgehen möchte, gibt es mal einen kurzen Schauer, was selten genug geschieht, schiebt sich sein winziges Köpfchen vorsichtig unter der tropfenden Krempe hervor, verschlafen fiept er was von einem ungebetenen Vollbad zu unliebsamer Zeit. Alles eine Frage der Geduld, was ein klein wenig gewöhnungsbedürftiger ist, sind die einzigartigen Ernährungsgewohnheiten Fandas und deren unwesentliche Begleiterscheinungen. Ähnlich Bäumen und Blumen versteht er es nämlich, seine Nahrung aus ein paar Krümelchen Erdreich, Tautropfen und Sonnenlicht zu gewinnen, was auch das schillernd kräftige Grün seiner Haut erklärt und seine Haltung recht unkompliziert macht.  Seine pflegeleichte Anspruchslosigkeit hat lediglich den bedeutungslosen Nebeneffekt, dass es in seinem runden Bäuchlein zu enormen Gaskonzentrationen kommt, die sich immer wieder Befreiung suchen und entsprechend lautstark und geruchsintensiv entladen, was selbst Infinis überwältigende Offenbarungen wie das leise wehende Säuseln intensiv duftender Baumschwämme erscheinen lässt. Auf alle Fälle sah ich mich gezwungen, ein Strohrohr in die Rückseite meines Stetson zu stecken, um auf diese Weise die nötige Entlüftung zu fördern, der kleine grüne Gnom ist in der Tat inspirierend und regt meine Erfindungsgabe an.

Wie gesagt - ich hab einen Narren gefressen an dem Kerlchen, basta.

Noch bevor meine Frau Datsolali vom kleinen Gebirgsstamm der Cupeno und meine Wenigkeit sich am kleinen Colorado im Herzen der Gemalten Wüste niedergelassen haben, sind der schillernde Desperado und seine Shoshone Squaw Lagerfeuergespräch bei den Navajo.

Als diese hören, dass jenem geisterhaften Baumstammschlammbündel vier Lebewesen ans Ufer entstiegen seien, ein gelbes Pferd mit einem merkwürdigem Bleichgesicht auf dem runden Rücken, eine reife Squaw vom Volk der Shoshone mit einem Stinktier als Tochter, wurden ihre Ohren lang und länger, nicht nur weil die Vier nach ihrer Überzeugung den Nimbus einer heiligen Glückszahl innehat. Der ebenso mitwirkende Kojote hatte sich, zusammen mit anderen Unruhestiftern und sogar Ungeheuern, rasch verkrümelt, die Macht der Wassermonster war sichtbar überwunden und gebrochen, ganz so wie ihre Mythen es ihnen überliefern. Ich hab gar nichts mitbekommen von diesem glorreichen Sieg, sie dafür offenbar umso mehr.

Als noch vor dem ersten Frost eine seltsame Abordnung aus drei mit seltsamen Ledermasken vermummten Gestalten angeritten kommt, mit Federn oder Haarbüscheln auf dem Scheitel und Fellen um den Hals, ein sprechender Gott neben einem Schießgottjäger und dem sogenannten Fransenmund - wie sich uns die absonderlichen Gesandten später erklären - unsere im Rohbau befindliche Hütte heimsuchen, staunen wir nicht schlecht.  Gekommen seien sie im Auftrag von Haschógan, Haschèbaád, Haschézhíní, Tobadzìschínì, Nayénèzganì, Zahadolzhá und Gánaskìdì, ihrer sieben guten Geister, um ihren sogenannten Nachtgesang über unseren verwunderten Köpfen anzustimmen, mit dem sie auch allsogleich beginnen, wir verhalten uns so unauffällig wie möglich und lassen die unwirkliche Sache schweigend über uns ergehen. Zu unserem Glück, sonst wären wir nämlich in ihren Augen zu sehr gefährlichen Leuten geworden, die ausgestattet mit der Kraft ihrer wissenden Leute jedermann und -frau Schaden zufügen könnten.

Zuerst einmal müssen wir in einer eigens zu diesem Zweck in erstaunlich kurzer Zeit aus Ästen, Zweigen, Moos und Ledermatten errichteten Dampfsauna über kochend heißen, mit eiskaltem Wasser übergossenen Steinen schwitzen - wobei sie meine Zigarillos sehr zu meinem Leidwesen als Opfer ins Feuer befördern - und das gleich viermal hintereinander. Nach dieser Entgiftung lassen sie uns erneut in der halbfertigen Hütte Platz nehmen, und nachdem wir uns bis auf die Unterwäsche ausziehen haben müssen, verteilen und streuen sie zwei wundervolle Abbilder ihrer heiligen Leute auf den ungeschliffenen Boden, kunstvoll „gemalt“ mit farbigem Sandstein, Holzkohle, Maismehl und Pollen, die sie andächtig zwischen ihren Fingern herabrieseln lassen, und wir werden höflich aufgefordert, uns so gut wie nackt drauf zu setzen, worauf uns ihr Obersänger singend und beschwörend mit der Hand berührt, um uns gewissermaßen zu segnen. Anschließend kehrt er die herrlichen Kunstwerke zu einem kläglichen Häufchen zusammen, bringt dieses nach draußen und zerstreut es im Wind in Richtung Norden.

Das Ganze zieht sich hin über einige Stunden. Endlich am Ende der Zeremonie angelangt, legen sie ihre aus Federn, Fellstücken, Haarsträhnen und Grasbündeln zusammengesetzten Ledermasken ab, so dass zwei mittelalterliche und ein älterer ganz normaler Navajo zum Vorschein kommen mit recht aufgeweckten, freundlichen und redlich erschöpften Gesichtern, still sitzen sie da mit verschränkten Beinen und warten. Klar gibt’s erst mal was zu futtern und trinken, die Kerle haben hart gearbeitet und ihr Bestes gegeben, sie lassen es sich denn auch dementsprechend schmecken und haben sichtliches Vergnügen an den unwiderstehlichen Bettelgebärden und Kunststücken, mit deren vollem Einsatz ihnen Chinga, unser zahmes Stinktier, den einen oder anderen leckeren Happen aus den Händen lockt. Da ich von früheren Aufenthalten im Navajoland ihrer Sprache ganz brauchbar mächtig bin, bohre ich ganz behutsam nach, was das denn jetzt im Einzelnen an Hokus Pokus vielmehr Heilkunst gewesen sei, aber so recht mit der Sprache rausrücken wollen sie nicht, drücken herum und tun sehr geheimnisvoll.

Meine Frau Datsolali vom Volk der Shoshone sei eine sehr empfängliche und empfindsame Seele, lassen sie schließlich doch noch unumwunden verlautbaren, der sie deshalb ohne Umschweife den Ehrennamen Hózhó, nach ihrem angestrebten Ideal, geben möchten, um ihre bevorzugte Stellung und außergewöhnliche Begabung damit angemessen hervorzuheben. Bei mir, dem Weißauge, sei das Ganze ein wenig schwieriger um nicht zu sagen vergleichsweise hoffnungslos, da ich als Geisterreiter mit der Welt der Totengeister verkehren würde, Kojoten anlocken, füttern und um mein Lager sammeln, mit Schlangen und anderen gefährlichen Tieren reden, nach ihrer Eingebung mehrmals mit dem Blitz Kontakt gehabt hätte und zudem in verschiedenen Dingen des zwischenmenschlichen Bereiches das eine oder andere angestellt, das sich nach ihrem Verständnis nicht unbedingt mit dem Streben nach dem vollkommenen Gleichgewicht decken würde.

„Was habt ihr gegen meine Freunde, die Kojoten, Männers, wenn ich fragen darf?“, will ich leicht verstimmt wissen, und sogleich taucht ihre illustre Schar vor meinem inneren Auge auf.

Wölfe heulen und Kojoten miauen. Anders kann man ihr bellendes Gejammer nicht nennen, aber ich liebe es und ebenso die schlauen Sangeskünstler. Wer die Unbarmherzigkeit der Wüste kennt, kommt nicht umhin, diese Meister des Überlebenskampfes zu bewundern.

Vor allem aber wird er zu seiner Erheiterung feststellen, dass der Cousin der Numa, Ute und Paiute Indianer nebst aller List, Beweglichkeit, Frechheit und Anpassungsfähigkeit noch ein Zusätzliches in seinem undurchsichtigen Kopf mit sich herumträgt, nämlich eine gehörige Portion an Unfug. Wenn Kojoten nicht grade mit Jagen, Fressen, Schlafen, Paarung und Welpenaufzucht beschäftigt sind, stellen sie allen möglichen Unsinn an, und zwar jede Menge davon, verwenden ihren Einfallsreichtum für die Durchführung nutzloser Aktionen, die ihr Dasein sicher nicht leichter machen, aber mit Gewissheit unterhaltsamer und erträglicher. Man könnte sagen, Kojoten sind spitzbübische Schlingel und verspielte Kindsköpfe. Welcher Schöpfer wo auch immer Gutes und Vollkommenes erschafft, der Kojote bringt es fertig, das Ganze ordentlich durcheinanderzubringen, wobei dieser sein unverbesserlicher Hang, Chaos und Anarchie zu verbreiten, weniger als Frucht berechnender Arglist und Bosheit zu betrachten ist als vielmehr als die eher unfreiwillige Folge von Übermut und Narretei, Unmäßigkeit und Geilheit. Kein Tabu ist Väterchen oder Onkel Kojote heilig, was auch immer der ruhelose Geist noch so listenreich einfädelt und betrügerisch in die Wege leitet, endet fast zwangsläufig im Fiasko, wobei auch diesem unerfreulichen Ergebnis mitunter gehörige schöpferische Kraft innewohnt.

Obwohl so ein Trickster, der beliebige Tier- und Menschengestalt annehmen kann, mitunter ganz schön finster dämonisch daherkommen kann, hat er mit dem christlichen Teufel nichts zu tun. Weil sein kreativer Unfug immer wieder bemerkenswert Brauchbares und Gutes hervorbringt, gibt es auch keinen Grund, ihm zu widersagen oder seine Umtriebe mit aller Kraft zu bekämpfen, der Trickster verkörpert vielmehr die Wahrheit menschlicher Zwiespältigkeit, Getrieben- und Zerrissenheit, ist also unleugbarer Teil alltäglicher Wirklichkeit menschlichen Zusammenlebens in jeder indianischen Gesellschaft. In den Mythen der Stämme des großen Beckens ist der Kojote trotz aller nicht zu leugnenden Verschlagenheit und Verstellungskunst ein großer Schelm und Schalk, der gerade wegen seiner unvorhersehbaren und widersinnigen Aktivitäten große schöpferische Kraft in sich birgt. Der Präriewolf ist in ihrer Vorstellung verrückter Erfinder und versponnener Künstler der Wildnis. Ihre Jahrtausende alte Naturbeobachtung hat die Indianer längst zu dem Schluss gelangen lassen, dass es in der Tierwelt kein gut und böse gibt, und der Kojote ist die beispielhafte Verkörperung dieser schillernden Doppelnatur.

Ganz anders dagegen sein großer Bruder, der Steppenwolf. Der ist klug und besonnen, handelt wohlüberlegt und vorausschauend, weshalb er auch „unser Vater“ genannt wird. Naheliegend, dass seine Gestalt in der Mythologie der Stämme Vorbildcharakter genießt, und tatsächlich kann man die Indianer des großen Beckens in ihren wesentlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen nicht nur an ihrem Vorbild messen, sondern sie als durchaus ebenbürtig in dessen Lebensweisheit erkennen und bewundern. Kurzum kluge Leute, von denen man jede Menge lernen kann. Besonders als Desperado, der in ihren Augen so eine Art Mensch gewordene Verkörperung aller Wesenszüge des Kojoten darstellt. Einer, den man nicht unbedingt ernst nehmen aber durchaus beachten muss.

Bei ihren Nachbarn, den Shoshone, stoße ich anfangs auf gewisse Vorbehalte, weil der Kojote bei ihnen nicht unbedingt mit dem besten Ruf gesegnet ist. Als angeblicher Kinderdieb - was ich für ein böswilliges Gerücht halte- verrufen, ist ihnen das kleine Rudel, das mich tagsüber unsichtbar, nachts hingegen durchaus zutraulich, weil bettelnd und gefräßig, auf Schritt und Tritt begleitet, nicht besonders geheuer, und damit auch der Rudelführer in Gestalt meiner Unbedarftheit nicht. Als sie aber zu ihrer Beruhigung feststellen können, es bei mir mit keinem Menschenfresser zu tun zu haben, komme ich glänzend mit den Grashüttenleuten klar und verbringe mehr als genug Zeit mit ihnen, währenddessen ihre Sprache ausreichend zu erlernen.

Die Numa verehren den Kojoten als Schöpfer ihres Volkes.

In ihrer Vorstellungswelt sind Mensch und Tier so eng miteinander verwandt, dass man das eine vom andern nicht trennen kann, was sogar stimmen mag, wenn ich es recht bedenke. Jedenfalls schickte in ferner Vergangenheit eine Frau ihre Tochter auf die Suche nach einem brauchbaren Mann, aber zu finden war tatsächlich nur Bruder Kojote. Besser den Kojoten in der Hand als das Männlein auf dem Dach, mag sich die Menschenfrau gesagt haben, jedenfalls kürte sie den Präriewolf zu ihrem Gefährten. Nun ist die Gute noch jungfräulich, ihr Schoß mit undurchdringlichen Zähnen verriegelt, sie trägt sozusagen eine Art natürlichen Keuschheitsgürtel, was aber für den schlauen Kojoten, dem nebst seiner Listigkeit auch recht gut entwickelte und hervorstechend ausgeprägte Lüsternheit nachgesagt wird, keineswegs ein unüberwindliches Hindernis darstellt. Mittels einer List, deren nähere Beschreibung ich bedauerlicherweise vergessen habe, und mit Zuhilfenahme eines Grabstocks gelingt es ihm, die Zähne auszubrechen und somit seine Frau überhaupt erst mal fruchtbar zu machen und mit ihr das ganze Menschengeschlecht.

Die Folge der unmittelbar darauf vollzogenen Befruchtung ist ein ganzer Haufen winziger Menschlein, die von ihrer Mutter hurtig in einen Beutel gepackt werden. Die Schwiegermutter des Kojoten macht nun den leichtsinnigen Fehler, ihrem Schwiegersohn strengstens zu verbieten, das Beutelchen jemals zu öffnen, was einer gegenteiligen Anordnung gleichkommt. Denn das Verbotene wird erst interessant für den neugierigen Burschen. Verboten jedweder Art begegnet das Schlitzohr Kojote grundsätzlich mit gezielter Übertretung. Er schnürt also das Säckchen auf, die Menschlein purzeln, krabbeln, stolpern und strömen heraus und verteilen sich emsig in alle vier Himmelsrichtungen übers ganze Land.

Die Southern Paiute sind der Auffassung, dass sie beim Rausschlüpfen die letzten gewesen sein müssen, für die nur noch ein Landstrich in der Halbwüste übrig war, die Gosiute bestehen drauf, dass es ihr Urahn gewesen sein muss, der als staubiges zähes Kerlchen zuletzt den Beutel verlassen hat, nicht klein zu kriegen wie ein richtiger Gosiute nun mal ist. Die Ute machen sich einen Spaß draus, ihrem Indianeragenten auf die Nase zu binden, die Bleichgesichter seien als erste aus dem Beutel gekrochen und vor Schreck weiß angelaufen und kreidebleich geworden, deshalb sollen sie ruhig mal bei ihren Kartoffeln bleiben und den Ute das gefährliche Handwerk der aufregenden Jagd überlassen. Wer nun genau an wievielter Stelle aus dem Säckchen geschlüpft ist, wird sich wohl nicht mehr zurückverfolgen lassen, fest steht, dass der Kojote ihr aller gemeinsamer Dad ist.

Weshalb ich als sein offensichtlicher Freund wohl auch irgendwie mit ihm verwandt sein muss.

Ist nun so abwegig nicht, und wenn's schon keine Blutsverwandtschaft ist, so sind wir doch Schicksalsgenossen, jedenfalls was unseren Beliebtheitsgrad angeht. Die Kojoten werden gejagt wie kaum ein anderer Wüstenbewohner, die Farmer machen sich einen Spaß draus, jeden Präriewolf abzuknallen, der in die Reichweite ihrer Büchse tappst, sie bringen es ihren Söhnen bei als Zeitvertreib, mit Giftködern und Schlagfallen rücken sie den Geächteten und Gehassten zu Leibe und ans Fell, es ist ein Massenmorden ohnegleichen, allein in Texas ist ihre Population innerhalb von Jahren auf die Hälfte geschrumpft, ein Ende ist nicht in Sicht. Dabei ist der Kojote ein zu Unrecht Verfolgter, denn wenn da wer Schafe reißt oder Kälber, dann ist es der Coydog, nun, auch der verdankt sein Dasein dem gewissermaßen schöpferischen Kojoten, weil er das Ergebnis einer leidenschaftlichen Liebesbegegnung ist mit einer Hündin oder einem Hund, der Kojote an sich ist da nicht so wählerisch, auch Rotwolf und sogar Grauwölfe zählen zu seinen Liebschaften.

Seinem Namen verdankt er den Azteken, die jene listigen Wildhunde, die ihre an Abfall sprich Essensresten überreichen Städte umlagerten und die Nachtruhe der Bewohner mit ihrem jaulenden Heulen störten, Coyotl hießen, dass sie selbst es waren in ihrem Überfluss, die sich diese unliebsamen Nachbarn regelrecht herangezüchtet hatten, davon wollten sie natürlich nichts gewusst haben. Der Belagerungszustand lag ganz einfach daran, dass man den Kojoten fast als Allesfresser bezeichnen könnte, Früchte, Insekten, Mäuse, Kaninchen, Präriehunde und Nager aller Art sowie kleine Vögel, Schlangen, Eidechsen, Wasserschildkröten, Präriehühner und sonstiges Geflügel, Bergschafe, Weißwedelhirsche und Gabelböcke stehen auf seinem Speiseplan, auch zu Aas und sonstigen verwertbaren Überbleibseln sagt er nicht nein, und hat er sich den Magen verdorben damit, frisst er Gras.

Davon abgesehen ist er schlicht eine Schönheit, der Präriewolf. Er trägt ein seidig braunes, grau gesprenkeltes Fell als Gehrock, das Hemd an Hals und Bauch schimmert in mattem Weiß, die Rückseite der Ohren ziert ein gelbes Mützchen, die Vorderläufe stecken in gelbbraunen Ärmeln und alle vier Pfoten in gelblichen Mokassins, an der Wurzel seiner Rute leuchtet ein schwarzer Fleck, wie in Tinte getaucht ist auch die Schwanzspitze, selbst die Vorderläufe sind mit schwarzen Klecksen durchsetzt. Man könnte ihn ohne Umschweife von der Nasenspitze bis zum Schweifende als Schnösel bezeichnen, wie er so daher tänzelt auf wieselflink gertenschlanken Beinen, der schlaue Blick seiner wachsamen Augen indes verrät ein weitaus höheres Maß an Klugheit, als man es einem eitlen Fatzke zutrauen möchte. Er ist ein hochbegabter Lebenskünstler, der Kojote, eine mögliche Beute verfolgt er nur, wenn er sich ihr auf leisen Pfoten auf mindestens fünfzig Meter hat nähern können, und dann höchstens vierhundert Meter weit und nie länger als eine Viertelstunde, zeitraubender Kraftaufwand ist ihm zuwider, was ihm nicht mehr oder weniger freiwillig in die Fänge springt oder geflogen kommt, straft er mit demonstrativer Gleichgültigkeit.

Mag er in meinem Tross oder den strengen Wintermonaten im Rudel zu bestaunen sein, bevorzugt er ansonsten das Leben des ungebundenen Einzelgängers, mitunter verbündet er sich auch mit dem Dachs, den er die begehrten Nagetiere in aller Ruhe ausgraben lässt, um sie zu schnappen, sowie die in die Enge Gebuddelten an die Luft zu entwischen versuchen, und den Fang redlich mit seinem Kumpel zu teilen. Nicht nur einmal hab ich dieses ungleiche Paar in der Prärie herumziehen sehen. Was die Aufzucht seiner Kinder betrifft jedoch unterscheidet  sich der Präriewolf nicht wesentlich von seinem großen Bruder und ausdauernden Jäger, dem grauen Wolf, eine Kojotenmama schenkt im Durchschnitt sechs blinden Welpen das Leben, die sie bis zu sieben Wochen lang säugt in der Geborgenheit einer Höhle, auch der Papa versorgt seinen Nachwuchs und würgt ihm Halbverdautes vor die immer hungrigen Mäulchen, sind die kleinen Racker schließlich zu Halbwüchsigen herangewachsen, dürfen sie ihre Mutter bei der Betreuung des nächsten Wurfes unterstützen und lernen an ihren kleinen Geschwistern, was sie später für die Aufzucht eigener Welpen brauchen. Mit einem Jahr sind sie in der Regel flügge und wandern bisweilen hundertsechzig Meilen weit auf der Suche nach einem Jagdrevier, in dem sie sich niederlassen.

Beim mexikanischen Kojoten schimmern die schwarzen Flecken an Rutenwurzel, Schwanzspitze und Vorderläufen rötlich in der Wüstensonne, was seinen Ursprung darin hat, dass der Kojote eines Tages hinter den Küken der Schopfwachtel her ist, als ihm der Hahn mutig auf das Hinterteil springt und mit seinen Krallen, die immerhin tiefe Löcher scharren können, ein großes Stück Fett aus dem Muskel reißt. Der Versehrte verkrümmelt sich winselnd, um seine schmerzende Wunde zu lecken, die Mutterhenne aber legt das Fett auf einen flachen Stein, so dass es in der Glut der Mittagshitze zu brutzeln anfängt. Als dem immer noch hungrigen Kojoten der Bratenduft in die Nase steigt, erschnüffelt er den Ursprung und leckt das triefende Fett samt Häppchen gierig auf, ohne zu wissen, dass es von seinem verlängerten Rücken stammt.

Die unterm Schutz ihres Vaters kühn gewordenen Wachtelkinder beobachten ihn dabei und rufen frech hinter ihm her: "Kojote, du hast ja dein eigenes Fleisch gefressen!" Er schaut sich missmutig nach ihnen um, "Was sagt ihr da?" will er wissen, doch sie flöten unschuldig: "Wir? Nichts. Hinter den Bergen haben wir jemanden schreien hören." Kaum trottet der Kojote weiter, spotten sie erneut: "Kojote, du hast dein eigenes Fleisch gefressen!" Erneut fragt der Gehänselte nach, diesmal haben die Wichte einen Mörser stampfen gehört. Der Präriewolf geht mürrisch von dannen, als ihn sein brennendes Hinterteil an seinen Verlust erinnert und ihm dämmert, was er da hinuntergeschlungen hat. Da schwört er sich, die unverschämten Bälger samt den hinterhältigen Eltern zu fressen und macht wütend kehrt. Schnell erkennen die Wachteln, dass er sich dieses Mal nicht aufhalten lassen wird und flattern davon, die Eltern voran und die Kleinen, die gerade so eben fliegen können, nahe über dem Boden hinterher, aber immerhin hoch genug, dass der wütende Kojote keins von ihnen schnappen kann, so sehr er auch nach ihnen hüpft und springt.

Im Gegensatz zu ihrem zornigen Jäger werden sie aber rasch müde, und als die Mutter ein Erdloch entdeckt, treibt sie ihre erschöpften Küken hinein, pflückt einen Kaktuszweig und zieht ihn hinter sich her in die kleine Höhle. Der Kojote hat sie darin verschwinden sehn, "Wer hat gesagt, dass ich mein eigenes Fleisch gefressen habe?" faucht er hinein, und von drinnen kommt ein vielstimmiges "Ich nicht! Ich nicht!", da fängt er rasend an, mit beiden Pfoten das Loch auszugraben und seinen Rumpf hineinzuschieben, bis er die erste Wachtel erspäht. Nun sind das aber nur die Federn, die die Wachtelmutter beim Verstopfen des Tunnels gelassen hat und mit denen nun die Kaktuskugel befiedert ist, der wutentbrannte Kojote jedoch beißt mit aller Kraft hinein und jault fürchterlich auf, während der Wachtelhahn ihn in die Schwanzspitze hackt, die zuckend aus dem Erdloch ragt. Als der Kojote sich wieder herausgewunden hat und das grässlich stachelige Ding aus seinem Rachen zu schütteln versucht, nutzen die Wachteln die Gelegenheit und flattern eine nach der andern davon.

Beim wilden Schütteln des Kopfes spritzt das Blut aus Gaumen und Zunge des Kojoten auf seine Vorderläufe, seine Schwanzspitze blutet und die Wunde an der Rutenwurzel dazu, und nachdem er den Kaktus endlich hat ausspucken können, bleiben ihm diese Flecken in seinem Fell erhalten.

Was mich jedoch mit dem Trickster der indianischen Mythen verbindet in einer Art Seelenverwandtschaft, ist unsere gemeinsame Begabung, es den andern niemals recht machen zu können, was auch immer wir versuchen, es geht ihnen gehörig gegen den Strich, und kommt zur Abwechslung doch mal etwas Gutes heraus dabei, ist es selbstverständlich dem Zufall gefruchtet und nicht unserem Beispiel zu verdanken, sprich das von uns Abgekupferte wird als eigene Errungenschaft gefeiert und gepriesen. So gesehen können wir unser verwandtschaftliches Verhältnis beim besten Willen nicht verleugnen, eine Verwandtschaft, die unserem guten Einstand dennoch keinen Abbruch tut.
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 24 Januar 2017, 13:39:46

Old Mescalero

Die argwöhnischen Navajosänger, die mir den Umgang mit Kojoten ankreiden, haben höchstwahrscheinlich auch von jener albernen Geschichte auf dem Vulkanbrocken gehört, die ich im weitesten Sinne dem Anfüttern von Kojoten verdanke, dieser echt verrückte Sache, die natürlich schnell die Runde gemacht hat und sich wie ein Präriefeuer ausgebreitet bis tief hinein in den Südwesten und ihre Hogans, doch ob ein Volksstamm nun auf die Vaterschaft des Heulwolfes pocht oder ausdrücklich nicht, unsere Heimsuchung ist so erstaunlich nicht, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag, denn wie gesagt, nicht nur bei den Chemehuevi kursiert die Erzählung jener seltsamen Erscheinung einer illustren kleinen Schar, die da auf einem Baumstamm reitend aus der Flut des Colorado River gestiegen sei, und weil allerlei seltsame Wesen mit im Spiel sind, hat sie sich flugs herumgesprochen und erfreut sich zudem großer Beliebtheit.

Sei wie es sei, kaum dass wir uns in der Painted Desert angesiedelt haben, schicken die Navajo wohl nicht von ungefähr ihre Sänger zu unserer unfertigen Hütte, was durchaus als großer Ehrerweis und unschätzbare Auszeichnung angesehen werden darf, und die drei wussten noch nicht einmal von meiner Freundschaft mit dem alten Mescalero. Wie deren sprechender Gott, der sich von meinem gebrochenen Stab für die Kojoten nicht im Geringsten beirren hat lassen, ausdrücklich betont, verfüge ich über Fähigkeiten und Eigenarten, die sie in ähnlicher Gestalt von manchen ihrer Medizinmänner und Zauberer kennen würden, weshalb sie nicht mit völliger Gewissheit sagen können, welcher Seite ich nun angehöre und ob ich vertrauenswürdig oder besser zu fürchten sei.

„Tröstet euch,“ sag ich, „das weiß ich genau so wenig wie ihr.“

Was sie jedoch nicht besonders zu beruhigen scheint.

„Der alte Diyin der Mescalero oben in den Bergen hat jedenfalls keine Angst vor mir, so lange sich mein Mondschatten nicht vor seine Sonne schiebt, habe er keine Not mit mir, wie er sagt.“

Da sitzen sie plötzlich wie erstarrt mit aufgerissenen Augen und offenen Mündern. Du kennst den weisen Mann, fragen sie sichtlich erregt mit ungläubigem Erstaunen, jenen großen Medizinmann und Schamanen oben in den menschenleeren Bergen, dem Wohnsitz der Götter und Geister, der mit dem großen Geist und der sich verändernden Frau rede wie mit vertrauten Freunden, keiner von ihnen wage sich auch nur in die Nähe seiner Höhle, ein machtvoller Heiler, Träumer und Prophet sei er, ein Herrscher über die Geister der Ahnen und die mächtigen Schutzgeister der Tiere, keiner aus ihrem Volk habe sich noch getraut, seine heilige Ruhe zu stören.

Das ist auch der Grund, denk ich mir müde und behalte es lieber für mich, dass ich den Mescaleros überhaupt nichts mehr erzähle von unserer Freundschaft, weil die sich vor Ehrfurcht und Angst förmlich in die Hosen machen. Einmal davon abgesehen, dass die benachbarten Navajo und Mescalero alles andere als miteinander befreundet sind und nach althergebrachter Sitte nicht besonders gut aufeinander zu sprechen, seit dem Fiasko mit den Nortenos aber betrachten sie sich als sogenannte Feinde. Eine fragwürdige und noch dazu aufgezwungene Unsitte, die sie sogar in ein und derselben Reservation zusammengepfercht noch pflegten, indem sie mitunter aufeinander losgingen, was aber sehr viel mehr die Folge der unerträglichen und menschenunwürdigen Zustände im Reservat war, vor allem die des ständig nagenden Hungers.

Verflucht noch einmal, wie lange ist es her, dass die ahnungslosen Stämme der Pueblo, Ute und sogar Jicarilla sich haben einseifen und betrügen lassen von den Konquistadores, sie bei ihrem Vernichtungsfeldzug gegen die Lipan, Mescalero und Chiricahua zu unterstützen? Sogar die unterworfenen Gruppen der Comanche mussten anfangs dazu gezwungen werden, so grausam sie danach auch gewesen sein mögen. Die Skalpprämien waren verführerisch hoch, den gewissenlosen Spaniern war jedes noch so dreckige Mittel zum verbrecherischen Zweck recht, doch was zum Teufel haben die abgeschnittenen Ohren von damals mit den gewaschenen von heute und hier zu tun? Betet ein Vater Unser für die Toten meinetwegen, aber verschont mich mit diesen ollen Kamellen! Eure Vorfahren wurden massiv unter Druck gesetzt in diesen verfluchten Zeiten, Tod oder Verdingung, bei Weitem nicht alle haben gegen die Mescalero gekämpft, viele haben sich stattdessen in den Bergen und Canyons versteckt. Ebenso wenig waren alle Tarahumara beteiligt an der abscheulichen Menschenjagd, sowas machen immer nur die Käuflichen und Ausgestoßenen. Denn Feindschaft unter indianischen Stämmen bedeutet auch bei uns im Süden keineswegs ein unvermeidliches Übel und erst recht keine Plage, sondern vielmehr Herausforderung und hervorragende Möglichkeit zum Selbstbeweis. Weshalb es bei gesuchten oder unvermeidlichen Auseinandersetzungen so gut wie nie zu Toten kommt und nur sehr selten zu ernsthaft Verletzten, auch wenn die wehleidigen Mexicanos hundert Mal das Gegenteil behaupten, um die Abscheulichkeiten in ihrem Dauerkrieg gegen die freischweifenden Apache damit zu rechtfertigen. Die Spanier waren es, die die heiligen Gesetze der Wüste verdorben haben! Stellt sie wieder her!

Wie eine große Laterne steht der Vollmond in der Schlucht, von silbernen Wolken umkränzt.

Ich hatte die Worte meines Überdrusses schon ausformuliert im Kopf, doch wider Erwarten und zu meiner Überraschung ist der Argwohn der Navajosänger mit einem Male spurlos verschwunden. Wer die Macht habe, den weisen Mann aufzusuchen, und zudem so überaus groß in seiner Huld stehe, dass er nicht von seinem Todesbann getroffen und zerschmettert werde, wie mir der sprechende Gott voller Respekt erklärt, der sei in den Hogans der Navajo jederzeit ein willkommener und gern gesehener Gast.

Da hab ich ja Glück gehabt, denk’ ich, dass ich den Alten an einem guten Tag erwischt habe.

In Wahrheit war es nämlich ein besonders schlechter, da sich der damals noch rüstige Tattergreis bei der Verrichtung bestimmter Geschäfte, um die nicht einmal ein heiliger Mann herumkommt, seinen Hühnerfuß in einer Felsspalte eingeklemmt hatte und sich nicht mehr aus eigener Kraft befreien konnte. Da habe er mich zu sich gerufen, wie er beteuerte, weil ich offenbar der einzige Mensch mit halbwegs klarem Kopf sei weit und breit, der seine dünnen Hilfeschreie nicht für die lockenden Stimmen böser Geister halte, so wie alle aus seinem abergläubischen und vertrottelten Volk irgendwo da unten in den Niederungen es grundsätzlich immer zu tun pflegen, nichts als Ärger und Scherereien habe er mit dem heruntergekommenen Haufen seit er denken könne. Und wenn da der eine oder andere deftige Fluch dazwischen geschoben war, hab ich den anstandshalber überhört. Manchmal mag einen über den Tücken des Lebens im steten Kampf gegen eine hinterhältig feindselige Materie schon der heilige Zorn übermannen.

Wie lange kenne ich den alten Mescalero nun schon? Drei Jahrzehnte sind es in jedem Fall, ich glaube aber schon ein paar Jahre mehr.

Der Mescalero, der größte Schamane sprich Diyin im Land der Inde’, wie die Apache sich selber nennen, spricht kaum über seine Vergangenheit. Gut kann er sich noch an die Jugendtage der kläglichsten Schmach und schlimmsten Schande erinnern, die der Südwesten je gesehen, als zum Ende des letzten Jahrhunderts ein von den spanischen "Eroberern" zwangsrekrutierter und zusammengewürfelter Haufe aus Comanche, Wichita, Tonkawa und Caddo, von den Spaniern daselbst ausgerüstet und bestens bewaffnet, die Mescalero aus ihrer Heimat der Bolsón de Mapimi Wüste vertrieb und dabei Hunderte von ihnen ermordete. An dem Massaker beteiligt - und um der Widerwärtigkeit die Federhaube aufzusetzen - waren mit horrenden Skalp-Prämien geköderte Opata und Rarámuri, die Spanier ließen sich das dreckige Kopfgeld Tausende von Pesos kosten. Doch seien ihre Vasallen "keine Krieger mehr" gewesen, "sondern Versklavte der eisernen Männer, denen diese ihre Seele geraubt hatten und das Licht ihres Geistes ausgelöscht", wie es der alte Zeitzeuge ungeschönt berichtet. Ich war damals noch nicht einmal geboren, doch kann ich's mir lebhaft vorstellen. Wen die Konquistadoren mal in den Krallen hatten, den machten sie über Nacht zum gleichen menschenfressenden Ungeheuer, wie sie selbst eines waren.

Es heißt, zum Mann herangewachsen sei mein alter Freund der Häuptling sprich Natan einiger Gotahs gewesen und hätte mehrere Wikiups bewohnt und sein eigen genannt, ehe ihn Schöpfergott Yusen in seinen Dienst gerufen habe und in die Einsamkeit des heiligen Mount Graham geholt, wo er seither von Angesicht zu Angesicht mit ihm und der Welt der Geister spricht und alle Zeremonien beherrscht, deren Ausübung ansonsten auf verschiedene Männer und Frauen verteilt ist, sozusagen Spezialisten. Das war um die Zeit des Militärkommandeurs General Carleton, dessen ausdrücklicher Befehl lautete, keine Beratungen mit den Apachen zu halten ja nicht einmal Gespräche zu führen mit ihnen, sondern sie zu töten, wo immer sie gefunden werden. Als sein Nachfolger General Ord die Truppen wortwörtlich dazu ermutigte, die Apache mit allen Mitteln zu fangen und auszurotten und sie zu jagen wie wilde Tiere, was seine Männer sehr zu seiner Zufriedenheit unermüdlich taten, so dass er von Bericht zu Bericht voller Stolz um die zweihundert getötete Apachen und etliche niedergebrannte Dörfer vorweisen konnte, saß der alte Schamane bereits in seiner Höhle.

Der Diyin meinte mal beiläufig zu mir, das weiße Licht der Trauer und des Zornes, das in die Dunkelheit der mörderischen Weißaugen sticht wie ein Pfeil und ihre Nacht zerstreut, werde nicht berührt und umfangen von deren Finsternis, sondern bleibe blendend weiß wie die Zähne einer jungen Squaw. Das ist seine Art der Beschreibung des Tatbestandes der Notwehr. Im Gegensatz zu den Regierungen New Mexikos und seiner Nachbarstaaten kann der alte Mann den behördlich von höchster Stelle angeordneten Völkermord als Werk des Bösen erkennen, den verzweifelten Kampf ums nackte Überleben der Hingemordeten hingegen als Teil des Gerechten und Guten.

„Der Gott des weißen Mannes ist stärker als der des roten Mannes, er hat unseren Gott besiegt.“

Ein verzweifelter Häuptling soll das mal so gesagt haben, Gott bewahre mich davor das je so sehen zu müssen, ob der nun weiß ist, rot oder regenbogenfarben, männlich oder weiblich. Rassismus und Habgier, Fanatismus und Überheblichkeit, Gewalt und Barbarei, Betrug und Erpressung, Völkermord und Landraub, wo bitte soll da welcher Gott auch immer vertreten und zu finden sein? Der weiße Mann hat den Teufel mitgebracht, in einer Reinkultur wie die Indianervölker ihn nicht kannten, das ist die schlichte Wahrheit. Was Wunder also, wenn die Navajosänger mich zuerst einmal für einen Teufel halten? Die Abgesandten sind natürlich davon überzeugt, die ersten zu sein, die mich in die verborgenen Welten ihres Glaubens einführen, alle spirituellen Indianer aller Stämme haben das noch jedes Mal geglaubt, was ja nur bedeuten kann, dass ich von alledem bis heute unbeleckt geblieben bin, ob dies nun ein gutes oder schlechtes Zeichen ist, mögen die Schamanen, Tiergeister oder Ahnen entscheiden.

Oder die veränderliche Frau von mir aus.




Buchauszug: Ga'an Desperado - Der Federhut (Suchprogramm)
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 31 Januar 2017, 09:27:50

Aufstand der Shoshone

Dass bei meinen Streifzügen durch die Wüste - seit Ewigkeiten und so gut wie jede Nacht - eine zusammengerollte Klapperschlange unter der gemütlichen Wölbung meines Sattelkopfkissens nächtigt, die Rattlesnake also eine gute alte Freundin ist von mir, reibe ich den Navajosängern erst gar nicht unter die geistliche Nase, wer weiß, was ihnen dazu wieder alles einfallen würde an spirituellen Vorbehalten und moralischen Bedenken.

Hózhó kennt die Klapperschlange seit ihrer frühen Kindheit, als sie mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern stundenlang bis zum Einbruch der Nacht im Gebüsch kauerte bei dem Versuch, die Trasse schadlos überqueren zu können, die der weiße Mann mit seinen Planwagenkolonnenschneisen, radzerfurchten Straßen und eisernen Schienensträngen mitten durch ihr weites Heimatland getrieben hat. Wollen die Shoshone und Paiute Verwandte auf der gegenüberliegenden Seite besuchen, kann es ihnen ohne weiteres geschehen, dass sie wie Kaninchen abgeknallt werden, die ängstlichen und übermüdeten Wachen der Bleichgesichter ballern auf alles, was sich irgendwo bewegt, auch nachts, wenn sie nur ein leises Rascheln hören. Finden sie im Morgengrauen einen toten Shoshone, einen „Digger“ wie sie die Indianer des großen Beckens verächtlich nennen, ist dieser nichts als ein herumschleichender Dieb, der ihnen an ihr Vieh will oder an ihren Proviant.

Es geht also um Leben und Tod, wenn die Familien erst ihre Jüngsten durchschleusen und auf der andern Seite so lange im Gebüsch verstecken, bis die Älteren eins nach dem andern unversehrt durch die Todeszone geschlichen sind und mit heiler Haut nachkommen konnten. Dass ein derartig langwieriges und übervorsichtiges Unternehmen die Neugier mancher Klapperschlange weckt, die sich im Gebüsch zusammengerollt hat, lässt sich denken. Meine Frau Hózhó sagt, wenn du ihr nicht zu nahe kommst, ist die Klapperschlange vollkommen ungefährlich und weitaus ängstlicher als das Menschenkind, das sie mit offenem Mund bestaunt. Ihr verräterisches Rasseln kann allerdings tödlich sein, wenn ein schießwütiger Wachposten blindlings in die Richtung ballert, aus der er es vernimmt. Dass die hungernden Familien durch die gezogenen Trassen von ihren überlebenswichtigen Wasserstellen oder Nahrungsquellen wie etwa Nusshainen abgeschnitten sind, die naturverbundenen Sammler und geschickten Wurzelsucher vom Zugang zu Jahrtausende alten Zeremonienstätten getrennt, kommt den Siedlern nicht in den feindseligen Sinn.

„Heimtückische Wilde“ sind die Shoshone und Paiute des großen Beckens in ihren verhetzten vorurteilserblindeten Augen, „erbärmlich, degeneriert und verächtlich, die niederträchtigsten Indianer, die es gibt“, dass die Bewohner des großen Beckens in Wirklichkeit sehr viel friedfertiger und -liebender sind als die von allen bewunderten und verklärten und zum Teil recht kriegerischen Präriestämme, spielt bei ihrer überheblichen Einschätzung keine Rolle. Obgleich das große Becken aus Sicht der Einwanderer nur dafür gut ist, in endlosen Planwagentrecks so rasch als möglich durchquert zu werden, sind seine primitiven Erdbaubewohner den hochkultivierten Siedlern nichts als ein schmutziger Dorn im hochmütigen Auge und ein höchst überflüssiges Ärgernis dazu.

Als die ersten Erforscher der indianischen Naturvölker das winterliche große Becken betraten und die stillen tiefeingeschneiten Erdbauten der Shoshone entdeckten, glaubten sie allen Ernstes –und das ist kein Witz!- die Shoshone würden Winterschlaf halten. Ihren Herzschlag verlangsamen, den Stoffwechsel verringern, die Atmung mehr oder weniger einstellen, die Körperwärme herunterfahren, also einen richtigen Winterschlaf halten wie die Bären, Präriehunde und Murmeltiere, in dessen Verlauf sie keine Nahrung zu sich nehmen müssen und nichts zum Trinken brauchen. Anders konnten sich die Europäer nicht erklären, wie ein Mensch in so einer feindseligen Umwelt den langen Winter überleben soll.

Dass die Shoshone in ihren unterirdischen Rundhütten im Kreise ihrer Lieben um ihre Herdstelle, auf ihren Nussvorräten, Samenkörnern und Wurzeln sitzen, an Eichelbrot knabbern und Dauerkuchen naschen, getrockneten Fisch und Kaninchenfleisch weich kauen, Schnee zu Trinkwasser schmelzen und zu allerlei Tee-artigen Getränken verkochen, wunderschöne Körbe, Flaschen und Schalen flechten und formvollendete Schüsseln schnitzen, Kleider nähen, mit Muscheln zieren und mit Mustern besticken, Fangnetze weben, Keulen und andere Jagdgeräte fertigen, einander schöne und spannende Geschichten aus naher und ferner Vergangenheit erzählen, lachen und scherzen, an Weihnachten Kinder gebären, sich in ihre Felle kuscheln und lieben, viel und ausgiebig schlafen und schlummern, sprich es sich urgemütlich machen in der Erdhöhle ihrer Kahni und auf diesem Wege die grimmigen Wochen verträumen, überstieg ihre Vorstellungskraft und mochte ihnen nicht in den Sinn. Zum Schluss sind diese primitiven Erdbaubewohner wesentlich schlauer als der weiße Mann, der sich durch die eisige Wildnis quält auf der Suche nach „unerschlossenen“ Welten, die es zu kultivieren und bewohnbar zu machen gilt, diese trostlos karge, sich endlos erstreckende Halbwüste scheint sich jedenfalls nicht dafür zu eignen.

Das große Becken erstreckt sich von der Küste Kaliforniens bis Nebraska.

Das Volk der kaum voneinander zu unterscheidenden und eng ineinander verwobenen Shoshone und Paiute lebt dort seit Jahrtausenden, sein Stammesgebiet erstreckt sich von Nevada im Südwesten bis Montana im Nordosten, von Idaho im Norden bis Arizona im Süden, das ist jede Menge Land, der Großteil davon jedoch karg und unfruchtbar, eine raue felsige Gegend mit dem großen Salzsee ziemlich genau inmitten. Oberhalb des Salzsees schlängelt sich der Schlangenfluss durch sein Tal, unterhalb fließen die Wasser des Colorado durch ihre Schneise. Am besten haben es noch die am nördlichsten Zipfel lebenden Ostshoshone Wyomings am Fuß der Rocky Mountains erraten, der Missouri ist nicht weit und jenseits seines Nordufers erstreckt sich die ewige Weite der Prärie. An den Süden ihres Territoriums grenzen gleich mehrere Wüsten, in deren Öde ich unter anderem mein Unwesen treibe.

Kommst du aus Richtung Süden ins Great Basin geritten, merkst du nur an seinen Bewohnern und den Bewässerungsgräben für ihre Felder, dass du den Südwesten hinter dir gelassen hast und im Land der sesshaften Grashüttenmenschen angekommen bist, die schroffe Wüstenlandschaft ist die selbe, ebenso die anspruchslose Tierwelt. Im Osten reitest du den Colorado entlang und den Green River hinauf, dort ragen die höchsten Gipfel der Rocky Mountains viertausend Meter in die Höhe, an den Füßen der Berge jagen die Ute, deren versteinerte Ahnen im Bryce Canyon Schulter an Schulter übers Land wachen, das Pferd hat ihnen das Tor in die Plains geöffnet und sie zu Büffeljägern werden lassen, den benachbarten Cheyenne in ihrer nomadisierenden Lebensweise nicht unähnlich. Querst du von Westen kommend die Sierra Nevada, gelangst du nördlich von Reno an den Pyramid Lake und findest ein Reich voller Fische, Vögel und essbarer Pflanzen, dort leben die Northern Paiute, und sie leben gut. „Diese Indianer sind sehr fett“, weiß der Forschungsreisende Frémont zu berichten, „und scheinen ein leichtes und glückliches Leben zu führen“. Wohl ist das östlich gelegene Land der Northern Shoshone und Bannock mit einem dichten Geflecht aus kleinen Flüssen durchzogen, in der aufgeplatzten und rissigen Alvord Desert aber ist kein Leben möglich, kümmerliches Gebüsch ringt dem salzigen Boden ab, was es zum Vegetieren braucht, nicht einmal Tiere können sich hier behaupten, wie die Paiute haben sie sich an den Berghängen mit ihren Wacholderbüschen und Nusskieferwäldchen angesiedelt.

Die Beckenbewohner sind ein zähes überlebensfähiges Volk, das der feindlichen Natur in mühseligem Kampf alles abgerungen hat, was ihnen ihre Wildnis an Lebensgrundlage und Nahrungsangebot schenkt und zu bieten hat. Die ineinander verwobenen Nachbarn der Shoshone und Paiute gliedern sich selbst in Zugehörigkeiten wie Fischesser, Büffelbeerenesser, Reisgrasesser, Fichtenesser und sogar Erdesser, tatsächlich gehört nährstoffreicher Ton zum Nahrungsangebot der Honandika. Alle sind Meister der Kaninchen- und Hasenjagd, bei denen sie Weißschwanz-Eselhasen und Wollschwanzkaninchen im Verbund mit Hunden in riesige Netze treiben, die über einen halben Meter hoch sind und - aus aneinander befestigten Stücken mehrerer Familien zusammengesetzt - eine Länge von etwa hundert Metern ergeben, was selbst für den Eselhasen, der berühmt ist für seine meterweiten Sprünge, eine tödliche Falle darstellt, zudem bereichern sie ihre Speisekarte mit Präriehunden, Vögeln, Eidechsen, Heuschrecken und ab und zu einem erlegten Gabelbock, Maultierhirsch oder Dickhornschaf. Ihr altes Volk lebt in umherziehenden Familienverbänden, nur einmal im Jahr zur großen Nussernte kommen sie, einem großen Stamm gleich, an den bewaldeten Hängen der Berge zusammen, weihen und heiligen die hölzernen Spender in einer sorgfältig durchgeführten Zeremonie, pflücken gemeinsam deren kostbare Frucht und feiern ausgelassene Feste der frohgemuten Begegnung und Danksagung zugleich.

In der beschränkten Wahrnehmung der Einwanderer bestehen diese Wilden nur aus Paiute, Ost- und Westschoschonen, aber für Eingeweihte und um den Überblick zu bewahren, handelt es sich bei „den“ Shoshone und ihren Nachbarn um die Stammesgruppen und Sippenverbände der Diegueno, Cahuilla, Washoe, Paviotso, Tejon Serrano, Cupeno, Kaibab, Numa, Mono, Chemehuevi, Kawaiisu und vieler anderer mehr, deren Lebensweise sich vom Lachsfang bis zur Bisonjagd erstreckt und zum Teil - auch äußerlich - wesentlich voneinander unterscheidet, lediglich ihre mit den Stämmen der Bannock und Ute gemeinsame und bis auf die verschiedenen Dialekte –etwa Campo, La Posta, Manzanita, Cuyapipe und Laguna allein im Süden- recht einheitliche Sprache des Panamint verbindet das große Volk des großen Beckens miteinander. Seine Frauen zum Beispiel tragen schöne eingängige Namen wie Sacajawea, Datsolali oder Wunavai.

Alles klar bis hierhin?

Nimmt man etwa noch die Comanche dazu, die Nerme, Nemene oder Neum, wie sie selbst sich nennen, die ja nichts anderes sind als in die Prärie abgewanderte Shoshone und in der Paiute Sprache alsbald „kimantsi“ für Fremder geheißen werden, so gesellen sich noch die Penateka, Nokoni, Kotsoteka, Yamparika, Tenawa und Kwahadi zu ihrer illustren Gesellschaft. Ist doch ganz einfach, Hózhó jedenfalls vertritt diese Ansicht. Dafür kann sie unter den Einwandererströmen einen Foxy nicht von einem Sandy, einen Irishman nicht von einem Hollandés, einen Frenchman nicht von einem Anglo, einen Hispano nicht von einem Italiano, einen Greek nicht von einem Turkey und den „Old Country Stomp“ nicht vom „Indian War Whoop“ unterscheiden, von den German, Dutschy und Swissy gar nicht erst zu reden, ist inzwischen auch völlig egal, sind ja allesamt Amerikaner und trällern die selben Lieder, auch wenn sie sich in den Metropolen zusammenrotten, regelrechte Bandenkriege liefern und einander die Köpfe einschlagen.

Diese zivilisieren Bleichgesichter nun, die den Shoshone den geringschätzigen Namen „Grashüttenmenschen“ verpassen ob ihrer zweckmäßig naturverbundenen Bauweise und anspruchslosen Lebensart, verwüsten das karge Land in kurzer Zeit, plündern es gnadenlos aus und verseuchen es ohne Gewissen. Gewaltige Rinderherden zerstampfen die kostbaren Gräser und nährreichen Pflanzen der Halbwüste, fressen die wilden Bohnen und Eicheln, die Hauptnahrung der vorwiegend vegetarischen Shoshone, vergiften die wenigen Flüsse mit dem Quecksilber ihrer zahlreichen Minen, in den Augen der Shoshone das Blut der Erde, das durch die Flussbetten fließt wie durch Adern, bringen die fischreichen Seen durch Brunnengrabungen und ein dichtes Netz von Kanälen zum Austrocknen und zerschneiden ihre geliebte Heimat mit der stählernen Klinge des eisernen Pferdes. Auch die erste Geistertanzbewegung ändert nichts daran und vertreibt weder den weißen Mann noch schenkt sie ihm das Licht der „Versöhnung“.

Die Bewohner des großen Beckens lieben ihr Land, das ihnen alles abverlangt, und brauchen es wie kleine Kinder ihre Mutter. Heimatlosigkeit und Vertreibung ist für sie gleichbedeutend mit Tod. Tatsächlich lassen sich auch die Shoshone nicht willenlos zur Schlachtbank führen wie die Longhorns, obgleich unter den Nachbarstämmen für ihre Friedfertigkeit bekannt, erwehren sie sich schließlich ihrer Heimat und Haut so gut es eben geht, und das keineswegs ungeschickt.

Angefangen hatte alles ausgesprochen friedlich. Doch wer spricht heute noch davon, dass sie legendäre Clark and Lewis Expedition ihren Erfolg einer Shoshone verdankt? Anno achtzehnhundertundvier ruderten die beiden jungen Offiziere mit fünfundvierzig Männern in nur drei Booten von St. Louis aus den Missouri hinauf und stoßen vor in unerforschtes und unbekanntes Land. Die Forschergruppe überwintert in einem Zeltlager im Gebiet der Mandan, wo sie auf Sacajawea treffen, und die Frage, wie weit sie ohne ihre Hilfe noch gekommen wären, stellt sich völlig zu Recht. Im Alter von zehn Jahren war das Shoshone Mädchen von Hidatsa entführt worden, später wurde die junge Frau von dem französisch-kanadischen Pelzhändler Charbonneau freigekauft und vom Fleck weg geheiratet. Dieses Paar nun können Louis und Clark zur Teilnahme an ihrer Expedition überreden, und Sacajawea ist es fortan, die deren Führung übernimmt und nicht nur als Dolmetscherin unschätzbare Dienste leistet, so dass die Abenteurer tatsächlich den Pazifik erreichen und sogar über Land wieder zurückkehren, nachdem sich kein Handelsschiff gefunden hatte, sie auf dem Wasserweg nach Hause zu befördern. Nach zweieinhalb Jahren und sage und schreibe zwölfeinhalbtausend zurückgelegten Meilen hat die Expedition nur einen Toten zu beklagen, der vermutlich an einem entzündeten Blinddarm gestorben ist. Die Teilnehmer selbst sind es, die wissen, wem sie diesen schier unfassbaren Erfolg zu verdanken haben, aus Dankbarkeit benennen sie eine markante Felsformation in Montana nach Sacajawea's Sohn - Clark daselbst verewigt sich im Sandstein mit seiner eingemeißelten Unterschrift- und so heißt der Felsen eben bis heute „Pompeys Pillar“ sprich Pomps Kopfkissen, nach dem Spitznamen, den die Expeditionsteilnehmer dem kleinen Jean Baptiste gegeben hatten.

Noch in den Fünfzigern, zur Zeit der ersten großen Siedlertrecks, die auf dem Weg nach Kalifornien durch ihr Land ziehen, begegnen die Shoshone den Weißen mit großer Freundlichkeit. Tausende von Einwanderern geleitet der Shoshone Häuptling Washakie auf sicherem Wege durch sein Land, das heutige Wyoming, abgeleitet übrigens von dem Wort der Algonquinsprache „Mecheweami-ing“, was frei mit „auf den großen Plains“ übersetzt werden kann. Der Truckee River hingegen trägt den Namen des Paiute Häuptlings Trukee, dankbare Siedler, die er Mitte der Vierziger durch gefährliche Passagen und über strömende Flüsse geführt hatte, benannten den Fluss nach ihrem Helfer.

Zu Beginn der Sechziger, als die Züge der Prärieschoner im Zuge der großen Einwandererflut nicht mehr abreißen wollen, ist von dieser Freundschaft nichts mehr übrig, Shoshone wie Paiute sehen sich massiv in ihrer Existenz bedroht und stehen am Rande des Abgrunds oder besser sind dabei, vom selben verschlungen zu werden. Beim Ausbruch ihrer „Erhebung“ überfallen Bannock und Shoshone folglich am Oregon Trail einen Siedlertreck, einen von vielen, die durch ihr Land in den Westen ziehen, zwei volle Tage wütet der Kampf und kostet neunundzwanzig der vierundvierzig westwärts Wandernden das Leben, die fünfzehn Überlebenden indessen können sich nur dadurch des sicheren Hungertodes erwehren, indem sie bis zum rettenden Eintreffen einer Hilfstruppe ihre gefallenen Kameraden verspeisen.

Dieses wahrlich schaurige Anfangskapitel des Aufstands schien den friedfertigen Bewohnern des großen Beckens offenbar ebenso wenig zu behagen wie den entsetzten Weißen, und bis auf vereinzelte Überfälle auf verstreute Siedlungen entwickelten sie in der Folge eine neue und letztendlich sehr viel wirkungsvollere Strategie. Schnell nämlich hatten ihre Häuptlinge durchschaut, wie wichtig schriftliche Botschaften sind für die weißen Eindringlinge, weshalb sie ihren Kriegern die Order erteilten, vorzugsweise die Postreiter des Pony Express „abzufangen“, um auf diesem Wege die zahllos ins Land eingedrungenen Bergleute von jedem Informationsfluss abzuschneiden und langsam zu zermürben. So ein Postreiter lebte seinerzeit gefährlich im Land der Shoshone und Paiute, über das ein gewisser Dan Carpenter bereits zehn Jahre vor diesen Vorfällen zu sagen wusste: „Das ist das ärmste und wertloseste Land, welches je ein Mensch erblickt hat- kein Mensch, der es nicht gesehen hat, kann eine Idee davon haben, welche Art von ödes, wertloses, absolut unnötiges, von Gott verlassenes Land das ist, nicht gottverlassen, nein, denn Gott hatte ganz sicher niemals etwas mit diesem Land zu tun.“

Da die „Digger“ nun mal keine Menschen sind, hat Gott auch nichts mit ihnen zu schaffen, umso mehr jedoch der weiße Mann, als er im wertlosen Durchzugsgebiet der Planwagenkolonnen eine wahre Fundgrube an dringend gebrauchten Bodenschätzen erkennt. Die massenhaft geschickten Bergleute sind natürlich der festen Überzeugung, dass es ihr gottgegebenes Recht sei, im großen Becken herum zu wühlen auf Kupfererz komm raus und Wasser verschwinde in der Tiefe oder werde zur giftigen Brühe, sie erachten den Widerstand der verdurstenden Shoshone als unverschämte Anmaßung seelenloser Wilder, die mit ihrem böswilligen Terror ihren Auftrag und redlichen Broterwerb gefährden und haben folglich keinerlei Hemmung, diesen Untermenschen mit dem entsprechenden Hass zu begegnen. Die Poststation Williams Station wird zum Schauplatz eines ruchlosen Verbrechens, als einige Minenarbeiter über zwei Paiutemädchen herfallen und die jungen Frauen brutal vergewaltigen. Zufällig des Weges kommende Shoshonekrieger werden Zeugen der feigen Schandtat, fackeln nicht lange, töten die Verbrecher an Ort und Stelle und brennen das Stationsgebäude nieder. Eine Ungeheuerlichkeit, die umgehend zur Bildung freiwillig entschlossener Bürgerwehren führt mit dem erklärten und bewährten Ziel, „den Indianern eine Lektion zu erteilen“.

Die selbsternannten „Racheengel“ aber sollten es sein, die sich eine solche abholen, als ihrer Hundertundfünfe von Paiute- und Shoshonekriegern in einen Hinterhalt gelockt werden, den sechsundvierzig von ihnen nicht mehr lebend verlassen. Dringlichste Zeit also und berechtigter Anlass, die Armee auf den Plan zu rufen. Diese kommt auch postwendend angeritten, den ehemaligen Texas Ranger und nunmehrigen Colonel Jack Hays an ihrer Spitze, der sich unverzüglich auf die Fährte der Krieger setzt, die Aufständischen bis nach Nevada verfolgt und in unmittelbarer Nähe der Pyramid Lakes seine ganze militärische sprich waffentechnische Überlegenheit an den Gestellten demonstriert, und dass bei dieser Strafexpedition „nur“ fünfundzwanzig Paiute ihr Leben lassen, hat seine simple Ursache darin, dass die Schar der Gejagten zur Überraschung des Colonel nicht größer war. Für die friedliebenden Bewohner des großen Beckens jedoch allemal genug, um ihren Widerstand auf und sich ihrem Schicksal zu ergeben. Als Symbol der Abschreckung sowie als unmissverständliche Warnung wird bald darauf Fort Churchill in die Landschaft gepflanzt, um jedwede indianische „Aggression“ anschaulich im Keim zu ersticken, und in der Tat erheben die Indianerstämme der Region von da ab nie mehr ihre Waffen.

Was ihnen bleibt, ist ein langsames Sterben, und der Tod ist es, den sie ob seiner steten Gegenwart allesamt fürchten. Nun, wer fürchtet den Tod nicht, die Shoshone aber begraben ihre Toten seit jeher unter ihren eingerissenen Hütten, verbrennen deren Kleider und persönliche Habe, töten ihre Pferde, schicken alles Getier der Verstorbenen auf den Weg der Milchstraße und verlassen die Grabstätte, ohne sich umzudrehen, weil das den Geist der Verstorbenen wecken und seinen Zorn auf sie ziehen könnte. Zwei Seelen trägt der Mensch nach ihrem Glauben in der Brust, eine gute, für die Unsterblichkeit und das Jenseits bestimmte namens Mugua, und eine böse ruhelose namens Tso’apa, die nach dem Tod ihres Trägers die Lebenden heimsucht und sie hinab ins Totenreich verschleppen will.

Nach meinem unbedarften Dafürhalten fehlt dem Glauben der Shoshone ein bisschen die tröstende Leichtigkeit, er hat etwas Bedrückendes und Schwermütiges an sich, aber möglicherweise wurde er das erst in den letzten Jahrzehnten und seit dem Eintreffen der Weißen. Obgleich, als Hózhó’s erste Blutung das Mädchen zur Frau machte, wurde sie zusammen mit ein paar anderen ebenfalls gerade geschlechtsreif gewordenen Jungfrauen einer recht deftigen und harten Zeremonie-Prozedur unterzogen, die eine Art Prüfung darstellen soll auf dem Weg zur erwachsenen Frau. Erst muss die Ärmste eine kleine Kugel aus gepresstem Tabak schlucken, so dass ihr entsetzlich übel wird, zwei Mädchen müssen sich sogar heftig erbrechen. Anschließend darf sie sich in eine Grube legen, in der, unter einer Grasschicht verborgen, heiße Steine glühen, und zwar für geschlagene volle drei Tage und Nächte. Um sich nicht unbemerkt aus ihrem gequälten Körper entfernen zu können, wird ihr Unterleib mit zwei flachen, erwärmten Steinen beschwert, ihr jungfräuliches Gesicht zudem mit einer geflochtenen Schale zugedeckt, angeblich um sie gegen Fliegen zu schützen, vermutlich aber wollen die Erwachsenen und Alten ihre heißen Tränen nicht sehen. Drei Tage lang tanzt die ganze Dorfgemeinschaft um die Gruben herum, tagsüber die Frauen und die Männer die Nacht durch, bis der Albtraum endlich ein Ende hat, die Mädchen aus ihrem Folterbett befreit werden, gewaschen und eingeölt,  in ein Festgewand gesteckt und liebevoll geschmückt, woraufhin ihnen die Frau des Häuptlings daselbst ihr erlöstes Gesicht bemalt, was sie dann doch ziemlich stolz macht und ihre Knospenbrüste gleich um ein paar Zentimeter wachsen lässt.

Die mannigfaltigen Initiationsriten der Indianervölker sind mir seit jeher suspekt und unheimlich, aber nun, sie gehören zu ihrem Leben und ihrer Kultur als fester, unverrückbarer und gesellschaftlich wichtiger unverzichtbarer Bestandteil, dessen Abschaffung schlicht unvorstellbar ist für die animistische Naturreligion mit ihrer mitunter sehr befremdlichen spirituellen Auslegung natürlicher Reifungsprozesse. Ich für meinen Teil kann und konnte getrost darauf verzichten.

Vermutlich mit einer der Gründe, weshalb ich nie erwachsen geworden bin.
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 06 Februar 2017, 09:22:42

Muschelblume und Massaw


Sarah Winnemucca, meiner Frau ein leuchtendes Vorbild, liegt im Sterben, oben im östlichen Idaho an der Grenze zu Montana fern ihrer Heimat. Die Schwindsucht hat ihr in den letzten Jahren schwer zugesetzt, es dürfte bald zu Ende gehen mit der großen Paiuti, all ihre Mühen scheinen vergebens, ihr unermüdlicher Kampf für die Rechte ihres Volkes verloren.

Nicht bei allen Shoshone, Paiute und Ute erfreut sich diese bemerkenswerte Frau derselben Beliebtheit, manche bezeichnen sie gar abschätzig als „Apfel-Indianerin“, sprich außen rot und innen weiß. Für andere wiederum ist sie die Pocahontas der Gegenwart. Die Skepsis ihrer Person gegenüber hängt sicher auch mit ihrer Herkunft und Kindheit zusammen. Ihr Großvater hab ihn selig war den Weißen immer sehr wohlgesonnen, führte die Armee der Blauröcke gutgläubig über die Sierras, um die verlogene „Öffnung des Westens“ mitzugestalten und einzuleiten. So kam es, dass Tocmetone, die „Muschelblume“ wie sie eigentlich heißt, ab ihrem zehnten Lebensjahr bei aufgeschlossenen weißen Familien in Kalifornien erzogen wurde, sicher auch als Haushaltshilfe eingesetzt, und als junges Mädchen im San-Joaquin-Tal eine katholische Schule besuchte.

Dort begegnete der selbstbewussten Häuptlingstochter zum ersten Mal die hässliche Fratze des Rassismus, empörte Eltern beschwerten sich darüber, dass ihre wohlerzogenen Kinder neben einem wilden Indianermädchen sitzen und mit ihr den Klassenraum teilen müssten. Das war erst der Anfang einer endlosen Kette ähnlicher Erfahrungen, die der jungen und lernbegierigen Frau tagtäglich und überall in der behüteten und abgeschirmten Welt der Weißen widerfahren würden. Diese schmerzliche Feuertaufe war es wohl, die Winnemuccas kritischen Verstand weckte und sie Verantwortung für ihr unterdrücktes Volk übernehmen ließ, nichts brachte ihre zornig erhobene Stimme mehr zum Verstummen, die im ganzen Land zu hören war in zahllosen Vorträgen und Gesprächen mit allerlei Zeitungsgrößen. Nichts außer der Sichel des nahenden Todes. Einer todbringenden Krankheit, die sicher auch Erschöpfung und Enttäuschung gezollt ist.

Ihr Mitte der achtziger Jahre veröffentlichtes Buch Titels „Life among the Piutes“, in dem sie neben einer spannenden Lebensbeschreibung in aller Entschiedenheit für die Bürgerrechte der Indianer Partei ergreift, änderte nichts an deren auswegloser Situation. Über dreihundert Vorträge hielt sie in diesen Tagen entlang der Ostküste, vor breitem und aufmerksamem Publikum, dem sie in klaren Worten - sie spricht fließend Englisch - Not und Anliegen ihres Volkes unterbreitete, außer ein paar Spenden kam nichts Wesentliches heraus dabei.

Mit zwanzig Jahren hatte Winnemucca gelernt, vor weißem Publikum aufzutreten und es für sich zu gewinnen, als sie mit Vater und Schwester unter anderem in San Francisco auf der Bühne stand mit der Darbietung der „Tableaux Vivants aus dem Indianerleben“, bei der die Schausteller in einer Fantasielandschaft Szenen aus dem indianischen Alltag vorführten. Ihr eigentliches Problem war vermutlich, ständig von wohlmeinenden Leuten umgeben zu sein, die ihr Mut machten und Hoffnung, wo es längst keine mehr gab. Diese führten die kämpferische Squaw gegen erbitterten Widerstand in die gehobene Gesellschaft der Bleichgesichter ein und öffneten ihr die Tür zu den Schaltstellen der Macht, ebneten ihrem Licht den Weg ins Herz der Dunkelheit, dessen Finsternis sie letzten Endes verschlang.

Immerhin verdankt meine Frau Hózhó als Mädchen Datsolali ihre Bildung der Gründung einer Schule für Paiute und Shoshonekinder, in der diese zweisprachig unterrichtet wurden und erstaunlich viel in erstaunlich kurzer Zeit lernten. Winnemuca hatte die Unterrichtsstätten mit der Unterstützung zweier einflussreicher und vermögender Schwestern ins Leben gerufen, eine davon die bekannte Schulreformerin Elizabeth Peabody. Vor vier Jahren wurden ihre Niederlassungen geschlossen, als mit dem sogenannten „General Allotment Act“ das Verbot unabhängiger, von Indianern unterrichteter Schulen erging. Winnemucca hatte sich sogar noch für diesen stark gemacht vor dem Unterausschuss des Senats, weil sie sich davon die Eingliederung indianischer Kinder in die Schulen der Weißen erhoffte, die sie für erstrebenswerter hielt und die ihr als Gegenleistung für ihr Einlenken versprochen und zugesagt wurde. Eine böse Falle, wie man sich denken kann und schamloser Betrug dazu, niemand zeigte sich in der Folge daran interessiert, dass die Bälger der primitiven Bewohner des großen Beckens lesen und schreiben erlernen und gemeinsam mit ihren verwöhnten Fratzen die Schulbank drücken.

An diesem hinterhältigen Verrat ist die mutige Frau und Kämpferin wohl endgültig zerbrochen. Durchgemacht hatte Sarah bis dahin reichlich genug, um den Lebensmut verlieren zu können. Anfang der Sechziger wurden ihre Mutter, eine Schwester und ein Bruder in den blutigen Nachwehen des Paiutekrieges ermordet. Aber anstatt aufzugeben, nahm sie entschlossen den Kampf gegen die Skrupellosigkeit und Habgier der korrupten Angestellten in den Indianerbüros auf.

„Wenn dies die Zivilisation ist, die uns dort erwartet, gebe Gott, dass wir nie in eine Reservation gehen müssen“, sagte sie seinerzeit prophetisch. Gott musste wohl eingeschlafen sein oder grade weggeschaut haben, die Northern Paiute wanderten ins Reservat nach Oregon mit dem sinnigen Namen „Malheur Reservation“, das böse Omen bestätigte sich, der besonders skrupellose Agent vor Ort beschlagnahmte nicht nur die dürftigen Erträge ihrer jungen Landwirtschaft, er verhökerte und verschacherte zudem ohne ihr Wissen ihr bestes Land an weiße Farmer. Winnemucca bot dem Schurken tapfer die gescheite Stirn, als sich aber die wütenden Paiute mit den Bannock zusammentaten und den Aufstand wagten, geriet sie in einen gewaltigen Interessenskonflikt, da sich ihr geliebter Vater Old Winnemucca unter den Aufständischen befand.

In ihrer Funktion als Dolmetscherin der US Army gelang es ihr zwar, denselben vor der sicheren Hinrichtung zu bewahren, zum Verlassen seines Versteckes zu überreden und zur Aufgabe zu bewegen, die Verbannung ihrer Verwandtschaft nach Washington in die Yakima Reservation konnte sie jedoch nicht verhindern. Ins Gesicht wurde der inzwischen geachteten und sprachführenden Vermittlerin vom Innenminister die Rückkehr ihres Volkes in ihre Heimat zugesagt, hinter ihrem Rücken aus Washington gleichzeitig die Order erteilt, die Paiute unter gar keinen Umständen freizulassen.

Winnemucas öffentliche Kritik, ihre Redegewandtheit und ihr scharfer Verstand waren inzwischen gefürchtet bei den Mächtigen nicht nur in Washington, das Büro für indianische Angelegenheiten versäumte keine Gelegenheit, die lästige Querulantin als wüste Trinkerin, rauflustige Spielsüchtige und enthemmte Schlampe hinzustellen und zu brandmarken, ihre vier gescheiterten und unglücklichen Ehen lieferten den Verleumdern ebenso die Handhabe für ihren Rufmord als auch ihr Hang zum Glücksspiel. Bei den Stämmen des großen Beckens ist die Spielleidenschaft allgemein üblich und verbreitet, etwa das traditionelle Handspiel, Indianer spielen eben nun mal für ihr Leben gern. Nichtsdestotrotz ist Winnemuccas Einflussnahme auf die Indianerpolitik ihrer Zeit außerordentlich, keiner Rothaut sonst musste derart viel öffentlicher Raum gelassen werden für nicht zu überhörende harsche Kritik, keinem noch so mächtigen Häuptling wurde diese Unerhörtheit jemals zugestanden. Unerhört geblieben ist ihr unermüdlicher Streit für die uneingeschränkten Bürgerrechte der Indianer, ihre Eingliederung in die Gesellschaft und ihre Anerkennung als vollwertige und mitbestimmende Mitglieder eines freien Landes dennoch, wie nicht anders zu erwarten.

„Es ist wahr“, schreibt sie zum Ende ihrer Lebenserinnerungen, „dass mir meine Leute manchmal misstrauen, aber das liegt daran, dass man mir Worte in den Mund gelegt hat, die sich als leerer Wind herausgestellt haben. Man hat mir an höherer Stelle Versprechungen gemacht, ohne sie zu halten, und ich musste dafür mit dem Vertrauensverlust meines Volkes büßen. Meine Leute haben keine Kenntnisse von dieser Welt, aber sie wissen, was Liebe meint und was Wahrheit bedeutet. Sie kennen die Weltgeschichte nicht im Geringsten, aber sie können den Geist-Vater in allem sehen.“

Diese Stelle in dem ersten der bislang verschwindend wenigen Bücher aus indianischer Feder mag ich besonders, hier sagt uns die gute Sarah Winnemucca recht unverblümt durch die Muschelblume, dass die Paiute ungebildet sein mögen, aber deshalb noch lange nicht blöde. Dass sie sehr wohl in der Lage sind, Recht von Unrecht, Wahrheit von Lüge und Aufrichtigkeit von Betrug zu unterscheiden. Dass in der weltklugen und gewissenlosen Politik des weißen Mannes nichts zu entdecken ist vom väterlichen Geist, den die Paiute kennen und ehren. Die Erklärung ihrer Niederlage ist das offene Eingeständnis des Scheiterns einer desillusionierten Diplomatin, ohne Zweifel, aber eines, die sich gewaschen hat und voll ins Schwarze trifft. Ebenso gut hätte sie schreiben können: „Meine geliebten Paiute, lasst euch nicht kleiner machen als ihr seid, ihr seid gute Leute und schwer in Ordnung, die überheblichen Weißen taugen allesamt nichts, glaubt ihren wohlgesetzten Worten nicht, sie lügen sowie sie den Mund aufmachen.“ Kein Wunder also, dass die Regierung keinerlei Interesse hat an der Lesefertigkeit der Paiute.

Bewundernswert, in der fremden Welt der Bleichgesichter aufgewachsen und die meiste Zeit ihres Lebens in ihrer Gesellschaft unterwegs, ist sich Winnemucca im Sumpfmorast und Dschungeldickicht weißer Politik im Herzen treu und Paiuti geblieben, also keineswegs Apfelindianerin, sondern Paiute durch und durch, außen weiß und innen rot. Und jetzt kehrt sie zu ihrem Volk zurück, auch fern von der Heimat.

Ich habe kein Volk mehr, zu dem ich zurückkehren könnte, wozu auch?

Zu denen, die für meine Herkunft verantwortlich zeitigen, gehörte ich nie. Zu denen man mich gehörig zählt, will ich nicht gehören. Zu denen ich gehörte aus freier Wahl, die gibt es nicht mehr oder sie sind mir fremd geworden. Zu denen ich gehören musste, die hab ich hinter mir gelassen. Zu denen ich gehören wollte, werde ich nie ganz gehören können. Hózhó und unsere Tiere, das ist nun mein Volk. Ein kleines und bedeutungsloses, aber ein gutes.

Längst ist der Indianersommer vorbei, der Winter naht, das letzte Abendlicht verglimmt, die Nacht bricht herein. An der Schwelle zum letzten Lebensabschnitt des gebrechlichen Alters habe ich endlich Ruhe und Zeit in der trauten Zweisamkeit unseres schlichten Heimes, auf mein Leben zurückzublicken. Die Erinnerungen kommen und gehen nach Belieben, springen hin und her, überschneiden sich und purzeln wild durcheinander. In der Tat, ein weiter Ritt liegt hinter mir, und es war ein einsamer Ritt. Auch wenn mein Sattel auf dem Balken ruhte und ich meine Tage an der Seite oder im Kreis von diesen und jenen fristete, blieb ich allein und unverstanden, ja einsamer als ich es mit mir allein je hätte sein können. Und glaubte ich etwas gefunden zu haben, war es verloren, noch ehe ich es als das meine und mich darin hätte erkennen können.

Ein Fremder war ich auf Erden zeitlebens und bin es noch, doch nun bin ich es nicht mehr alleine. 

Der kleine Colorado bildet die Grenze zwischen Apache im Westen und Hopi im Osten.

In den angenehm kühlen Räumen der Pueblos lauschen die Kinder andächtig einer Geschichte, die sich auch unter den Erwachsenen großer Beliebtheit erfreut. Ich glaube sie von woanders her zu kennen, meines Wissens ist sie sehr viel älteren Ursprungs und biblischen Alters- aber spielt das irgend eine Rolle? In der aufgefrischten Version der Hopi jedenfalls handelt sie in der Zeit der spanischen Kolonialherrschaft, was ja nun auch schon wieder ein ganzes Weilchen her ist, und erzählt von dem bärenstarken indianischen Riesen Massaw mit Haaren bis zu den Kniekehlen, der in den zerklüfteten Bergen, Höhlen und Klüften der Wüste haust. Der soll so stark gewesen sein, dass er einem angriffslustigen Berglöwen ins Maul gefasst, die Kiefer auseinander gestemmt und die arme Katze der Länge nach entzwei gerissen haben soll. Später, als er hungrig an der Stelle vorbeikommt, sieht er, dass wilde Bienen ihre Waben in den Kadaver gebaut haben, die randvoll mit süßem Honig gefüllt sind. Daher kommt das Sprichwort vom Honig aus dem besiegten Löwen schöpfen.

Der langzottelige Hüne läuft regelmäßig rum in den protzigen Hochburgen der spanischen Konquistadoren, Kirchenfürsten und Senóres und verkündet mit schallend kraftvoller Stimme, dass ihre Herrschaft vorüber und ihre Tage längst ausgezählt sind, sie haben es nur noch nicht begriffen und nichts davon bemerkt. Dass ihre Welt längst untergegangen ist, sie haben’s nur verschlafen in ihren goldenen Himmelbetten und ihren Niedergang runter gefressen an ihren reich gedeckten Silbertafeln. Dass sie längst in Schimpf und Schande, mit Schmach und Spott aus ihren Palästen und Tempeln vertrieben worden sind und nur noch als lebende Tote darin residieren, die ihr eigenes Sterben versäumt haben. Das schmeckt den Konquistadores, Kolonialherren und Damen nicht so besonders, den Bischöfen noch weniger, es stößt ihnen gallig auf und beschert ihnen arges Sodbrennen, mancher erstickt gar an einer Gräte. Und so schicken sie immer wieder Truppen in die Berge, gerüstete und schwerbewaffnete kampferprobte Soldaten, um den lästigen Unruhestifter und unerträglichen Miesmacher aufzustöbern, festzusetzen oder wenn nötig auszuschalten sprich abzustechen. Sie haben Glück, wenn wenigstens einer von ihren Kämpfern zurückkommt, um ihnen erzählen zu können, was sich im Gebirge abgespielt hat. Dass der schreckliche Kraftprotz fünf Mann mit einem einzigen Schlag seiner gewaltigen Fäuste zu Tode gebracht hat und zehn der Stärksten mit einem einzigen Fußtritt das Rückgrat gebrochen.

Nun, der Fex kennt das Gebirge wie die Westentasche seines Fellumhangs, weiß wo man seine Verfolger am besten in einen Hinterhalt locken kann und ihnen eine Falle stellen, da genügt unter Umständen ein ausgelöster Steinschlag an unausweichlicher Stelle, der geduldig abgewartete Einbruch der Nacht auf dem schmalen Grat, die Unterstützung durch einen Wolkenbruch und Wetterumschwung an einer Steilwand oder in einer trockenen Ranft, eine unsichtbar unauffindbar gemachte Quelle oder eine gut verborgene Felsspalte, es gibt unzählige Möglichkeiten im Fels den Tod zu finden, allemal genug für eine der örtlichen Besonderheiten unkundige Kompanie. Und wenn’s wirklich mal eng wird, beherrscht Massaw Steinschleuder und Speerwurf, kann mit der Keule umgehen und hat ob seiner naturgegebenen Bevorzugung sicher wenig Mühe, ein paar vorpreschende Angreifer mit reiner Körperkraft abzuschmettern und todbringend niederzustrecken oder einfach in den gähnenden Abgrund hinab zu schleudern, dazu genügt ein leichtes unerwartetes Schubsen. Aber welcher überlebende Soldat ist so blöd zu verraten, nach Strich und Faden an der Nase herumgeführt, für dumm verkauft und verbraten worden zu sein, wenn er seinen unzufriedenen Vorgesetzten Bericht erstatten muss? Der Wilde hat eben übermenschliche Kräfte und dem ist nicht beizukommen, trotz heldenhaften Kampfes konnte er nicht bezwungen werden, klingt wesentlich besser und einleuchtender, bringt ihm vor allem keine zusätzlichen Scherereien ein, froh noch am Leben zu sein wie er ist.

Davor, den Unbesiegbaren in der Stadt festzunehmen, scheuen die Herrschaften zurück aus Angst und Muffelsausen vor der brodelnden Volksseele der Puebloleute, die ihren Helden verehren und lieben, wie man sich unschwer denken kann. Deshalb beschließen sie, ihn in eine hinterhältige Falle zu locken in Gestalt –man höre und staune - eines Weibes, das sie nicht zu übersehen und entsprechend ansprechend vor dem Stadttor postieren. Unerfahren in den Gefilden der Liebe, geht der mal wieder nach dem Rechten schauende Bursche der feschen Hure prompt auf den Leim und verschwindet für längere Zeit in ihrem Gemach, wo sich die beiden vermutlich nicht mit Würfeln die Zeit vertreiben.

Zum ausgemachten Termin wartet die indianische Dirne, die schon als junges Mädchen zur käuflichen Liebe verknechtet wurde und allen Glauben verloren hat, bis der liebesdurstige Riese satt und zufrieden weg geschlummert ist, schleicht zur Tür und öffnet sie für das lauernde einsatzbereite Kommando spanischer Soldaten. Um keinen Verdacht bei ihrem Liebhaber zu erregen, warnt sie diesen noch sicherheitshalber mit einem schrillen Schrei, die Spanier kommen, der Hüne fährt aus dem Schlaf hoch und schickt die Meuchelmörder zur Hölle. Als beim nächsten Versuch doppelt soviel Attentäter auftauchen, ergeht es ihnen nicht anders, und auch die dreifache Menge schützt ihre Knochen nicht vor der naturgemäßen Zerbrechlichkeit. Allmählich werden die Auftraggeber ungeduldig, die verräterische Hure fürchtet um ihr Kopfgeld, und so geht sie mit der Raffinesse all ihrer erworbenen Talente eifrig daran, dem arglosen Naturburschen das Geheimnis seiner ungeheuren Kraft aus der Nase ähem zu ziehen. Der einfältig gutmütige Kerl ist gutgläubig und vertrauensselig genug, es seiner Angebeteten unter dem Versprechen absoluter Verschwiegenheit zu verraten.

Meine Kraft, gesteht Massaw der Durchtriebenen, steckt in meinen Haaren.

Und beim nächsten Mal, als der Hopihüne schläft wie ein Murmeltier, schnappt sich das Weibstück die Schafschere und schnippelt ihm vorsichtig die lange Mähne auf Höhe der Ohren ab, bis sich ein großer Haarberg neben dem Lager häuft, öffnet dem Stoßtrupp die Tür, ruft wie gehabt "Wach auf, die Spanier kommen!" und wird Zeugin, wie sich die Bande im Pulk auf den Überraschten stürzt und den Überwältigten mit der Masse ihrer Leiber unter sich begräbt, während zwei Hinzueilende dem Tobenden mit einer Fackel und glühenden Eisen die Augen aus den Höhlen brennen. Das geht ihr dann doch ein wenig zu weit und ziemlich nahe, am liebsten würde sie auf ihre Dublonen verzichten und dafür ihren Bären behalten, aber dafür ist es nun zu spät, selber schuld.

Die Obrigkeit von Kaisers Gnaden wirft den Geblendeten erst mal ins Loch und lässt ihn eine ganze Weile schmoren, genauer gesagt bei lebendigem Leib verfaulen, irgendwann aber kommt ihnen der glorreiche Gedanke, den Gemarterten zur Abschreckung und als Beweis ihrer ungebrochenen Stärke und uneingeschränkten Macht öffentlich zur Schau zu stellen, bevor er ihnen noch wegstirbt, sie fesseln ihn zu diesem Zwecke und für das Volk der unzivilisierten Rothäute gut sichtbar mit dicken Ketten an den gespreizten Armen zwischen zwei Säulen des Gouverneurspalastes, eines hochherrschaftlichen Herrenhauses höchster Güteklasse und von klassizistisch imposanter Bauweise, während die Stadtoberen alles im weiten Umkreis was Rang und Namen, Einfluss, Reichtum und Land besitzt zu einem rauschenden Ball im Innern der hellen und bombastischen Prunksäle laden.

Da steht der Ärmste nun mit seinen blinden Augen, der gefallene große Held der unterdrückten und gebeutelten  Pueblostämme, völlig verdreckt und abgemagert, verfilzt und verlaust, macht einen erbärmlichen Eindruck und liefert einen mitleiderregenden Anblick. Was aber keinem aufgefallen ist und wem niemand Beachtung geschenkt hat, sind seine Haare. Die nämlich sind in den langen Monaten seiner Dunkel- und Einzelhaft emsig  nachgewachsen, hängen ihm in langen Zotteln und fettig strähniger Mähne über die herabgesunkenen Schultern und bedecken die eingefallene Brust und den gebeugten Rücken.

Irgendwann scheint die zwar in Mitleidenschaft gezogene aber üppig vorhandene Pracht ihrem hoffnungslosen Träger bewusst zu werden, vielleicht glaubt er im empörten Gemurmel der versammelten Menge das herzzerreißende Schluchzen seiner reuigen Flamme vernommen zu haben, wer weiß, jedenfalls hebt Massaw plötzlich den Kopf und atmet entschlossen und tief durch. Auf einmal beginnt der gebundene und gedemütigte Hüne wild an seinen Ketten zu zerren mit aller Kraft, seine beachtlichen Muskelberge spannen und wölben sich, die Adern seines Halses quellen hervor wie Flussläufe, der Schweiß rinnt ihm in Strömen bis an die Zehen, und siehe da, die mächtigen Säulen beginnen Risse zu bekommen, zu knirschen und ächzen, schließlich zu zittern und krachen, schwanken und wanken, neigen sich langsam dem Todgeweihten zu und stürzen schließlich über ihm zusammen mit lautem Getöse, und mit ihnen das ganze prächtige Gebäude, das sich, seiner tragenden Stützen entledigt, erst knirschend verschiebt, dann mit haarsträubendem Kreischen, krachendem Poltern und brüllendem Bersten von oben nach unten auseinanderreißt und in einer gigantischen Staubwolke in sich zusammenfällt wie ein Kartenhaus.

Dabei erschlägt und verschüttet die noble Hütte die ganze versammelte und in Feierlaune völlig ahnungslos heitere Gesellschaft in ihrem bescheidenen Innern, sprich die gesamte Obrigkeit und Herrschaft des Landes unter spanischer Gewalt, Bischöfe wie Generäle, Großgrundbesitzer wie kaiserliche Beamte, Adlige wie Neureiche, alle ehrenwerten Damen und Herren der kaiserlichen Macht finden sich entmachtet unter Schutt und Balken wieder und anständig begraben. Bedauerlicherweise auch ihr indianisches Gesinde samt mexikanischer Dienerschaft, aber man kann nicht immer alles berücksichtigen, wenn es um einen vernichtenden Schlag geht. Als das sprachlose Volk der Pueblos nach überstandenem Schrecken beginnt, die Leichen aus dem wirren und grässlichen Trümmerhaufen zu graben und notdürftig aufzubahren, übertrifft die Anzahl ihrer entseelten Leiber die aller jemals in den unwirtlichen Bergen gebliebenen spanischen Soldaten. Und außerdem, würd’ ich mal sagen, tut den Espanos das jähe Ableben ihrer Führungs- und Oberschicht im Gegensatz zu dem des gemeinen Fußvolkes richtig schlimm weh, weil so ein Rumpf ohne Kopf nun mal seiner Tauglichkeit mit folgenschwerster Gründlichkeit beraubt ist.

Und nicht zuletzt haben sich dadurch die unheilvollen Prophezeiungen des langmähnigen Massaw auf - für die niedergeschlagenen Spanier - erdrückende Weise erfüllt.

Der Massaw ist ja nun genau so alt, wenn nicht sogar viel älter als die biblische Figur, deren Rolle er in der Version der Hopi offenherzig übernommen hat. Am Anfang der Zeit hat er den unterirdisch hausenden Ahnen bei ihrem Aufstieg in die heutige Welt entscheidend unter die Arme gegriffen, ihm gehört das Land, das er ihnen geschenkt und anvertraut hat. Er lehrte die Ahnen, das Feuer zu beherrschen und für sich nutzen und spendet ihren Feldern die nötige Wärme für die Fruchtbarkeit, er steht ihnen bei im Kampf gegen ihre Feinde und hilft tatkräftig mit, diese zu vernichten. Und weil er so wohlwollend mächtig ist und das Schicksal der Hopi seiner Gunst ausgeliefert, ist Massaw nicht nur Herr des Lichtes, sondern gleichermaßen Herrscher über die Totenwelt. Als ansehnlicher junger Mann mit wallend langen Haaren tritt er alle heiligen Zeiten in ihre Welt, gekleidet in ein prächtiges Gewand, mit herrlichem Türkisschmuck überall dort bestückt, wo derselbe was hermacht, vor dem Gesicht aber trägt er eine grauenerregende, blutverschmierte Maske, in seiner Faust schwingt er eine mächtige Keule, mit der er gerne auch mal droht. Im Grunde die ideale Besetzung für die biblische Gestalt des Simson, in deren Verkörperung er den Spaniern gehörig eins auswischen kann.

Massaw hat ganz offensichtlich keine Probleme, in die Glaubenswelt der Weißen einzudringen und kräftig darin mitzumischen, bei den Frömmlern und Missionaren derselben wirst du nirgendwo einen Pueblo-Indianer in einer biblischen Geschichte finden, Gott bewahre.

Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 13 Februar 2017, 09:26:02

Schlangentanz


Pueblo kommt aus dem Spanischen und bedeutet schlicht Dorf.

Die Puebloleute haben gute Gründe, ihre Tradition so gut es geht vor den Blicken neugieriger Fremdlinge zu verbergen, die bitteren Erfahrungen, die sie mit den Spaniern und ihrer Terrorherrschaft machen mussten, haben sie völlig zu Recht sehr misstrauisch werden lassen. Nicht nur dass die in der Wüste lebensuntüchtigen spanischen Soldaten von ihnen Lebensmittel, Vieh, Kleidung und Proviant aller Art erpressten und einforderten, sie drangsalierten und tyrannisierten die Hopi und andere Pueblobewohner außerdem mit Vergewaltigung, Totschlag, Mord und Folter frei nach Willkür und Belieben. Neben anderen Konquistadoren regierte ein gewisser Juan de Onate seine Kolonie mit entsetzlicher Grausamkeit und Härte, als in Acoma zwölf spanische Soldaten einem Angriff der Indianer zum Opfer fielen, ließ er das Pueblo bis auf die Grundmauern niederbrennen und seine achthundert Einwohner niedermetzeln, etwa fünfhundert Männer und dreihundert Frauen und Kinder, die Überlebenden verurteilte er zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit und ließ sicherheitshalber jedem Mann über Zwanzig ein Bein abhacken.

Unter anderem die gnadenlose Verfolgung ihrer Religion durch die katholische Kirche verursachte anno Sechzehnhundertachtzig einen großen Pueblo Aufstand, gut vorbereitet, organisiert und angeführt von einem Pueblo Priester namens Popé, was soviel wie „Reife Pflanzung“ bedeutet. Über die Hälfte aller spanischen Kolonisten fiel diesem Gegenschlag zum Opfer, und als die Spanier zwölf Jahre später nach dem Zerfall der Liga die Kolonien zurückerobern konnten, hatten sie kein brennendes Interesse mehr daran, sich in die religiösen Angelegenheiten der Pueblostämme einzumischen geschweige denn deren Rituale gewaltsam abzuschaffen, auch an der völligen Auslöschung der Pueblodörfer schien ihnen nicht mehr besonders viel zu liegen. Sie errichteten ihre Kirchen mit Vorliebe auf den Mesas der höher gelegenen Pueblos, pflanzten sie mitten hinein in die Dörfer und gaben sich damit zufrieden, wenn deren Bewohner in der Sonntagsmesse die hinteren Bankreihen füllten. Kontrolle hieß das neue Zauberwort, die Hopi arrangierten sich damit, nicht nur der Glaube der Invasoren ist allumfassend. Andrerseits lassen sie und sämtliche Pueblovölker sich nicht mehr in ihre Kivas gucken, ihre unterirdisch geheimnisvollen Ritualräume, in deren Mitte ein tiefes Loch das Heraufsteigen der Ahnengeister in die Menschenwelt symbolisiert oder vielmehr ermöglicht. Während die fremd gewordene Welt um sie her in Trümmern liegt und die drei majestätisch altehrwürdigen Mesas der Hopi auf den Plateaus der Berge vor langem verlassen und dem Verfall durch Wind und Wetter preisgegeben vor sich hin verwittern, finden die Pueblogemeinschaften der Täler Halt und Sicherheit in ihrer uralten Tradition und der Bewahrung ihrer religiösen Feste und Zeremonien.

Sehr zur Freude von Hano Chukuwaiupkia, gosh, howgh and uff.

„Der Eine, der alles enthält“ nennt sich der Weltenschöpfer bei den Pueblo-Indianern. Unsichtbar war er im Ursprung, von Finsternis umhüllt und von Leere verschlungen, ein waschechter Desperado könnte man sagen. Irgendwann war er derart umwölkt und benebelt, dass Bäche an ihm hinunter rauschten und aus ihm heraus flossen, er verflüssigte sich auf gewisse Weise und war durch und durch feucht. Da Awonawilona mit der Zeit ziemlich klamm wurde in seiner Nebelwolke und der Durchnässte empfindlich zu frösteln anfing, formte er mit bloßen Händen einen feurigen Ball, die liebe Sonne, die die Nebelwand mit ihren Strahlen durchdrang, zu Wolken ballte und zu Wassertropfen zusammenzog. Es rauschte ein gewaltiger Regen nieder, der sich in noch gewaltigeren Pfützen sammelte, die zu Ozeanen und Weltmeeren wurden.

Der Anblick des wogenden unendlichen Wasserspiegels ist zwar überwältigend, auf Dauer aber doch ein wenig langweilig, und so beschließt Awonawilona einen Samen in seinen Fluten zu versenken. Das Pflänzchen wächst ziemlich ungehemmt aus dem Meeresgrund und verbreitet sich rasend zu einer grünen Schicht, die alsbald die Meere völlig bedeckt, was „dem Einen“ dann doch etwas zu viel des Guten und Grünen ist, so dass er die Fläche in zwei Hälften teilt. Aus der einen Hälfte bildet er die Kontinente sprich Mutter Erde, aus der anderen das Firmament sprich Vater Himmel. Mutter Erde aber leidet unter verschleimtem Hals und Speichelfluss, spuckt erst mal kräftig ins Meer und rührt so lange und gründlich um, bis das Wasser zu schäumen beginnt und sich eine mächtige Schaumkrone bildet. Nach derlei ausgiebiger Schaumschlägerei ist Mutter Erde in ihrem Schaumbad offenbar sehr vergnügt und pustet mit voller und gereinigter Lunge in die Flockengebilde, bis diese abheben und sich in weiße und schwarze Wolken verwandeln, die über den Ozean dahinzuziehen beginnen. Vater Himmel gefallen die wandernden Gebirge, er haucht sie an, und sie beginnen ihre Tropfen auf die Erde herab zu regnen. Damit ist Väterchen Himmels Beitrag zur Schöpfung erfüllt und er zieht sich zufrieden in unerreichbare Höhen zurück.

Mutter Erde indessen ist eifrig dabei, Leben hervorzubringen und gebiert im Laufe der Zeit allerhand Wesen, zuerst riesige Schlangen, dann schreckliche Monster, und als sie einsehen muss, dass diese ihre Geschöpfe nicht unbedingt bereit sind, die Erde mit anderen Wesen zu teilen und sich recht tyrannisch aufführen, schenkt sie den heldenhaften Riesenzwillingen das Leben, die mit Blitz und Donner dreinfahren, tiefe Löcher und Gräben in die Erde reißen und der Schreckensherrschaft der Schlangen und Ungeheuer ein gründliches Ende bereiten. Anschließend wird den zwei Heroen ziemlich öde, sie haben nichts Gescheites mehr zu tun und hängen träge rum, bis sie den großartigen Einfall haben, aus Bäumen, Rebstöcken und Grashalmen eine lange Strickleiter zu knüpfen und in die tiefen Löcher hinunterzulassen, die sie mit ihren herab geschleuderten Blitzen ins Erdreich geschlagen hatten, um zu sehen, was da möglicher Weise in den Schlünden der unterirdischen Eingeweide so an Lebendigem rumwuselt und unter Umständen ans Tageslicht hochkommen will.

Und siehe da, eins nach dem andern kommen winzige braune Männchen und Weiblein nach oben gekraxelt, die von den staunenden Donnersöhnen als menschliche Wesen eingeordnet werden. Da die beiden Riesen bei ihren Entladungen kräftig umgepflügt haben, ist die Krume bereit für die erste Aussaat, was von den fleißigen Menschlein hurtig erledigt wird, die lange Kletterei hat die Zwerge ganz schön hungrig gemacht und ihre kleinen Mägen knurren gewaltig. Zufrieden gesättigt denken sie darüber nach, dass sie wohl ein Dach überm Kopf ganz gut gebrauchen könnten, schon wegen der stechenden Sonne, da sie ja aus der Dunkelheit emporgestiegen sind als etwas lichtempfindliche Schattenwesen. Sie bauen emsig Häuser aus Lehm, Steinen und Balken, um sich heimelig und unterirdisch genug zu fühlen, ohne Türen mit so wenig Fensterritzen wie möglich, und nur per Leiter über Dachluken zu erreichen. Weil sie sich ihrem Naturell entsprechend eifrig vermehren, türmen sie aus Platzgründen ein Haus auf das andere, bis regelrechte Burgen entstehen mit unzähligen Räumen, Kellergewölben und Dachterrassen, die Pueblodörfer sind geboren und ihre Bewohner als eigenes Volk gleich dazu.

Heute werden die Ureinwohner Anasazi genannt, infolge einer Zuwanderung fremder Stämme nennen sich die jetzigen Pueblobewohner Hopi, Keres und Zuni. Ein besonders prachtvolles Exemplar der Hopi heißt Tiyo, der schon als kleiner Junge über schier übermenschliche Kräfte verfügte und deswegen zum Einzelgänger wurde. Auf einem seiner Streifzüge durch die Wüste begegnet Tiyo der Erdgöttin, der neugierige Bursche bekniet die alte Weise so lange, bis sie ihm einen Ausflug in die Unterwelt gewährt und ihn in die Abgründe der Erde hinunterführt. Auf seinem Abstieg begegnet der furchtlose Held allerlei mythischen Wesen, aber keines davon kann ihn aufhalten, locker wird er mit den unheimlichen Gestalten fertig und gelangt schließlich zum geheimnisumwitterten Schlangenvolk. Bei denen ist der Abenteurer offenbar herzlich willkommen, kommt nicht alle Tage vor, dass sich einer aus der oberen Welt zu ihnen herunter verirrt, jedenfalls führen sie den Wissbegierigen offenherzig in die Geheimnisse des Regenzaubers ein, der Schlangenhäuptling gibt ihm zum Abschied sogar zwei jungfräuliche Bräute mit, aber, wo die Liebe hinfällt, eine der Beiden genügt ihm vollends zu seinem Glück, er nimmt sie sogleich zur Frau und schenkt ans Tageslicht heimgekehrt die andere seinem Zwillingsbruder Lenyatiyo, dem großen Flötenspieler und Ahnherren der Flötenbruderschaft.

Offenbar hat sich der wagemutige Tiyo nur recht oberflächlich mit den Gesetzen natürlicher Vererbung beschäftigt, auf alle Fälle gebiert ihm sein Schlangenweib Tshüamana ein wurlend wimmelndes Schlangennest, was auch sonst. Die Hopi sind zuerst nicht besonders begeistert von ihrem doch etwas aus der Art geschlagenen Zuwachs, aber die Schlangenmutter lehrt sie den rechten Umgang mit ihren schlängelnden Bälgern, ja mehr noch, wie sie, die Hopi es anstellen können, ihre Brut und alle Schlangen im allgemeinen freundlich zu stimmen und mit ihrer Hilfe den lebenspendenden Regen herabzurufen. Trotz alledem muss es wohl zu einem heftigen Ehekrach gekommen sein, jedenfalls packt die Schlangenfrau eines Tages ihr Schlangenbündel und zieht mit ihren geschlängelten Kindern von dannen in ein anderes Land. Die unersetzlich wertvolle Regenzeremonie aber lässt sie als versöhnliches Andenken zurück.

Die merkwürdigen Gestalten, die durch die Canyonwüste der gelbrot gestreiften Steine geistern, kommen mir merkwürdig vor, der ich mit Infini den kühlen Schatten eines Felsüberhangs aufgesucht habe und träge das berauschend schöne Hopiland unter mir betrachte.

Ihre nackten Oberkörper sind mit braunroten Längsstreifen bemalt, was ausgesprochen gut ins Landschaftsbild passt, außer einem weißen Schurz, mit grünen und roten Mustern bestickt, tragen sie nichts am Leibe, mit einer Hacke graben und stochern sie im Boden herum, besonders unter Steinen und Sträuchern, dann zeichnen sie mit einem Holzschaft Spuren in den Sand und ziehen gleichzeitig einen Ledersack mit der Öffnung in Richtung des befiederten Stockes durchs Gestein. Ganz offensichtlich handelt es sich bei der wundersamen Truppe um Schlangenfänger.

Bald treibt mich die Neugier aus meinem Siesta Quartier, langsam reite ich auf die Hopi zu, sie kennen meine Erscheinung und lassen sich nicht von ihrer eifrigen Suche ablenken. Beim Näherkommen kann ich die Bewegungen sich windender Schlangen in ihren Ledersäcken erkennen und lass es mir nach freundlicher Begrüßung natürlich nicht nehmen, höflich aber bestimmt um einen Blick auf das Gezücht zu bitten. Kornnatter, Schlanknatter, Wüstenkönigsnatter und die wunderschön gezeichnete Strumpfbandnatter bilden ein wildes Knäuel im ersten Sack, was mir sofort auffällt ist die fehlende Klapperschlange. Tagelang hätten sie gefastet und sich bestmöglich vorbereitet, erzählt mir einer der Bemalten, um die Schlangen für das große Fest des heiligen Schlangentanzes einzusammeln, heute sei schon der zweite Tag ihrer mühseligen Suche, aber die Klapperschlange scheint in diesem Jahr keine rechte Freude daran zu haben, mit ihnen zu tanzen und sei wie vom Erdboden verschluckt. Obwohl ich die Sprache der Hopi gut verstehe, macht es mir immer noch große Mühe, mit ihrer seltsamen Sprechweise zurecht zu kommen, aber mit der nötigen Zeichensprache mache ich der Gruppe verständlich, dass das überhaupt kein Problem sei, gerade an den Richtigen seien sie geraten, sie sollen mir einfach nur folgen. Die erfolglosen Männer willigen erfreut und sichtlich erleichtert ein.

Spätnachmittags haben wir den Gebirgsstock im Gebiet der Riesenkakteen erreicht, in dessen Höhlen sich die Schlafplätze der Diamantklapperschlange befinden, in deren Schutz sie sich in den Wintermonaten in Scharen flüchten, nicht selten an die zweihundert Exemplare. Aber auch in der brüllenden Hitze des Tages und in den frischen Sommernächten bevorzugen sie diesen Ort ob seiner kaum vorhandenen Temperaturschwankungen. Ich schnapp’ mir also drei leere Säcke und zwänge mich durch den engen Zugangsschacht, bald kehre ich mit den prallgefüllten Beuteln zurück, es machte keine große Mühe, die trägen und fast bewegungslosen Vipern aufzulesen, die sich im kühlen Grund ineinander verknotet und zusammengeschlängelt haben. Jubel und Freude sind groß, ich werde kurzerhand eingeladen, an ihrer Zeremonie teilzunehmen, ein außergewöhnlicher Ehrbezeig für ein Bleichgesicht, ihre Einladung abzulehnen käme einer tödlichen Beleidigung gleich, also ziehe ich ergeben mit ihnen los in Richtung Pueblo.

Dort angekommen ist ihr misstrauischer Schlangenhäuptling zuerst verwundert, weshalb die ausgeschickten Fänger den Geistermann angeschleppt haben, der seine Nakvakvosis auf dem Hut mit sich herumträgt und aussieht, als wäre er zwischen Manos und Metates geraten, ist aber schnell von meiner Eignung und Erwählung überzeugt, als er einen Blick auf das fette Bündel der etwa zwei Meter langen Schlangenkörper wirft. Diese werden behutsam in Körbe gesteckt. Aus dem Abzugsschlot eines Picuri steigt eine weiße Rauchfahne, der Häuptling verschwindet gemeinsam mit einer Gruppe von Priestern mit je einem Korb in Händen über eine Leiter in der Dachluke des Hauses, in dessen Keller sich offenbar der Sakralraum der Kiva befindet. Bald dringen eintönige Gesänge und jammerndes Flötenspiel nach oben, die Zeremonie beginnt mit den monotonen Liedern der Schlangenbesinger und den seltsamen Melodien der Flötenspieler, deren Klänge die Schlangenhäupter ganz offenkundig beruhigen und in die rechte Stimmung bringen sollen.

Sehr zu meiner Überraschung wird mir sogar ein Blick ins verborgene Heiligtum gestattet. Was ich da auf der Leiter stehend zu sehen bekomme, ist ein rechteckiger, sehr geräumiger, angenehm kühler und erstaunlich gut durchlüfteter Raum, zwei dicke Balken tragen eine rustikale Holzdecke, von einer kleinen Mauer umrahmt flackert ein kleines Feuer einem Rauchabzug entgegen, Lehmbänke schmiegen sich an die Wände, die sparsam mit Wolkengebilden, gezackten Blitzen und Regensymbolen bemalt sind, in der Mitte gähnt ein kleines Loch im Boden. Ein hölzerner Altar ist im schmalen Winkel des Rechtecks auszumachen, auf dem ordentlich aneinandergereiht allerlei sakrale und nicht genau zu unterscheidende Gegenstände liegen, ich glaube Antilopengeweihe zu erkennen. Ein Schamanenpriester steht davor, nur mit einem farbigen Bänder-behangenen Lendenschurz bekleidet, den nackten Oberkörper und die Arme mit weißen Strichen bemalt, Armreifen um den Bizeps, Muschelketten und Perlenschnüre um den Hals, ein Mondsichel-förmiges Amulett über dem Brustbein, einen gefärbten wilden Federschopf auf dem Scheitel, weiße Striche auf den Wangen, eine ehrfurchtgebietende Gestalt und geisterhafte Erscheinung. Aus dem Innern eines Beutels lässt er feinen Sand rieseln und zeichnet geheimnisvolle Zeichen und Bilder auf den Boden, dazu fächelt er mit zwei großen Adlerfedern in der andern Hand. Eine Gruppe von Flötenspielern sitzt in großem Bogen um die kreisförmig inmitten des Raumes aufgestellten Schlangenkörbe, die von ein paar ähnlich dem Priester gekleideten und gezierten Tänzern umtanzt und umsprungen werden.

Was hier genau geschieht, weiß ich nicht zu sagen, der Raum ist voller Magie und Mystik, die Tänzer halten Federn in Händen und lassen diese über den geöffneten Körben kreisen, aus denen sich mehrere Schlangenhälse nach oben winden und den Bewegungen der Feder folgen, ob das nun eine Art Beschwörung ist oder schlichte Dressur, ich habe das Gefühl, hier am falschen Ort zu sein und zu stören, so klettere ich wieder nach oben ans Tageslicht. Draußen wird mir von einem der Schlangenfänger erläutert, dass dieser Tanz sowohl mit der großen Antilope zusammenhängt als mit der Flötenbitte um Regen, zugleich Vorbereitung auf den letzten Tag und Höhepunkt der Zeremonie, den geheimnisumwitterten großen Schlangentanz auf der Plaza des Pueblo. Auf den Plateaus der Dächer sammeln sich allmählich die Leute des Dorfes, Männer, Frauen und Kinder, die leuchtenden Augen voll gespannter Erwartung, und auch ich als geladener Zaungast bin redlich aufgeregt. Wie lange kenne ich die Hopi jetzt schon, dreißig Jahre oder mehr, aber nie durfte ich diesem geheim gehaltenen geheimnisvollen Tanz beiwohnen, den ich nur vom Hörensagen kenne, eine Schlangengrube öffnete mir die verborgene Pforte.

„Es ist schwer, dir zu folgen, lieber Freund“, meint Chaíwa, die Frau neben mir, in ein prächtiges blaues Manta gekleidet, die sie mir zur Seite gestellt haben, weil sie des Englischen mächtig ist und der ich die Hucke voll labere, „deine Sätze sind so ermüdend lang und verschlungen, dass man am Ende oft nicht mehr weiß, worum es am Anfang ging“.

„Tochter der Hüterin des Tiponi", sag ich zu ihr, "grade du müsstest das doch wissen, wie unendlich lange so eine Klapperschlange braucht, um aus ihrem Winterquartier zu kriechen, steif wie ein Stock, wenn da endlich die Rassel zum Vorschein kommt, weiß die längst nicht mehr, dass da aus dem selben Schlupfloch der Kopf rausgekommen ist lange vor ihr, wenn's denn einen solchen gibt, nun, eine Eidechse kann ihren Schwanz abwerfen, ohne Schaden zu nehmen, die Schlange aber würd's umbringen, weil ihr Schwanz gleich hinterm Hals beginnt sozusagen, und so ein lebloses Schlangenhaupt, das buchstäblich aus dem Zusammenhang gerissen ist und nichts nach sich zieht, weil der Rest im Dunkeln der Höhle verborgen bleibt, gibt ja nun bestenfalls einen Happen ab für den Rennkuckuck. Die Häuptlinge der Weißen machen es so, da gibt’s immer nur tote und sterbende Schlangenköpfe mit Giftzähnen, die stecken sie dann aneinander und behaupten, dass die zweite Schlange die erste verschlungen habe und so weiter, will meinen ihre erste Idee von einer nachfolgenden vernascht wurde bis zur letzten, die dann leider dran erstickt ist, kurzum, dass sich bedauerlicherweise keiner ihrer Vorschläge hat verwirklichen lassen, so griffig ein jeder davon auch gewesen sein mag. Was nun mein Ding nicht ist, bei mir ist das 'ne ganze Schlange und eine lebendige dazu, die sich nicht erst verwirklichen lassen muss, ganz einfach weil sie wirklich ist, da sieht sich der hungrige Rennkuckuck dann schon vor die Entscheidung gestellt, ob er sich auf einen gefährlichen Kampf einlassen will, um mit der fertig werden zu können, ein atemberaubend offenes Duell wie du sicher weißt, mit servierten Häppchen ist da jedenfalls nichts.“

Inzwischen sind die Schlangen in ihren Gefäßen auf der Plaza in einem Verschlag aus Strohwänden untergebracht, einem seltsamen Gebilde mit belaubten Pappelzweigen als Dach, dem sogenannten Kisi. Dieses wird von einer Gruppe von Antilopentänzern umstanden, die weiße Schlangenlinien auf den Rücken gemalt tragen und eben ihren grazilen Antilopentanz getanzt haben bis an die Tuch-verhangene Öffnung der Schlangenhütte. Und dann kommen sie endlich aus dem Kiva geklettert und hintereinander in Schlangenlinien angetanzt, die unheimlich wirkenden beeindruckenden Schlangentänzer mit den Federbüscheln auf dem Kopf, Ketten-behangen, bemalt und in befransten Mokassins. Viermal umrunden sie den Verschlag im Gleichschritt, wobei sich ihre Körper mit geschmeidiger Anmut faszinierend Schlangen-ähnlich winden und die Tänzer zudem beschwörende Gesänge singen, bis hierhin ist alles unwirklich genug, was aber nun folgt, verschlägt mir regelrecht den Atem.

Die Schlangentänzer haben sich zur Rechten in einer Reihe gegenüber den Antilopentänzern vor dem Verschlag aufgestellt, wo sie ein Spalier bildend mit diesen gemeinsam ein Lied singen, ihre Körper dabei wiegen und mit den Armen gemeinsame Bewegungen ausführen in vollkommenem Einklang. Majestätisch tritt der Schlangenpriester und Wächter der Schlangen aus dem Kisi, mit weit ausgebreiteten Armen, in Händen eine große Klapperschlange, mit der Rechten hat er sie hinterm Kopf gepackt, aber keineswegs klammernd, mit der linken hält er ihren muskulösen Leib, das gut zu erkennende Rassel-Ende windet sich schlängelnd. Einem Tänzer nach dem andern übergibt er eine Schlange, aber nicht wie man glauben möchte in die Hände, sondern er steckt das Reptil behutsam ein gutes Stück hinterm Kopfansatz in dessen geöffneten Mund, wo die Diamantklapperschlange sich nach unten baumelnd und offenbar entspannt zu winden beginnt.

Mit den Schlangen im Mund beginnen die Tänzer den eigentlichen Tanz, erst mit einer gewissen Zurückhaltung und verständlichem Respekt, aber es scheint, als würden sie durch die Berührung ihrer Lippen an der trockenen warmen Schlangenhaut etwas von deren Wesen in sich aufnehmen. Ihre Bewegungen werden runder, geschmeidiger  und gelenkiger, fast möchte man meinen, sie haben keine Knochen mehr in Armen, Beinen und Hüften, es ist, als würden sich ihre Gliedmaßen ohne ihr Zutun bewegen und sie sich ohne deren Einsatz im Kreis herum wie eine Schlange, die auf dem Boden kriecht und sich vorwärts schlängelt. Ich kann dieses unglaubliche Schauspiel nicht anders beschreiben, die Tänzer werden zu Schlangen, dieselben hängen geradezu gelassen aus ihren Mündern herab, die sich windenden Menschenkörper wie eine Liane zierend, oft bis hinunter an den Boden reichend. Manchmal ringelt sich eins der Tiere zusammen und nach oben, ein andermal züngelt sein Kopf Richtung Ohr des Tänzers, aber dieselben sind vollkommen furchtlos und wie entrückt, sie wissen, dass ihnen keine der außergewöhnlichen Tanzpartnerinnen Leid und Schaden zufügen wird, und so ist es auch. Die hochgiftigen Wüstenvipern scheinen eine Beißhemmung zu haben oder keine Lust, ihr Gift zu verspritzen, fast möchte man glauben, sie würden sich im Rhythmus ihrer Tänzer mitbewegen, vielleicht tun sie es auch, mir sind die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum längst verschwommen.

Ich weiß nicht mehr, wie lange das überirdische Spektakel gedauert hat, irgendwann betritt der Priester den inneren Kreis der Tänzer, die sich längst in Trance befinden, und verteilt die mitgebrachten Nattern auf dem Boden, ein Tänzer nach dem andern nähert sich dem schlängelnden Häufchen, beugt sich immer noch tanzend so tief wie möglich nach vorn und lässt seine Tänzerin sanft zu Boden gleiten, die sich keineswegs eilig in den Schutz der Gemeinschaft der verwandten Nattern begibt, bis alle Klapperschlangen den Mund der Tänzer verlassen und ihre Erdung wiedergefunden haben. Die Tänzer ziehen sich erschöpft und schweißgebadet zurück, der Priester sammelt die Schlangenbrut in aller Seelenruhe ein, bündelweise hält er ihre Lianen in Händen, trägt die immer noch sehr ruhigen Vipern samt Nattern zu ihren Körben zurück und verstaut sie darin, um ihnen mit ein paar eifrigen Helfern meist kindlicher Statur die verdiente Freiheit zurückzugeben.

Es wird noch lange gesungen, getanzt und ausgelassen gefeiert, die Zeremonie als solche jedoch hat ihren Höhepunkt und ihr Ende erreicht, mich zieht es erschöpft und von den Eindrücken wie betäubt der heimatlichen Blockhütte zu. Auf Infinis Rücken schwebe ich durch die hereinbrechende Nacht und werde zur Klapperschlange, schlängle mich über den steinigen Wüstenboden mit magischer Geschmeidigkeit, bewege mich fort mit reiner Muskelkraft ohne einen Finger zu rühren dabei, von einer übernatürlichen Macht geführt winde ich mich lautlos wie aus mir selbst heraus dahin und komme mühelos gleitend voran. Ich schmecke den leisesten Windstoß an meiner Zungenspitze, rieche die Wüstenmäuse im Nachthauch und ihren süßlichen Kot, ihr Rascheln knistert durch die verfeinerten Nerven meiner Schuppenhaut wie das nächtliche Blätterrauschen der Pyramidenpappeln, ich spüre die tödliche Gewalt meines Giftes in den spitzen Schneidezähnen.

Wird es mir jemals gelingen, meine Erdung wiederzufinden?

Doch wozu hab ich schließlich meinen unirdischen Freund Fanda? Der behauptet nämlich steif und fest, dass Schlangen nicht hören können. Weil sie keine Ohren haben, nehmen sie Geräusche mit anderen Sinnen auf, ähnlich wie das Frösteln der Haut bei einem kalten Windstoß, das Plätschern der Wellen am Ufer der Seen oder ein leichtes Beben der Erde in Kalifornien.  Ich weiß nur, dass die Schlangenexperten diesbezüglich auch nichts wissen, vielleicht kommen sie irgendwann hinter das Geheimnis der tauben Hörenden, zum Schluss hat mein kleiner Naturforscher sogar recht mit seinen Fantastereien. Ansonsten ist der grüne Knirps völlig außer sich, seit er den Schlangentanz durchs Hutloch beobachten konnte. Wie nicht anders zu erwarten, hält er sich für einen großen Snake Charmer. Fast pausenlos windet und schlängelt er sich herum, wobei er Arme und Beine so eng wie möglich an das kugelrunde Bäuchlein presst und eifrig mit seinem Schwänzchen wedelt, um sich das Aussehen einer tanzenden Klapperschlange zu geben. Seine verblüffende Ähnlichkeit mit einer Kaulquappe hab ich ihm aus liebevoller Rücksichtnahme bisher verschwiegen.

Als die Schlange jedenfalls in meinem Kopf saß, hörte ich fein wie nie, freilich war es ein knisterndes und prickelndes Wahrnehmen, eher ein Erspüren als ein Lauschen, so gesehen kann ich als Ohrenträger nicht allzu viel dazu sagen, wer weiß schon, was in so einem kleinen Schlangenkopf vorgeht und ob die Klapperschlange nicht hörbar machen kann, was sie nur fühlt? Das klappernde Rasseln der Hornringe an ihrer Schwanzspitze ist jedenfalls für jeden Angreifer recht deutlich zu vernehmen, warum sollte sie mit einem warnenden Geräusch drohen und sich bemerkbar machen, das sie selbst nicht hören kann? Und warum, so frage ich, hört Schwester Klapperschlange unter meinem Sattelkopfkissen so lange nicht mit Rasseln auf, bis ich ihr die gewünschte Gute Nacht-Geschichte erzähle? Oder ein Gedicht aufsage.

Ich wand mich tastend aus der Tiefe
von Gruften meiner Winterhöhle
und reckte schwankend mich zum Licht,
erwacht aus kaltem Todesschlaf.

Und wusste nicht, ob ich noch schliefe,
ob noch am Leben meine Seele
oder mir träumte, wusst es nicht,
ob Wolf ich bin ob bin ich Schaf.

Wenn spitz der Zahn und voller Gift
mein Biss in deine Ferse trifft,
da du mir willst den Kopf zertreten,
werd züngeln ich: du sollst nicht töten.

Ich und die Rattle Snake, wir haben einiges gemeinsam.

Die arme Schlange genießt den schlechtesten Ruf unter den Gottesfürchtigen, den man sich denken kann: Den der biblischen Versucherin, die da auf dem Bauch durch den Staub zu kriechen verflucht ist seit dem Sündenfall, den die Menschen der List und Tücke ihrer Schläue verdanken. In Wahrheit sind sie es doch gewesen, die da noch schlauer sein wollten als die kluge Schlange, nämlich allwissend wie Gott, sie sind es doch, die immer schlauer sein wollen als der Desperado, der sich weder für besonders schlau hält noch allzu viel wissen will, weil ihm das, was er weiß, mehr als genügt, um in der zivilisierten Welt der Weißen überleben zu können. Sie sind es, die ihn dazu zwingen, sich züngelnd durch ihre Niederungen zu schlängeln, bei ihnen hat er gelernt, sich wenn nötig zu verkriechen und gegebenenfalls warnend zu rasseln, sie haben ihn gelehrt, sich regelmäßig aus seiner alten Haut zu schälen, damit sie ihn nicht zu fassen bekommen, und zuzubeißen, wenn er sich seines Lebens erwehren muss, all das haben sie ihm beigebracht, um ihm die Schuld geben zu können.
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Felidae am 17 Februar 2017, 10:54:01
Hallo sintram, darf ich dir hier darauf etwas antworten?

Also erstmal vielen Dank für diese Geschichte! Ich mag schlangen, es sind geschöpfe gottes und ich schaue sie mir in jedem zoo oder tierhandlung gerne an. Die schlange, also das tier an sich, kann nichts dafür, dass sie für eine lüge benutzt wurde.

So gegen Schluss zitierst du einen ganz berühmten text aus der Bibel, aus 1.mose 3:15 - satan, der teufel soll Jesus die ferse zermalmen und jesus soll satan den kopf zermalmen. In dem gedicht behauptet satan also sozusagen - momeeent, du gott hast selber das gebot gegeben du sollst nicht töten und jetzt willst du mich töten?? Lügner, du hältst ja nicht mal deine eigenen gesetze!"

Wenn man jetzt aber mal etwas genauer recherchiert, wie der urtext übersetzt wurde, sieht man, dass das wort in der übersetzung morden heißen muss, denn wenn man dazu auch noch 2. Mose 21:12-14 vergleicht, versucht satan mit seiner aussage nur von seiner eigenen schuld abzulenken, indem er gott schlechtmacht.

-nur meine eigene freie interpretation des gedichts-
Lg feli
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 18 Februar 2017, 09:45:14
Hallo Felidae,

klar darfst Du mir hier antworten. (Die Kapitel sind eher als Leseprobe gedacht, wollte ich das gesamte Buch einstellen, würde sich das über Jahre hinziehen. Im Suchprogramm ist es leicht zu finden zum gratis runterladen, "Desperado" und "Federhut" genügen völlig. Auch als Vierteiler, Wüstensohn/Wanderer/Krieger/Ältester, weil's ja doch einen ordentlichen Umfang erreicht hat inzwischen.)

Eine interessante Interpretation des kleinen Gedichtes, dieser biblische Bezug. Ich hab nur an eine arme Schlange gedacht dabei, die noch halbstarr vom Winterschlaf ein leichtes Opfer des - weißen - Menschen werden kann, der sie unterschiedslos zu zertreten pflegt, ob Viper, Otter oder Natter. Weil er sie hasst, und da kommt eben auch der biblische Hintergrund zum Tragen, im Gegensatz zu den Hopi, für die sie quasi heilig ist. Dass sie zu Gott sprechen könnte, kam mir dabei gar nicht in den Sinn.

Sicher ist derdiedas Böse Meister im Finden von Ausreden und Schuldzuweisungen, um von der eigenen abzulenken. Der Desperado hat zwar immer wieder Grund, seinen Kopf aus der Schlinge ziehen zu müssen, wobei er um keine Ausrede verlegen ist. Zu seiner Schuld indessen pflegt er zu stehen. Meistens jedenfalls. Und er mag Schlangen, weil er alle Tier mag... Stechmücken vielleicht nicht so besonders, aber die gibt es zum Glück nicht in der Wüste... :-)) Die geächtete Schlange ist eine Seelenverwandte, weil er auch zu den Geächteten gehört.

Ich mag freie Interpretationen, weil sei eine Bereicherung darstellen.

Liebe Grüße
Sintram
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Felidae am 04 März 2017, 09:26:49
Hallo Sintram,

vielen Dank für Deine Antwort! Von dieser Seite hatte ich es bisher auch noch nicht gesehen :)

Apropo arme Schlange, Viper, Natter, Kobra und co - in der Bibel, in Jesaja Kap. 11, Verse 6 bis 8 beschreibt Gott anschaulich, wie er es bald mal auf der Erde haben möchte, nämlich nicht nur Frieden zwischen Mensch und Mensch, sondern auch Frieden zwischen Mensch und Tier und Tier und Tier:

„Der Wolf wird tatsächlich eine Zeit lang bei dem männlichen Lamm weilen, und der Leopard wird bei dem Böckchen lagern, und das Kalb und der mähnige junge Löwe und das wohlgenährte Tier, alle beieinander; und ein noch kleiner Knabe wird sie führen. Und die Kuh und der Bär, sie werden weiden; zusammen werden ihre Jungen lagern. Und selbst der Löwe wird Stroh fressen so wie der Stier. Und der Säugling wird gewiss auf dem Loch der Kobra spielen; und auf die Lichtöffnung einer giftigen Schlange wird ein entwöhntes Kind tatsächlich seine Hand legen“ (Jesaja 11:6-8).

Liebe Grüße
feli
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 05 März 2017, 10:53:28
Hallo Feli,

Und ruht das zarte Lamm beim großen Löwen irgendwann, mich selig schlummernd findet in der Schlangengrube dann.

Ist auch aus dem Federhut.

Liebe Grüße :-)
Sintram
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Felidae am 05 März 2017, 16:29:06
Ich werde es lesen, Sintram. :)

LG feli
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Felidae am 14 März 2017, 14:19:08
Hallo Sintram,

eigentlich ist es doch im Grunde unerheblich, ob Gott Dir durch das Auge einer toten Hirschkuh ins Herz gesehen hat oder durch ein totes Nilpferd, die Hauptsache ist doch, dass er es überhaupt gemacht hat. Und wenn wir uns jetzt einfach mal von dem Zielgedanken einer Ehe wieder etwas entfernen und uns nicht blindlings in die Liebe "flüchten", dann hätten wir unseren Kopf und unser Herz frei für die Gedanken Gottes, die er uns mitteilen möchte.

Liebe Grüße :-)
Feli
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 23 März 2017, 09:19:35
Hallo Feli,

und ich dachte immer, Gott IST die Liebe. ;-)

Klar man sich in Beziehungen flüchten, um anstehenden Entscheidungen auszuweichen. Beobachtet man besonders bei Langzeitklinikaufenthalten nicht selten, ist in der Regel "kontraproduktiv" und wird von den Therapeuten nicht so gerne gesehen. Kann gut gehen, folgenlos bleiben oder die Dinge verschlimmern, je nachdem. Ob so eine "Fluchtliebschaft" einen von seiner Suche nach Gott abbringen kann, ist wohl eher für Zölibatäre gewichtig, und dafür zeichnet die Kirche verantwortlich und nicht das NT. Es sei denn, sie wollen einer Ordensgemeinschaft beitreten, diese Art der Daseinsbewältigung lässt Jesus als Option offen. So ganz verstehe ich Deine Zeilen nicht im Zusammenhang mit dem Federhut, im Allgemeinen aber ist es "nicht gut, dass der Mensch allein sei".

Was er freilich auch ohne Mitmenschen nicht ist...


Basilisk

„Ach Kinder, ich sag euch was, diese Menschen. Ein ewiges Rätsel.“

Wie jeden Abend füttere ich eine kleine Gruppe frecher Erdhörnchen mit trockenen Maisbrotresten. Geduldige Zuhörer für ein paar Krümelchen.

„Ihr kennt sicher nicht die Sache mit dem Sündenbock. Eine weit verbreitete Krankheit in ihren Reihen. Kommt ein Desperado in behäbigem Schritt ins Dorf geritten und wird um ein Haar von einer Lady über den Haufen gefahren, die in gestrecktem Galopp in ihrem Einspänner aus der Stadt jagt - warum auch immer - dann weiß er schon, dass er, nur er und er ganz allein schuld an ihrer Flucht ist, bevor er sich noch den Staub aus dem Mantel klopfen kann. Für so einen Sündenbock braucht man eben einen breiten Rücken, um ihm alles aufladen zu können, und ein alter Desperado ist sozusagen hochbegabt und vortrefflich geeignet für diese undankbare Rolle. Damit kann er gut leben, man gewöhnt sich dran, schneller als man denkt. Das Dumme daran ist nur, dass die ‚Schuldzuweisenden’ tatsächlich, wahrhaftig und eisern von seiner Schuld überzeugt sind, völlig egal, wie lange die Haare sind, an denen sie ihre ‚Anklagepunkte’ herbeiziehen müssen und wie löchrig und lächerlich die Konstruktionen ihrer Bezichtigungen auch sein mögen. Sie glauben wirklich daran, dahinter steckt nicht einmal Bosheit oder Missgunst, das ist... keine Ahnung. Da kommt schon einiges zusammen mit dem Sündenbock, und dagegen ist kein Kraut und kein Kaktus gewachsen.

Ach Kinder, ich sag euch was, nehmt euch in Acht vor den Menschen. Geht ihnen aus dem Weg wo und wie es nur geht. Traut ihnen nicht und glaubt ihnen kein Wort, hört ihr, kein einziges Wort. So, hab nichts mehr. Ab in eure Höhlen, Zeit zum Schlafengehen.“   

Der Bison hat seine Hörner und das weite Land seine Hörnchen. Sage und schreibe fünfzehn verschiedene Arten wimmeln im Gebüsch, klettern, springen und hüpfen durch die Uferwälder, sammeln, horten und bunkern an den bewaldeten Nordhängen der Berge, schlafen, säugen und wohnen in Erdhöhlen und flüchten bei drohender Gefahr in das Labyrinth unterirdischer Burgen.

König der Kobolde ist der Chipmunk, es gibt kaum einen Landstrich, den dieses längsgestreifte Backenhörnchen nicht bevölkert. Im Südwesten ist er gleich in drei Ausführungen vertreten, als Colorado-Chipmunk, Gebirgs-Chipmunk und last not least Kleiner Chipmunk, die sich auf kongeniale Weise ergänzen, wenn es darum geht, deine Satteltasche zu plündern und deine Vorräte im Gelände zu verteilen. Während der Wichtel durch die winzigste Lücke und Öffnung passt und schlüpft, verfügen Bergfex und Flussanrainer über das nötige Mundwerkzeug zwischen ihren Kiefern, jeden noch so gut verpackten Inhalt ins Freie und ans Licht der Welt zu befördern, gewissenhaft auseinander zu sortieren und je nach Bedarf auf Nimmerwiedersehen zu verschleppen, wobei ihrer ausgeprägten Sammelleidenschaft neben Essbarem alles brauchbar erscheint, was sie zwischen ihre zierlichen Fingerchen und ihre Nagezähne bekommen, von der Gewehrkugel bis zum Tabakbeutelchen, um zum Zwecke eingehender Untersuchung spurlos zu verschwinden.

Wer da nun glaubt, seinen Frieden zu haben und in Ruhe gelassen zu werden, wenn er sich in den Schatten einer alten Eiche bettet und seinen Proviant sicher und unzugänglich verpackt, wird sich alsbald unter zornigem Gegicker und Gezeter einem massiven Eichelbeschuss ausgesetzt finden. Jeder, der diese Schilderungen für schamlose Übertreibung und erheiternde Überspitzung hält, soll sich mal gemütlich für ein kleines Picknick unter einem beliebigen Baum niederlassen, er wird seine aufgetischten Köstlichkeiten alsbald von allen Seiten umzingelt finden, sich selbst im Belagerungszustand gefangen und beides gegen den unfassbar flinken Zugriff einer bedrängenden Rasselbande verteidigen müssen. Ich habe mir schon vor langem angewöhnt, die quirligen Wichte vor dem Einschlafen zu füttern - an manchen Lagerplätzen sind die frechen Schnorrer mehr oder weniger handzahm geworden - und einen Kreis aus Körnern und sonstigen Knabbereien um mein Quartier herum zu legen, um auf diese tierliebe Weise einigermaßen verschont zu sein von ihrer liebenswerten  Zudringlichkeit.

Sollten die Chipmunks aus irgend Gründen anderweitig unabkömmlich sein, erledigen die ebenso weit verbreiteten Grauhörnchen ihre Aufgabe mit deckungsgleich großer Gewissenhaftigkeit, Arizona-Grauhörnchen in diesem regionalen Falle, können durchaus auch mal Pinselohrhörnchen sein, Fuchshörnchen, San-Bernardino-Streifenhörnchen, die bis nach Kanada ausgedehnten Rothörnchen oder rosa gepunktete Lilahörnchen, möchte ich Fandas außerordentlich aufmerksamer Beobachtungsgabe Glauben schenken. Und sollten tatsächlich alle Stricke reißen und weit und breit kein Hörnchen verfügbar sein, springen jederzeit gern Goldmantelziesel, Geflecktes Ziesel, Rundschwanzziesel und/oder Felsenziesel ein, es huscht, hüpft und raschelt immerzu um deinen Ruheplatz, irgendwo wird stets hingebungsvoll geknabbert oder emsig fortgeschafft, fürwahr, die Wüste lebt.

Die Hörnchen der Wüstenregionen sind etwas kleiner geraten und kurzlebiger als ihre Verwandten in den tiefen Wäldern des Nordens, da sie sich ob mangelnder jahreszeitlicher Temperaturschwankungen kaum die erholsame Ruhe eines Winterschlafs gönnen, dafür aber umso gewitzter und verwegener, wenn es um die tägliche Nahrungsbeschaffung geht, da Essbares in weitaus geringerem Maße vorhanden und zu finden ist als im Schlaraffenland ihrer scheuen nördlichen Artgenossen. Infolgedessen ist ihr Vorkommen auch gebündelter und ihr Zusammenleben dringlicher durchorganisiert als das der meist einzelgängerisch zurückgezogen lebenden Nordlichter. Mach es dir zum Beispiel unter ein paar alleinstehenden Douglasfichten oder Tannen bequem und es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein Zapfenregen auf dich hernieder geprasselt kommt, der Artilleriebeschuss rührt vom gleichnamigen landesweit umtriebigen Douglashörnchen her und ist zugleich Ausdruck von Warnung und offen bekundeter Bettelei. Bei eingehender Betrachtung handelt es sich um nicht recht viel anderes als um einen räuberischen Überfall mit der unmissverständlichen Aufforderung, gefälligst etwas Essbares herüberwachsen zu lassen, schließlich wirst du weit und breit keinen anderen Herbergsvater finden, der dir ein kostenloses Schlafquartier anzubieten hat.

Es ist mir längst zur Gewohnheit geworden, in friedlicher Eintracht und trauter Geselligkeit mit den Hörnchenartigen zu speisen, ihre anmutig grazilen Essmanieren zu bewundern und mich an ihrer regen Fingerfertigkeit zu ergötzen, denn alles, was sie in die winzigen Pfoten bekommen, wird zuerst einmal in behänden Händchen um und umgedreht, ehe die drolligen Wichtel hingebungsvoll und selbstvergessen daran zu knuspern, knabbern, nagen und schlecken beginnen. Es macht schlicht und ergreifend unbezahlbar köstlichen Spaß, sein schlichtes Mal mit Hörnchen zu teilen. Gibt es mal keinen Schatten bergender Bäume, bietet das neugierige und zierliche Antilopen-Erdhörnchen eine gleichermaßen unterhaltsame Gesellschaft, ebenso der vorwitzig selbstbewusste Felsengebirgspräriehund oder in tieferen Lagen sein nächster Verwandter, der überaus lebhafte Mexikanische Präriehund, darf es hingegen mal etwas gemütlicher und bedächtiger zugehen, gewährleistet das Gelbbäuchige Murmeltier einen vortrefflichen Tischnachbarn. Sein rundlicher Vetter in den lichtdurchfluteten Wäldern, das Waldmurmeltier, verbreitet eine ähnlich entspannte Atmosphäre und ist bestens zum Schlafmittel geeignet, ein behäbiges Sandmännchen der ganz besonderen Art sozusagen.

Wer da jedenfalls geglaubt hat, in der Wildnis sei der Mensch mit sich allein, findet sich rasch eines Besseren belehrt. Liegt er ausgestreckt zwischen ein paar Baumriesen und betrachtet versonnen durch die Zweige das tiefe Blau des Himmelsgewölbes, ist er keineswegs einer Sinnestäuschung erlegen, wenn da ein Hörnchen durch sein Blickfeld geflogen kommt. Ob es sich dabei nun um das Nördliche oder Südliche Gleithörnchen handelt, lässt sich in der Artengrenzregion des Südwestens nicht mit verbindlicher Gewissheit bestimmen, auf alle Fälle nicht im schwebenden vorüber Gleiten. Kommt ein Hörnchen geflogen, setzt sich nieder in Reichweite etwaiger Leckerbissen und erklärt seinen Wunsch auf unüberhörbar putzig fordernde Weise, ist die Welt schön und die Wüste ein Ort wahrer stiller Freude. Da gibt es keine habgierig plündernde, mordende, raubende, quälende, betrügende und willkürlich zerstörende weißhäutige Rasse mehr nirgendwo, die all dem unbegreiflichen Wunder des Lebens überall den Garaus macht, wo immer sie die Bühne betritt. Sie kann dir gestohlen bleiben bis zum letzten Vertreter ihrer hirnrissigen Gattung.

Wer nun der vorurteilsbehafteten Vermutung erliegen mag, das Hörnchen hätte in der Rangordnung indianischer Schutzgeistertiere einen eher bescheidenen und niedrigen Stand, der irrt gewaltig. Als Verkörperung kluger Voraussicht, schier übernatürlicher Fähigkeiten - etwa ihrer dem Fassungsvermögen menschlicher Augen entzogenen Beweglichkeit und Schnelligkeit - und nicht zuletzt außerordentlichen Geschicks verkörpert die Spezies der Hörnchenartigen einen gefragten, begehrten und überaus beliebten Tiergeist, dessen sichtbares Zeichen Jedermann und -frau mit Stolz und Ehrfurcht im Bündel, Medizinbeutel, an Halskette, Federschmuck oder in Form eines Amuletts mit sich führt. Ganze Clans weihen sich dem Hörnchen und benennen sich selbstbewusst nach ihrem mächtigen Beschützer. Im Gegensatz zum hochmütig zu Selbstüberschätzung neigenden weißen Mann ist sich der rote Mann seiner kläglich jämmerlichen Unterlegenheit bewusst und weiß, mit wem er es da zu tun hat, nicht von ungefähr schreibt er dem Hörnchen große Zauberkraft zu. Auch für mich besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass Hörnchen Meister der Hexerei sind, die jede diesbezügliche, zwangsläufig notgedrungen stümperhafte Anstrengung des Menschen mit unverhohlen neckischem Spott betrachten und belegen. Es erfüllt mich mit Stolz, dass mir ihre mannigfaltigen Vertreter den nicht hoch genug zu schätzenden Gnadenerweis des Futterspenders bezeigen.

Fanda hält sie sowieso für die Abkömmlinge einer „intergalaktischen“ Besiedlungswelle, was auch immer das heißen mag.

Mein Freund, der alte Mescalero, erzählte mir mal seltsame Dinge von jener fernen Insel, die Seefahrer vor noch gar nicht allzu langer Zeit entdeckt haben, auf der es Riesenspringmäuse geben soll mit dem Kopf einer Hindin und Schlangenschwänzen, die ihre Jungen monatelang mit sich herumtragen wie die Squaws ihre Kinder, allerdings nicht auf den Rücken gebunden, sondern in einem Beutel am Bauch, und wenn die kleinen Hüpfer geboren werden, sind sie grade mal so groß wie ein halber Fingernagel. Dort sollen auch Biber in Bächen und Flüssen rumschwimmen mit Flossen und Entenschnabel, die Eier legen, ebenso tauchende Kühe mit der Gestalt von Seejungfrauen. Manchmal sagt er schon absonderliche Dinge. Wie alle Schamanen hat er einen gewissen Hang zu Fabelwesen, der gefürchtete Basilisk ist nur eine dieser Merkwürdigkeiten aus versunkenen Anasazi Tagen.   

Ein verhexter roter Hahn legt in einer Vollmondnacht ein Ei.

So fängt das Unheil an und nimmt seinen Lauf, sobald das Küken sich aus der Schale pellt. Weil sich der Tunichtgut nicht nur durch seine außernatürliche Herkunft von einem herkömmlichen Hühnervogel unterscheidet. Dass sein Hinterteil das einer Schlange ist, macht ihn nicht gefährlich, auch nicht sein befiederter Schnabelkopf. Sein mächtiges Gift steckt nicht in seinen langen Zähnen, sondern in den unwirklich glotzenden Augen. Die haben nämlich die Macht, jeden zu versteinern, der ihrem Blick begegnet. Der ist dann sozusagen absolutely stoned. Nur das Wesen, dass er als Erstes zu sehen bekommt, wird verschont. Wäre ja auch ziemlich blöd von ihm, seine Glucke zu versteinern. Könnte schwerwiegende Folgen für ihn haben, da er am Beginn seines Erdendaseins ziemlich mickrig daher gekrochen kommt und ohne weiteres zerdrückt werden könnte. Allerdings wächst er ziemlich schnell und macht sich erst mal aus dem Staub, und das obwohl er wie alle Schlangen im Staube kriecht, jedenfalls zur Hälfte, denn Hühnerkrallen hat der Schlingel auch. Ansonsten ist der Basilisk ein ziemlich übler Wicht, der seine besondere Begabung hemmungslos auslebt und zu diesem Zwecke einsamen Wanderern auflauert.

Wer nun besonders clever ist, Häuptling werden will, große Medizinfrau oder sonst einen der oberen Plätze in der Stammeshierarchie erobern, der engagiert erst mal eine Hexe, die den Hahnenvogel dahingehend verzaubert, wartet auf das Ei, schnappt es sich, brütet es unter seinem Gewand am Körper aus und spielt Geburtshelfer beim Schlüpfen, wichtig ist nur, dass der kleine Finsterling als erstes sein Pflegemenschlein zu Gesicht bekommt, und schon hat er - oder auch sie - ein wortwörtlich ungeheuerliches Instrument an Macht in Händen. Der Besitzer braucht es gar nicht einzusetzen, um Furcht und Schrecken unter seinen Stammesgeschwistern zu verbreiten, allein die Bekanntmachung, dass er ein solches besitzt und unterm Rock trägt, macht ihn zu einer gefürchteten Autorität. Wer legt schon Wert auf den sichtbaren Beweis in Gestalt eines statuierten Exempels, noch dazu wenn er stets Gefahr laufen kann, dasselbe dergestalt abzugeben?

Gewusst wie. Und so regierten die Hüter des Basilisken unangefochten eine ganze Reihe von Generationen lang, um den Hals ein funkelndes Amulett mit dem furchteinflößenden Abbild des Fabelwesens, das zusammen mit ihnen begraben wurde, an geheimen abgelegenen Plätzen, tief in der Erde versenkt und mit schweren Steinen zugedeckt, damit das Vieh nur ja nicht wieder ans Tageslicht zurück kommen kann. Und da war sozusagen der Hund begraben. Denn starb so ein Basiliskenhüter unerwartet und bevor erwählte Eingeweihte sein Begräbnis organisieren hatten können, war von seinem Haustier plötzlich nichts mehr zu entdecken. Und die Amulette erwiesen sich als wirkungslos und ungefährlich. Auf diesem überaus natürlichen Wege flog der Schwindel wohl eines Tages auf. Was die Pueblostämme keineswegs daran hindert, den Basilisken unvermindert zu fürchten. Allein wer seinen Namen ausspricht, ist schon verdächtig. Und wer gar wie ich einen als Amulett um den Hals trägt, muss ein großer Zauberer sein, vor dem man sich besser hütet.

Hab das Teil mal am Fuß eines abgerutschten Steinhangs gefunden, wusste gar nicht was das sein soll. Mein Freund, der alte Mescalero riet mir, es unbedingt unterm Hemd zu verstecken. Vor allem, bevor ich seine Höhle betrete. Noch lieber wäre es ihm, wenn ich das Ding vorher draußen unter einem großen Stein zwischenlagere. Versteh das wer will. Der Gute ist doch sowieso ständig absolutely stoned.

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Liebe Grüße :-)
Sintram
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Felidae am 25 März 2017, 20:39:14
Danke, Sintram. :)

lg
Feli
Titel: Re: Im Auge der Hindin
Beitrag von: Sintram am 08 April 2017, 08:32:47
Wofür? Bitte gern!  :-)

Wie schon gesagt, wer mehr davon will, findet es als Gesamtwälzer bei https://www.

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oder, schöner zu lesen, in sechs Bänden

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Es soll auch Allen Mut machen. Längst lebe ich mit der Gewissheit, meine Depression nie mehr los zu werden, brauche meine tägliche Dosis Chemie... Aber fürs Schreiben reicht es noch.

Liebe Grüße
Sintram