Ein Schritt

Begonnen von nachtwind, 10 Mai 2025, 23:35:46

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

nachtwind

Das nächste, was ich wieder weiß, ist, dass wir drei, alle doppelt und dreifach so dick wie sonst, auf dem Flugplatz stehen und warten. Meine Mutter ist aufgekratzt, aber noch ist alles im erträglichen Rahmen. Dann sitzen wir im Flugzeug. Und nach und nach pellen wir uns aus all den doppelt und dreifach angezogenen Klamotten. Sie passten nicht mehr in die Koffer.
Aber meine Mutter gab manchmal eben auch nicht so schnell auf. Sie wusste ja auch nicht, wie fliegen geht. Aber wenn sie sich im erträglichen Rahmen bewegte, dann war sie auch manchmal: pfiffig. Unkonventionell pfiffig.
Jetzt hatten wir die ganzen Klamotten auf dem Schoß. War jetzt auch nicht so toll. Aber immer noch besser als an. Irgendwie werden wir uns schon beholfen haben. Vermutlich sah das aus wie bei Flodders unter'm Sofa. Aber wen kümmert's schon. Mich nicht. Wir hatten andres zu bewerkstelligen. Wir mussten diesen Flug schaffen. Einfach nur schaffen. Dann ist alles gut. Dann sind wir in Sicherheit. Dann ist ja unser Vater wieder da.
Meine Mutter war drauf und dran, den erträglichen Rahmen unverzüglich zu verlassen. Sie bestellte und bestellte. Noch einen, bitte. Sie war halt auch aufgeregt.
Ich also der Stewardess zu verstehen gegeben, ziemlich dringlich, ihr nix mehr einzuschenken. Erst wollte sie nicht. Immerhin, ich war ein Kind. 8,9 Jahre alt. Und eher klein für mein Alter. Und neben mir die Erwachsene.
Aber ich war ziemlich verzweifelt schon - nicht schon wieder! Bitte!! Nicht schon wieder!
Das hat sie dann doch verstanden. Ganz pragmatisch gesehen war es ja auch in ihrem Interesse. Und als meine Mutter rebellisch wurde, hatte sie schon vorgesorgt. Ihr Kollege übernahm. Und der konnte das richtig gut.
Ich hab mich mit einem Blick bei ihr bedankt. Und sie hat verschwörerisch gelächelt. Immerhin.

Ich war aufgewacht. Nie wieder sollte es werden, wie es vorher war. Ich war aufgewacht.
Und: ich hatte meinen Job angenommen.
Immerhin.

In Lagos, mitten in der Nacht, hatten wir Zwischenaufenthalt.
Auch das wohl ganz andre Zeiten.
Die Maschine stand irgendwo auf dem Flugplatz - wer wollte, konnte aussteigen. Natürlich wollte meine Mutter. Sie war schon nicht mehr ganz im erträglichen Rahmen. Und damit: abenteuerlustig. Aber ich konnte sie irgendwie überreden, sitzen zu bleiben. Ich musste mein Allerbestes geben. Ich wusste : wenn sie aussteigt, kann es sein, dass sie nicht mehr einsteigt. Katastrophe pur. In Lagos.
Die Flugzeugtür stand offen, und es wurden heiße Waschlappen zusammengerollt angeboten. Es kam mir widersinnig vor. Es war sooo heiß hier! So drückend feucht. Und dann noch heiße feuchte Waschlappen?! Irre!
Ich beobachte, was die andren um mich rum damit machen. Also,ich weiß nicht...
Irgendwann muss ich auf´s Klo. Und auf dem Weg dahin an der offenen Tür vorbei. Da knallt sich mir ein Schlag entgegen, trifft mich unvorbereitet. Heftig!Brutal!
Diese feuchte Hitze erschlägt mich fast. Ich hab so was noch nie erlebt.
Als das nächste Mal die Waschlappen angeboten werden, nehm ich sie. Für uns alle drei. Ich hab verstanden: das ist kein Spaß. Es geht um's Überleben.
Wie soll ich in diesem Afrika denn bloß leben können??!! Es ist so heiß.hier!Ohjeh.

In Windhoek angekommen, schwanken wir drei die Treppe runter. In den Armen hunderttausend permanent rutschende Kleidungsstücke und die Handgepäcks dazu. Stehen dann auf dem Rollgeld - es ist sooo heiß.
In Athen war tiefer Winter - hier ist Hochsommer. Wetterumschwung innerhalb eines Tages. Der Mensch ist extrem anpassungsfähig. Aber das schafft vielleicht ein Profisportler. Wir nicht. Wir sind ja noch nicht mal Sportler. Nur drei ein bisschen verloren in der Hitze stehende weisshäutige Menschen, die eigentlich nur noch eins können: atmen. Mehr nicht. Mehr absolut nicht. Schon stehen ist eine Qual.
Da entdecke ich meinen Vater. Er steht auf der Terrasse des Flughafensgebäudes. Ein ganzes Stück weit weg. Und unterhält sich angeregt. Mit offensichtlich Bekannten. Winkt uns kurz zu.
Ich schau mich um. Und sehe schwarze Menschen.
Ich bin darauf nicht vorbereitet. Es sind viele. Ich war auf Löwen vorbereitet. Hat meine Mutter mit glitzernden Augen gesagt. Da gibt's Löwen! Als wär das was ganz tolles. Ich war mir da nicht so sicher. Im Zoo war ich noch nie. Aber ich kannte Bilder. Sie sahen nicht wirklich vertrauenserweckend aus. Fand ich. Die Löwen.
Ich hab auch Bilder gesehen von schwarzen Menschen. Aber sie jetzt hier zu sehen, wie sie ganz selbstverständlich herumliefen.... so viele...
Es hat mich überfordert. Das war nicht meine Welt. Das war irgendeine ganz andre Welt. So eine Welt
kannte ich nicht.

Und die Klamotten rutschten ständig. Ich hielt Ausschau nach Löwen, am Flugplatzrand war Steppe genug. Aber ich sah keine. Das heißt nichts. Ich hab nicht nur Bilder angeschaut. Ich war 8, fast 9 - ich habe auch gelesen.

Es ist soo heiß! Die Sonne knallt auf uns herab, als mache sie sich lustig über uns, wie wir da so stehen. Gelähmt von der Hitze. Mit ständig rutschenden Bergen von Klamotten in den Armen. Inmitten eines Landes, von dem wir noch nicht einmal wussten, ob wir hier leben können. Vielleicht auch: wollen?

Ganz inmitten eines völlig fremden Landes.

Es ist so heiß. Ich kann gleich nicht mehr. Ich spür schon, wie das Schlechtwerden in mir hochsteigt. Gleich fall ich um.
Wo bleibt nur mein Vater?
Ich schau nach ihm.
Er steht immer noch da. Dieses ganze Stück weit weg. Von uns.
Ich blinzle. Schau noch mal.
Aber es bleibt dabei: er steht immer noch da. Unterhält sich weiter.
Und langsam, ganz langsam wächst da ein Gedanke in mir ... und er wächst und wächst.... : er will uns gar nicht.... ?...

Es tut ihm leid, dass wir jetzt da sind.
....
Es muss schön gewesen sein, für ihn. Ohne uns.
....
Er zögert den Moment heraus, so,lange er nur kann. Den Moment, wo wir wieder dazugehören.
....
Er muss es genossen haben. Die drei Monate.
....
Er will uns gar nicht. Mehr noch: wir sind ihm lästig.

Ich erinner mich noch heute daran.Es waren ganz unerwartete Gedanken. Sehr untypisch für mich. Für mich und mein Verhältnis zu ihm.

Ich habe es scheint's auch schnell wieder vergessen. Es ließ sich nicht leben so.
Aber ich erinner mich deutlich, so deutlich daran. Wie ich da stand in der knallende Sonne. Und das erkannte.
Ich war wach geworden.
Vielleicht deshalb.

Irgendwann kam er dann doch zu uns. Widerwillig, wie mir schien. Begrüßte uns ganz nebenbei. Stellte uns seine Begleitung vor. Mit denen er sich weiter unterhielt.
Die aber waren freundlich. Griffen sich jeder gleich ein Bündel Klamotten, wir Kinder waren befreit.
Zwei Menschen waren freundlich zu uns. Das musste reichen. Für's Erste.
Es erlöste mich aus meiner Erstarrung.
Nur meine Mutter stand noch da. Mit ihrem Kleiderhaufen über dem Arm. Ihr Kleiderhaufen war der mit Abstand höchste. Ihre Klamotten waren ja auch viel größer als unsere.
Wie sie da so stand.... es gibt ganz wenige Augenblicke, in der sie mir leid tat.
Das
war jetzt so einer. Es war einfach nicht fair.
Wie sie da so stand - mit ihrem roten verschwitzten Kopf, die Arme voll ungeordneten Klamotten, erschöpft und verwirrt zugleich, und so krampfhaft bemüht zu tun, als sei alles in Ordnung, als sei alles fein, so....
hysterisch lachend so zu tun, als sei das völlig normal, dass ihr Mann sich so verhielt...und währenddessen verzweifelt bemüht zu verbergen, dass sie angeschickert war... oder schlimmeres...

Manchmal ist das Leben schwer zu ertragen. Wirklich schwer zu ertragen.
Manchmal ist das Leben zu schwer, um es zu ertragen.
Sie tat mir einfach nur leid.

Also hab ich mir ihr Bündel geschnappt, es unter mir und meiner Schwester aufgeteilt. Sie war natürlich sauer auf mich. Na klar war mir das nicht egal - wir waren so wenige. In diesem großen so fremden Land. Wir sollten zusammenhalten. Aber ehrlich: was ist schlimmer - wenn meine Mutter hier in der Knallesonne mit all ihren Klamotten zusammenklappt... und sich womöglich dabei einnässt? Oder wenn meine Schwester sauer ist auf mich? Ist sie eh oft. Also.

Und so haben wir uns dann eben
in Afrika, in Namibia hineingeschleppt.
Vorne mein Vater mit seinen zwei Begleitern. Sich immer noch angeregt unterhaltend.
Dahinter dann wir. In immer größerem Abstand.

Er war mir so fremd geworden. Mein Vater.
Und wir ihm scheinbar auch.

Wie soll das gehen, jetzt?
Seit zwei Tagen war ich aufgewacht. Ich wusste, man muss aufpassen auf sie. Ich dachte, wenn nur mein Vater wieder da ist, dann wird alles wieder gut.
Jetzt ahnte ich, nein, das wird es nicht.

Wie soll das nur gehn?
Wie?


Und unter all dem immerzu, und sehr bedrohlich: es ist so wahnsinnig heiß hier!






Ponyhof

Hallo @nachtwind

Ich nehme an sämtliche denkbaren Kommentare zu dieser Geschichte.
Wie tapfer Du warst. Dass Du großartiges geleistet hast. Dass die Erwachsenen dich hängen gelassen haben und und und
Die hast Du alle schon tausendmal gehört.
Ich erspar sie dir, es hilft ja nichts, niemand ändert die Vergangenheit.

Aber ich dachte, ich lass dich wissen, dass ich sie gelesen habe. Dass ich vor mir sehe, wie Du dort am Telefon stehst. Viel zu viel Verantwortung. Viel zu große Aufgaben. Regeln, die das sowieso schon Schwere unmöglich machen.
Und trotzdem nur Scham statt Stolz, wenn Du es hinbekommst...

Ich bin hier, ich lese deine Geschichte. "What a Story" hat eine Freundin von mir mal gesagt.
Ich denke das trifft es.

What a Story...

nachtwind

Ponyhof, ich dank dir, hörst du?
Es hat mir die Tränen in die Augen geschossen. Dein Satz mit der Scham.
Hat mich total überrumpelt. Hab ich nie so gesehen. Treffer... versenkt.
Ist mein Thema, ponyhof. Scham. Und Schuld.
Fühl mich gesehen.
Weiß gar nicht, wie ich antworten kann. Dass das dem gerecht wird.
Was du da grad in mir auslöst.
Den ganzen Tag denk ich, wie ich dir antworten kann.
Also jetzt nicht pausenlos natürlich. Aber immer wieder.
Finde keine Worte. Keine Antwort.
Mach ich dann eben jetzt einfach so.
Danke, ponyhof - danke!

nachtwind

Sorry Ina - jetzt ist mir da schon wieder was schiefgelaufen .... Ich wollte nur die Klammern dick setzen, damit man sie auch sieht. Fand ich ne tolle Idee. Ich kann's nur immer noch nicht. So ist der ganze folgende Text ,,dick" geworden - völlig ohne Sinn.
Kannst du nochmal den vorigen Text löschen?? Entschuldigung echt!
Irgendwann kann ich's... hoffentlich.


Liebe ponyhof,
jetzt doch noch mal eine Antwort auf deine Gedanken, die du mir geschickt hast. Der Dank für das, was du in mir angeschoben hast, der ist davon ganz unberührt. Der steht meilenweit darüber. Ist die eigentliche Antwort. Dann kommt lange nix.
Aber dann doch ein paar Gedanken dazu.
Drei Sachen. Also, ich habe es nicht tausend Mal gehört, was man dazu sagen könnte. Noch nicht mal einmal. ;-) Ich hab's halt nie erzählt. Es ergab sich irgendwie nie. Also ich bin nicht hundert Prozent sicher, dass ich es nie erzählt hab. Vielleicht schon mal einmal. Aber ohne Rückmeldung dann. Und mir nicht erinnerbar. Weil nichts besonderes. Deshalb bin ich schon ziemlich sicher, dass nie. Ich glaube, ich wär schon aufgeregt gewesen, wenn ich es erzählt hätte. Ich erinner aber nix.
Das in Klammern ist jetzt eher langweilig, ich mag's aber auch nicht löschen.

[Ich hab auch nie eine Therapie gemacht. Wo das mal hätte zur Sprache kommen. Bis dreißig war ich ja überzeugt, dass ich der Versager Par Exzellenz bin. Erst mit der Geburt meiner Tochter ist in mir der Wunsch gereift, dringlich: ein besserer Mensch zu werden für sie. Ich hab es die drei Jahre in mir getragen ... hab einiges gelesen. Versucht es umzusetzen.
Die besten Gespräche in meinem Leben hatte ich mit Büchern. Hab ich mal ne Weile gedacht. Seh ich jetzt nicht mehr so.  Was aber den Gesprächen mit Büchern nichts von ihrer Bedeutung in meinem Leben nimmt.
 Die Dringlichkeit wurde immer größer. Ich fand nur keinen Eintritt.
Als ich mit meinem Sohn schwanger war, kam dann der Durchbruch - mit Macht! Ich musste etwas tun! Und es ergab sich was. Ein Wochenende. Ein Seminar.
Und so hab ich mich durch's Leben gehangelt - alle paar Jahre mal ein neues Seminar... Ich hab verschiedene Methoden kennengelernt. Und das hat mir mein Leben gerettet. In einer Gruppe macht man zwar natürlich all die Übungen, aber so Geschichten kommen da nicht zur Sprache. Hätt ich auch gar nicht gewollt.
Therapie, das hab ich schon zweimal versucht. Aber ich kann das nicht. Nach drei, vier mal war wieder Schluss. Es ist mir nicht gegeben.
In Gruppen funktioniert das für mich. Da kann ich viel für mich sein. Und Partnerübungen, so von gleich zu gleich, da kann ich mich drauf einlassen. Sind ja auch nicht häufig. Und: die Partner wechseln ja auch jedesmal. ;-)

So mit nur einem Menschen vor mir - der auch noch nicht von gleich zu gleich ist, dafür bin ich nicht gemacht. Das ertrag ich nicht. Ist ja auch nicht schlimm. Es gab ja alle paar Jahre mal ein Seminar.
Fällt mir grad auf: das letzte ist nun auch schon wieder 20 Jahre her.
Die sind ja auch sehr teuer.

Insofern, nein - hab ich noch nie erzählt. Aber ich erzähl es jetzt. Das ist eine Nebenwirkung meiner Krebserkrankung. Ich weiß, ich hab nicht mehr so viel Zeit. Und ich sollte dringend aufräumen in mir! Damit meine Kinder und Kindeskinder nicht zu viel Arbeit haben. Mit all meinem unerlöstem Erbe.
Deshalb versuch ich mich so genau wie möglich zu erinnern. Um besser zu verstehen. Was mein Leben war. Und was ich noch aufräumen sollt. Und vor allem ja nu auch: damit ich verstehe, wie!

Im Grunde seit ihr meine Therapie. Weil ihr es lest.
Und weil ihr manchmal was dazu sagt.
Das bedeutet mir so viel.
Könnt ihr gar nicht wissen, wie dolle.

Ich hätte nicht gedacht, dass das so fruchtbar ist, das darüber Schreiben. Ich entdecke wirklich das eine oder andere, dass ich so noch nie im Zusammenhang gesehen hab.
Das  alles ein bisschen verändert.
Es ist wirklich anders als vor sich hindenken. Da erinner ich mich.... und ich weiß ja, wie ich mich da fühl. Wenn ich es aber erzähl, wenn jemand da ist, der es liest, dann muss ich viel genauer hingucken. Was genau da war. Wie genau ich mich gefühlt hab. Was ich gedacht hab. Und immer wieder natürlich auch: war es wirklich so? ]

Und jetzt komm ich zu dem, was ich dir eigentlich antworten will. Du sagst: Vergangenes kann man nicht ändern. Seh ich nicht so. Seh ich ganz anders.
Natürlich hast Du einerseits völlig recht. Was geschehen ist, ist geschehen.
Klar.
Aber was das für eine Bedeutung für dich hat - das ist tatsächlich änderbar. Also so erlebe ich das. Stand meiner Lebenseinsicht. Für mich: genauso klar.
Was sonst soll so ein Wort wie ,,verarbeiten" sonst bedeuten?
Gut ich bin nicht therapieerfahren und weiß nicht, was Therapeuten damit nun genau meinen. Was ich für mich verstanden hab, ist erstens: du musst dich dem Gefühl stellen. Nicht drüber reden - stell dich mittenrein! Und halt es aus!
Und meistens dann eben auch: drück es aus. Irgendwie!
Und zweitens dann, nach dem Verschnaufen, Tage, Wochen, vielleicht Jahre später vielleicht: schau es dir noch mal an. Jetzt wo du keine Angst mehr haben musst vor dem Gefühl, das du vorsichtshalber unterdrückt hast - jetzt schau es dir noch mal an. Ruhig. Und genau. Was fällt dir noch auf? Zu dem bis dahin dominierendem Gefühl in der Situation noch auf?

zB eben grad das, was du mir eingeschenkt hast... was ich so noch nie gesehen hab. Dass, wenn ich es doch irgendwie hingekriegt hab, kein Stolz sich einstellt darüber, sondern alles überflutende Scham.
Erstens war mir das gar nicht so betont bewusst, nur so unterschwellig diffus. Ich erlebe diese Scham jetzt viel deutlicher noch mal. Ich drück sie für mich aus. Da hängt ja was dran. Das ist schon richtig, dass das nicht so diffus bleibt.

Und dann denk ich vorsichtig tastend schon auch mal darüber nach, ob meine tiefe Scham vielleicht nicht nur  aus meinem Versagertum gespeist wird - das wird sie sicher, aber eben vielleicht nicht nur. Vielleicht hab ich ja auch die Scham, die eigentlich meine Mutter spüren müsste ( und vielleicht ja auch gespürt hat?), aufgesammelt und als meine eigene einsortiert???
Ich hab schon mal in die Richtung gedacht. Aber die Aufmerksamkeit nicht gehalten. Jetzt steht es in der Mitte. Jetzt halte ich das für möglich.

Was sich dadurch verändert? Dass nicht ich mich für alles schämen muss.
Dass ich mich freisprechen kann von einer mancher Scham.
Muss ich nicht. Es ist nicht meine.
Stell dir mal vor?!!  Verändert viel!!!
Hängt ja auch noch was dran. Der nächste Gedanke: vielleicht gibt es ja noch mehr so Situationen....
Wenn ich spazieren gehe, einkaufen, wo und wann auch immer - 90% laufe ich mit gesenktem Kopf. Immer. Ob ich mich nun gut fühl grad oder nicht. Hab schon einen Buckel davon. Nicht nur davon - sitzen tu ich auch so. Rundrücken heißt das auf schön. Hat mir mein Hausarzt schon prophezeit, als die Kinder noch klein waren. Hat er auch recht behalten. Mittlerweile sieht man ihn deutlich.
Trage  beim Spazierengehen mittlerweile einen ,,Rückengeradehalter" (heißt echt so!) hilft natürlich nicht oft. Aber manchmal schon. Zumindest für ein paar Minuten. Was glaubst du, was es bedeutet für jemanden, der einen Buckel hat, wenn er plötzlich aufrecht gehen kann?!
Das ist wie eine Offenbarung! Es fühlt sich so gut an, so frei, so groß, so offen ...
und was ich dann sehe! Alles sieht irgendwie ganz anders aus, wesentlich schöner.... Ist so. Auch wenn es übertrieben klingt. Wirklich.
Wenn ich normal gehe, sehe ich die Welt vor mir. Ein bisschen was von Drumherum. Den Himmel seh ich nicht.
Wenn ich den Kopf hebe, dann seh ich den Himmel. Und alles sieht ganz anders aus. Dadurch.

Nach deinem Satz konnte ich fast den gesamten Spaziergang so erleben.
Und das nur, weil ich es auch nur mal in Erwägung gezogen hab, dass es nicht immer meine Scham gewesen sein könnte. Die ich empfunden hab. Mein Leben lang. Ich bin ja noch nicht mal sicher.
Natürlich hält das jetzt nicht auf immer. Aber es hat stattgefunden! Das nimmt mir keiner mehr.
Ein Moment kommt nicht gegen 68 Jahre Gewohnheit, den Kopf gesenkt zu halten an, völlig klar. Würd ich auch nie erwarten. Aber ich feier die paar Schritte, die ich mit erhobenem Haupt hab machen können,  vor deinem Satz mit der Scham, und nachher.
Ich feier sie. Weil sie schön sind. Und sich gut anfühlen. Punkt. 

Was ich sagen will, ganz kurz zusammengefasst : es ist nicht das, was passiert ist, das dich zu dem macht was du bist.
Es ist deine Sicht auf das, was passiert ist, die dich zu dem macht, was du bist.

Und deine Sicht
kannst du ändern. Jederzeit. Du musst nicht. Aber du kannst. Jederzeit.
In der Gegenwart. Diese Gegenwart steht dir zur Verfügung.
Und wenn du deine Sicht auf die Vergangenheit änderst, veränderst du deine Vergangenheit.
Und manchmal sogar auch: deinen Körper. Und das ist schon speziell. Auch wenn es nicht so nachhaltig ist wie du es dir wünschst.... Es zeigt zumindest deutlich und klar: wenn sogar dein Körper ändert dadurch, dann bist du auf dem so was von richtigem Weg!
hey :-)

Ponyhof

Liebe @Nachtwind,

oh... Ja, Du hast natürlich Recht. Tausendmal gehört haben kann man Reaktionen natürlich nur, wenn man die Geschichte tausendmal erzählt hat. Was natürlich weder gesetzt, noch eine Kleinigkeit ist, das ist wahr.
Und natürlich sind diese Therapeuten-Sprüche "Und? Was macht das mit Ihnen?" "Das muss schwer für Sie gewesen sein." "Was würden Sie Ihrem früheren ich von damals raten?" "Was ist heute anders als damals?" "Das ist nicht Ihre Verantwortung" "War das damals wirklich Ihre Aufgabe, glauben Sie?" usw usw usw alle sinnvoll und berechtigt. Beim ersten, zweiten und sagen wir auch noch beim dritten Mal.

Ich wünsche Dir also viel Erfolg, viel Veränderung und das, was man neudeutsch "Transformation" auf deinem Weg. Die erste Therapie

Schreiben ist gut, das finde ich auch. Und vielleicht. VIELLEICHT (!!!) magst Du ja Mal darüber nachdenken etwas von den alten Geschichten deinen Kindern zugänglich zu machen. Ich persönlich glaube nämlich, dass man die Gefühle, die eigentlich der Generation davor gehören, besser aus dem System bekommt, wenn man sie versteht. Könnte also evtl. hilfreich sein.
Für deine Kinder meine ich.

Nur so'n Gedanke...

nachtwind

Ja Pony, das ist der Plan. Ich denke da eher an meine Enkelkinder. Wenn sie sich wichtige Fragen stellen, bin ich nicht mehr da. Und ich wär so gerne für sie da.
Da ist die Hoffnung, dass sie vielleicht in so was wie hier
vermutlich nicht genau die Antworten finden, die sie suchen -
aber vielleicht taugen ein paar Gedanken dazu, dass sie eine andre Spur ausprobieren.
Für sich. Um sie zu finden.

Vorgestern und gestern waren besonders schöne Tage für mich. Festlich irgendwie.
Es war überhaupt nix besonderes los. Ganz ruhig, ganz normal, nix aber auch gar nix besonderes los.
Und trotzdem fühlten sie sich von Anfang an wie Feiertage an. Ich hab's gespürt, ich hab's gelebt. Ohne es zu verstehen, leise und dankbar zugleich.... alles hatte einfach einen kleinen besonderen Zauber... die simpelsten Dinge.
Man muss nicht alles verstehen, hab ich gedacht - feier ich halt die Feste, wie sie fallen.
Und heute denke ich: Man muss nicht alles verstehen, aber einiges kann man auch verstehen.
Ich schau nämlich in den Kalender, um mich zu orientieren... wann war nochmal der nächste Termin? Und sehe : ach - deshalb! Vorgestern war der 13., der 13. September.
Genau ein Jahr  später als der Tag, an dem ich wohlgemut zur Frauenärztin fuhr - und als Krebskranke zurückkam.
Ich hatte es gar nicht mehr auf dem Schirm. Aber der Rest meines Eisberges scheinbar schon! Krass.

Sternengucker hat vor ner Weile mal geschrieben: ,,wo werd ich in einem Jahr sein" oder so was ähnliches.
Ich hab nachgedacht, an welchen Punkten man sich solche Fragen stellt.
Um zu verstehen, wo sie grade sich befindet.
Ich denke, es sind Zeiten, in denen etwas Selbstverständliches sich zeigt - und einem klar macht: sooo selbstverständlich ist es gar nicht.
Wenn etwas Vertrautes sich verändert... und man weiß nicht wohin .
Es sich entwickelt.
Wenn man daran zweifelt, ob man die Herausforderungen durchsteht - oder einknickt unter der Last.
Dann fragt man sich so was, denke ich.

Ich habe mir diese Frage damals nicht bewusst gestellt. Aber die Antwort darauf sehr wohl wahrgenommen. Jetzt. Als Geschenk.
Als völlig unerwartetes Geschenk!
 Genau ein Jahr später.

Einer Krebserkrankten mitten in der Behandlung hab ich neulich geschrieben: ,,halt schön durch - es gibt ein Danach!
Und das ist gut ... das ist schön.."
Natürlich gibt's jetzt Menschen, die zweifeln das ,,gut" sofort an.
Ich gehör auch dazu : stimmt das denn überhaupt? Ich mein, für mich gilt das - aber gilt das auch allgemein?
Ich bleib dabei - es gilt auch allgemein. Im Vergleich zu dem Davor, also der Behandlung, ist fast alles gut!  Und schön!
Es ist auf jeden Fall : besser! Und schöner! Als es die Gegenwart während der Behandlung ist.

Jetzt gibt es Menschen, die sagen dann: ,,Ich kann's nicht mehr hören, dieses ,alles wird gut' ! Das weißt du doch gar nicht!!  Statistisch gesehen hast du keine 3 Jahre mehr, und eins ist nach der Entdeckung ja nun schon auch wieder vorbei!"
Da gehör ich jetzt nicht mehr dazu. Denn mal ehrlich: was wär denn dann gut , wirklich gut zB bei mir???
Dass ich nie sterbe??? Watt'n Quatsch!!

Ich glaube, wir verlangen ziemlich viel vom Leben. Bis wir mal bereit sind, es für gut zu akzeptieren.

Also ihr alle da draußen, die ihr da grad in einer so schwierigen Zeit steht - haltet durch! Es gibt auch ein Leben danach. Und das ist meistens
auch gut.
Ich wünsch es euch so!
Gebt alles was geht. Und wenn nichts geht, dann nehmt euch in den Arm...
es gibt ein Leben danach!
Zumindest das
steht fest.
hey  :-)



nachtwind

Jetzt musste ich mich erstmal wieder orientieren, mit was ich eigentlich
beschäftigt war.
Vor dem mich Erinnern. Wie das so war. Damals. Als ich wach wurde.

(Ich bin jetzt kein Experte im Erforschen der Entwicklungsschritte eines Kindes. Aber ich nehme an, so um 9 rum wacht jedes Kind ein bisschen auf. Es gehört zu der Entwicklung dazu. Insofern alles richtig, alles in der Reihe. Hier ist nichts zu früh geschehen. Ich hatte meine Kindheit. Dann bin ich aufgewacht. Und war nicht mehr die, die ich vorher war. So weit, so ordentlich. So weit alles in der Ordnung.
Aber irgendwas war ein bisschen zu viel. Für mich.
Sicher, zu entdecken, die Mutter ist süchtig, ist jetzt nicht schön. Nicht wirklich.
Bevor man Achtung entwickeln kann, hat man sie schon verloren.
Gefühlt unwiderruflich verloren. Wirklich unwiderruflich verloren?
Ich glaube schon.
Aber das ist es nicht.
Ich weiß nicht, was es ist. Vielleicht hat es etwas mit Verantwortung zu tun.
Was ein bisschen zu viel war. Für mich damals.
Und ich ahne grad zum ersten Mal - für mich seitdem.
Immer.
Irgendwie schräge eingeordnet. In meiner sich bildenden Charakter-Chromosomenkette.
Irgendwie so. )

Ich war bei der Frage, warum ich so garstig werde. Wie bei der Ärztin, nicht der guten - der anderen, verplanten. Wie bei der Schwester Lady Paukenschlag....
wie immer bei Menschen, die von sich glauben, eine Autorität zu sein. Und es nicht merken, dass sie das überhaupt nicht ausfüllen können.
Ich hab immer noch keine genaue Ahnung, warum nun. Aber ich erinner mich - ungern - an eine Zeit, in der ich nebenberuflich genau so garstig war .... immer!
Unstoppable.
Die Zeit im Heim. Also dort jetzt nicht - in meinem damaligen Nebenberuf: Schülerin. Immer! Furchtbar! Ich war entsetzlich drauf!
Und wusste es. Und blieb trotzdem so.
Kann mich nicht gut ertragen. Wenn ich daran denk.

Also es ging um die Frage, wohin jetzt mit dem Kind. Will noch die Schule fertig machen, ein Jahr, aber keiner da, bei dem es bleiben könnte für die Zeit.
Meine Mutter fiel aus, wie immer bei Entscheidungen.
Blieb mein Vater.
Und der... nun ja - sagen wir mal, er war nicht wirklich interessiert. Aber er musste ja jetzt Entscheidungen treffen. Er war ein sehr gebildeter Mann mit Charme und guten Manieren und hatte bei den Frauen ein Stein im Brett, wie man so damals zu sagen pflegte. ;-) Wahrscheinlich hat er das Problem einer der Sekretärinnen übertragen, und die hatte das Heim ausfindig gemacht.
Eine der Sekretärinnen dort wohnte auch in dem Heim. Sie war ein bisschen anders. Saß mit uns Teenagern im Speisesaal, ganz fehl am Platz, aber sie ertrug es stoisch. Löffelte geduldig ihren Tee mit einem Teelöffel  leer, oder auch ihren Kakao, samstags gab's Kakao und Weckle zum Abendessen , mit Buko-Käse. Es war das Highlight der Woche. Und ansonsten sah man sie nicht. Es war so eine Art betreutes Wohnen für sie.
Ansonsten lebten da alles Mädels so in meinem Alter oder bisschen älter - jede mit ihrer ganz eigenen Geschichte. Und keine war schön.
Und dann ich.

Ich weiß noch, wie ich da vor der Tür stand, in der einen Hand einen Koffer, in der anderen einen Zettel mit der Anschrift des Heimes. Ich hab dreimal überprüft, ob es denn jetzt die richtige Adresse ist. Ich hätte es auch zwanzig mal getan - ich wollte da nicht klingeln.
Ich wollte da nicht rein.
Also wie gesagt - ich bin da nicht eingewiesen worden, ich war sozusagen freiwillig dort. Trotzdem. Ich wollte einfach nicht da rein.
Ganz so als hätte ich damals schon geahnt, dass hier
noch ein letzter klarer Treffer, ein letzter wirkungsvoller Schlag auf mich wartete.... einer der mich dann wirklich auf die Knie schicken würde.
Für Jahre.
Aber das wusste ich ja noch gar nicht. Vielleicht hab ich es ja trotzdem geahnt.
Egal.

So stand ich jetzt da, das Herz wund, der Kopf still, als wäre er nicht da, und die Sekunden wollten auch nicht vergehen - aussichtsloses Unterfangen.
Das jetzt zu verhindern.
Außerdem musste ich das jetzt auch mal ganz pragmatisch sehen - die Dämmerung kam schon deutlich um die Ecke, und auf Klo musste ich auch...
Also hab ich einmal tief durchgeatmet.... und auf diese Klingel gedrückt.
Für einen Moment noch hätt ich weglaufen können ... aber dann ging schon die Tür auf - und die letzte Chance war dahin.
Ich nahm meinen Koffer und trat über die Schwelle. Trat ein.
Treppe rauf und am Ende des Ganges das Zimmer rechts. Doppelzimmer. Aber unbelegt. Mein Zimmer wär noch nicht frei, aber bald. Bis dahin hier. Ob ich noch was essen will? Ich schüttel den Kopf. Ob ich noch was brauch? Ich schüttel den Kopf. Gut, dann bis morgen. Ich nicke. Unten im Untergeschoss ist der Speisesaal, da gibt's ab 7 Frühstück. Toilette und Bad sind am andren Ende des Ganges - und nun Gut Nacht. Ich nicke wieder.
Und bleib wie betäubt zurück. Endlich allein.
Aber irgendwie macht es das auch nicht besser.

Ich bleibe erstmal ne ganze Weile da stehen. Wo ich stehen geblieben bin.
Es gibt keinen Ort, wo ich hinwill. Nicht in diesem Zimmer. Nicht in diesem Heim.
Ich bin so heimatlos.
So atemlos ohne Heim. In diesem Heim.
Ich hätte noch Stunden so gestanden. Wenn's nur nach meiner Stimmung gegangen wär. Aber erstens hab ich immer ganz schwache Beine bei so was. Und außerdem hab ich noch eine Blase - das hilft sehr im nicht einfrieren.
Und so setz mich mich seufzend in Bewegung. Und es stimmt eben einfach: wenn du drohst einzufrieren, dann setz dich in Bewegung. Das bringt auch Bewegung in dein erstarrtes Innere. Es ist so einfach. Man braucht gar keine Lösung. Man muss nicht erst irgendwas verstehen. Setz dich einfach in Bewegung. Dann bewegt sich was.
Egal was.
Alles ist besser als erstarrt sein. Leblos. Eingefroren.
Das ist nix. Nix Lebenswertes.
Nicht für mich.

nachtwind

Vorher hab ich den Stier noch schnell bei den Hörnern gepackt - und auf dem Weg kurzentschlossen an der Tür von meinem Zimmer gegenüber geklopft.
Himmel, was mach ich da??!! Was soll ich denn jetzt sagen??!!! Siedendheiss wird mir - das passiert mir öfters mal: da ergreift jemand in mir die Initiative -
und ICH werd da gar nicht erst gefragt! Muss das ganze dann auslöffeln! Na toll!
Aber meistens kommt ja dann der Satz doch genauso überraschend
aus irgendeiner Tiefe in mir, die ich nicht kenne.... und ich bin dann die Überraschteste überhaupt.
Diesmal genauso - ich steh noch siedendheiss durchglüht völlig ratlos vor den Mädels - und hau dann einen coolen Spruch raus. Völlig konträr zu dem, wie ich mich fühle. Aber mach ich halt. ,,Ich wollt mich nur schnell vorstellen - ich bin die Neue von gegenüber. Nicht dass ihr denkt, da ist jetzt ein Geist unterwegs, wenn wir uns nachts begegnen, auf dem Weg zum Klo." Ich weiß den Satz noch wie gestern gehört. So überrascht war ich. Von mit selbst.
Das erste Mal, als ich bewusst vor einer völlig neuen Gruppe stand, war in Windhoek vor meinen Mitschülern stand. Ich wusste nicht, dass da was schief laufen kann. Deshalb geh ich mal davon aus, dass bei meiner Einschulung alles im Rahmen blieb.
Diesmal dann aber jetzt mal so gar nicht! Sowas von garnicht!!!!
Das war dann schon eher Richtung Qual. Ich weiß nicht mehr genau, aber über ein Jahr... vielleicht auch zwei. Jeden Tag dieses ,,wann haust du endlich wieder ab!", ,,wann gehst du endlich wieder dahin, wo Du hingehörst?!", ,,wann ersparst du uns endlich, dich ertragen zu müssen" - so Zeugs halt.
Wer? Die ganze Klasse!
So kam es mir zumindest vor. Ich war mir sicher.
Es war wohl nicht so.
Aber so Gedanken konnte ich mir erst machen, als es - wieder mal völlig überraschend! - vorbei war.
Es hat mich schon ziemlich zermürbt irgendwie - zu Hause die besoffene Mutter, die natürlich gar nicht klarkommen konnte mit dieser großen Veränderung ihrer Welt  ( das war ja neu in meiner Wahrnehmung grad erst aufgeploppt: dass sie Alkoholikerin ist) - und in meiner Schule, meiner Klasse diese laute Ablehnung.
Ich wusste auch gar nicht wieso?

Ich glaube, einen Druck hätt ich ausgehalten, aber beide gleichzeitig... dafür war ich nicht stark genug.
Ich war schon oft furchtbar garstig zu meiner Mutter. Mittags. Wenn ich aus der Schule kam. Alle haben darunter gelitten. Am meisten sie.
Nach dem Mittagessen, wenn mein Vater und meine Schwester ihrer Wege gingen, dann hab ich sie regelmäßig gekriegt. Mit allem, was grad zur Hand war , für sie.
Meistens konnte ich dem standhalten. Aber manchmal eben nicht. Dann bin ich unter den Esstisch gekrochen. Da hatte ich meine Ruh.
Ich hab mich geschämt dafür... sehr. Aber manchmal konnte ich einfach nicht mehr.
Unter dem Tisch - das war zu anstrengend für sie....
einmal nicht.
Das vergesse ich nie.

Sie hat mich geschnappt - eine Hand am Hosenbund, die andre am T-shirt bei den Schultern - sie war außer sich vor Wut, sonst hätte sie die Kraft gar nicht gehabt dafür... aber da hatte sie sie - Kraft ohne Ende! Gespeist aus der Wut.
Sie hat mich ein paar Schritte weggeschleift - hin zu der Wand.
Und dann hat sie losgelegt. Immer vor und zurück. Mit dem Kopf gegen die Wand. Immer vor und zurück auf den Knien... rammbamm!! mit dem Kopf gegen die Wand. Zurück - und mit Schwung wieder rammbamm! Ganz regelmäßig.

Erst hab ich meine Hände versucht vor den Kopf zu bekommen, aber das war keine gute Idee - den Kopf schützten die Hände jetzt auch nicht, die sind viel zu knochig - das hätte höchstens noch ne gebrochene Hand dazu eingebracht.
Also Hände wieder runter... und der Wand zuschauen, wie sie zurück - und wieder vorschnellt... zum Schluss hab ich die Augen zugemacht. Ich wusste ja, wann sie kommt - es war ja rhythmisch. Gewartet, dass es aufhört.
Und plötzlich wird mir eiskalt klar - das ist nicht einfach nur rhythmisch - sie ist in einem Flow!!! Sie hört nicht mehr auf!! Da war keine Wut mehr, nichts, was sich erschöpfen kann. Da war nur noch ein ruhiger, glasklarer Flow.
Ich WUSSTE, dass sie das jetzt genießt. Ich WUSSTE es einfach.
Ab da wurde es schlimm. Richtig schlimm.
Ich wusste, sie wird nicht aufhören.
Und ich kann nichts mehr tun.
Und die Wand war so dick.
Es war eine Burg. Mit riesig dicken Wänden.
Auch da
war keine Hilfe in Sicht.

Weiß nicht mehr wie lang das so ging - ich weiß nur noch, wie es endete. Jendrina, ganz vorsichtig und ganz verängstigt, traute sich nicht in die Tür. Aber sagte, ganz leise und voller Furcht, ,, es ist Besuch da, Missis!" Und als keine Reaktion kam: ,,Soll ich sie reinlassen?"
Und so lange wie man braucht um vier mal einzuatmen, wenn man außer Atem ist, war jetzt Ruhe. Nichts als Ruhe.
Wir alle drei haben einfach nichts mehr getan.  Aus drei verschiedenen Gründen.
Aber gemeinsam. Nichts mehr getan. Nur noch geatmet. Und gewartet.
Was jetzt wohl geschieht.
Wir alle drei.

Dann hatte meine Mutter sich gefangen. War wieder gefangen
in ihrer Realität. Hat nach nochmal vier hastigen Atemzügen sich wieder neu sortiert.
Und ließ mich los. Und ging ganz langsam in die Küche. Ich hab noch gehört, wie Jendrina vor ihr flüchtete, ganz hastig... sie war ja noch ungeschützter als ich. Was muss sie für eine Angst gehabt haben!

Jendrina war unsere Hausbedienstete. Jeder weiße Haushalt hatte eine oder einen... natürlich immer schwarz. Unser erste war Otto, riesengroß, glänzend tiefschwarz - und so freundlich! So warmherzig freundlich. Ich hab ihn sooo gemocht. Ich glaube, er war ein Herero.
Dann hatte er Malaria - und meine Mutter wollte ihn pflegen. Das war ihre Leidenschaft. Rot Kreuz. Ich musste immer mit.
Die Hausbediensteten wohnten nicht im Haus. Sie brauchten ein eignes Hüttchen. Neben der Burg war das sogar ein gemauertes kleines Häuschen.
Da lag er nu da. Noch glänzender. Und das Weiß in seinem Auge war ganz gelb.

Ich glaube nicht, dass wir ihn gut gepflegt haben. Aber er hat es überlebt.
Dann musste er weg. Vermutlich zu schwach, um noch von Nutzen zu sein.
Und Malaria kommt ja immer wieder. Also weg mit ihm.
Kam Absalom. Ich glaube ein Nama. Aber ich bin mir nicht sicher. Der war kleiner. Und brauner. Und er war lustig. Und konnte gut zeichnen. Aber so freundlich wie Otto war er nicht.
Er blieb nicht lange.

Er durfte nicht mehr in dem Häuschen wohnen - wegen der Malaria. Damit er sich nicht ansteckt. Ich fürchte, das ist auf dem Mist meiner Mutter gewachsen.
Wohin dann also mit ihm? Im Haus durfte er nicht, das war verboten. Im Häuschen durfte er auch nicht, da war der Malaria-fluch wohl drinnen.
Das Gelände war groß. Daran war kein Mangel! Man hätte problemlos 20 Häuschen bauen können. Und es wär immer noch Platz für Gärten gewesen.
Aber mein Vater gab nicht gerne Geld aus. Und so kam er auf die Idee, einen der beiden Liftvans, in denen unser Möbel per Schiff nach Windhoek gebracht worden waren, und die auf unserem Gelände so rumstanden, als Häuschen zu erklären.
Das war eine drei mal drei Meter große Kiste. Aus Holzlatten als Gerüst und drumrum sowas wie Alufolie, nur eben stabiler. Dünnes Blech.
Kein Fenster, keine Türe - die Vorderseite als Ganzes war die Türe. Kein Klo, kein Wasser, kein Strom, nix.
Zur Erinnerung: es kann sehr heiß werden in Namibia. Und nachts dann kalt.
Ja.
Es hilft nix -
ich schäme mich bis heute dafür.

Und da bedeutet es auch nichts, dass ich ein Kind war und bla - ich war ein weißes Kind aus einer weißen Familie, da kann sich niemand hinter jemandem verstecken. Auch kein Kind nicht.  Da zählt keine individuelle Schuld oder Nichtschuld - da zählt nur noch, wo zu du da gehört hast.
Und ich habe zu einer weißen Familie gehört.
Die ihre Hausbediensteten in einer Umzugskiste aus Blech wohnen ließ.
Punkt.
Und dafür schäm ich mich. Bis heute. Tief.

Und dann kam Jendrina. Sie war eine Bastaad. Das ist jetzt kein Stamm an sich - das sind all die, die eigentlich nicht sein durften. Mutter schwarz, Erzeuger weiß - strikt verboten! Bei strenger Strafe. Sie waren eine große Gruppe. Deshalb hatten sie einen eignen Namen. Und eine eigne Gegend.
Jeder hatte ein eignes homeland zugeordnet bekommen. Und ohne schriftliche Erlaubnis durfte man das auch gar nicht verlassen. Erlaubnis gab es nur für Arbeit.
Otto musste auch zurück in sein homeland. Ich wünschte so, es sei ihm ein bisschen gut gegangen. Dort. Er war so warmherzig und freundlich. Trotz allem. Er war gut zu mir. Trotz allem. Warmherzig, freundlich, gut... Otto.

Jetzt hab ich Tränen in den Augen. Und im Herzen.
Otto.
Ich geh mal ne Runde spazieren.





Sucre

Zu lesen, was deine Mutter mit dir gemacht hat ... unfassbar.
Man möchte was dazu sagen, aber man kann nichts dazu sagen, weil es keine Worte dafür gibt, wenn einem Kind so etwas angetan wird, einfach nur unfassbar.

Umso größer finde ich es, wie du hier schreibst, sei es deine eigene Geschichte, sei es wie du anderen hier schreibst.
Ich kenne dich nicht, aber aus deinen Texten lese ich, als ob du trotzdem Liebe geben kannst und gut zu anderen Menschen sein kannst.
Nachtwind, ich finde es so, so ... mir fehlen die Worte, als erstes fällt mir wahnsinnig ein, im positiven Sinn ...
ich finde es so wahnsinnig, dass du Liebe in dir tragen kannst. Und so unfassbar stark (von deiner Seite), dass deine Mutter es nicht geschafft hat, dir all das, was du gutes in deinem Kopf und vor allem in deinem Herzen hast, gegen diese Wand zu hauen. Auch wenn der Schmerz sicher unfassbar groß war, innen wie außen.

Ich ziehe mit aller Achtung meinen Hut vor dir.

Kein Kind sollte so etwas erleben müssen.

nachtwind

Jendrina also flüchtet raschelnd in die Küche, meine Mutter geht auch dorthin, ich hör sie reden. Erst mit Jendrina. Dann mit der Besuchsfrau.
Und ich?
Ich lieg da. Auf dem Boden vor dieser dicken, dicken Wand. Ziemlich betäubt.
Ich glaub, ich habe nichts gedacht. Gar nichts. Ich glaub, das geht tatsächlich. Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber ich glaube...

Bis, ja bis dann ein Gedanke in mir Gestalt annimmt - und immer bedrohlicher wird... bis ich in Panik gerate. Blitzschnell.
Sie wird ja mit dem Besuch hierher in's Wohnzimmer gehen!!!
Ich darf hier nicht liegen!!!
Ich muss hier weg!!

Und dann das jähe Entsetzen - ich kann meine Beine nicht bewegen!
.....
Immer noch nicht
....
Ich muss hier weg!!!

Also robbe ich mich mit meinen Ellenbogen so flink wie es nur irgend geht, also schwerfällig, die paar Meter bis hinter den schweren Vorhang. Der das Wohnzimmer trennt vom Treppenhaus zum Turm.
Schaff es grad so. Vergewisser mich noch, dass auch die Füße nicht mehr sichtbar sind. Puh! Grad so geschafft. Sie kommen in's Wohnzimmer!
Setzen sich und plaudern.

Und ich lieg nur einen Vorhang getrennt von ihnen, mit hämmerndem Herzen, versuche so leise wie möglich zu atmen. Und mich sachte, ganz behutsam und leise, Zentimeter für Zentimeter Richtung Treppe zu robben.
Ganz leise. Ruhe. Nur Ruhe.
Die tut mir gar nicht gut. Irgendetwas in mir will weinen. Je mehr Ruhe, desto stärker der Trieb zu weinen... das geht jetzt nicht! Ich bin viel zu nah...
Und da kommt mir der zweite Panikgedanke - was, wenn sie hier rausgehen? Durch die eigentliche Haustüre. Die nur niemand nutzt. Weil man auf das Grundstück kommt, wo die Küche eben ist. Und deshalb eben durch die Küche in's Haus gelangt.
Aber rausgehen.... meine Mutter gibt gern an mit allem Prächtigen, das wir haben. Und in einer Burg wohnt mal niemand so schnell. Und einen richtigen Eingang hat sie ja auch, die Burg. Kann man auch beeindrucken mit.
Er ist zwar klein, der Eingang. Aber er hat ein Bild auf dem Putz gemalt, ganz groß. Eine Bulldoge.
Wer hat das schon?!

Was wenn?!!
Jetzt könnt ich wirklich fast laut losheulen. Ich kann nicht mehr!! Ich dachte, ich hätte es geschafft!
Aber das vergeht ganz schnell. Ich muss jetzt hier auch noch weg. Irgendwie!! Stell dir vor, die gehen hier raus und ich lieg da!!!! Wie sieht das denn aus?!!
Das verzeihen sie mir nie!!!!!

Also hoch, die erste Treppenstufe. Es ist eine Holztreppe. Sie knarrt.
Ich versuche krampfhaft nicht zu stöhnen. Deswegen.
Und weil ich nicht weiß, wie man eine Holztreppe hochrobben kann.
Ohne Krach.

Aber es geht. Stufe für Stufe ziehe ich mich mit den Ellenbogen hoch. Und schleife meinen unnützen Unterleib hinterher.
Zwischenzeitlich horch ich immer wieder, ob sie sich noch sitzend unterhalten. Oder schon aufgestanden sind.
Es sind nicht viele Meter zwischen uns.
Das spendet mir neues Adrenalin. Zwischendurch denk ich immer wieder, ich schaff es nicht. Versuch es mit andrer Technik. Klappt nicht. Back to the Ellenbogen. Aber das Horchen reicht. Neues Adrenalin, neue Kraft.
Ich erreich den Treppenabsatz, wo die Treppe sich wendet. Und weiß, jetzt nur noch meine Beine irgendwie da rumschleppen, und dann darf ich ausruhen. Da sieht mich keiner.
Und entdecke zu meiner grenzenlosen Verwunderung, dass ich meine Beine wieder bewegen kann.
Nicht wirklich. Aber schon. Ein bisschen.
Und so krabbel-robbe ich um die Ecke -
und dann immer weiter nach oben... krabbelnd geht es viel leichter. Jetzt mach ich Nägel mit Köpfen! Jetzt hau ich mich auch ganz raus aus dieser Geschichte! Das schaff ich jetzt auch noch! Dahinter ist dann
wirklich Ruh.
Es geht mühsam, aber viel besser als nur mit den Ellenbogen und dranhängendem Unterleib. Und von Mal zu Mal, von Stufe zu Stufe werd ich wieder geschickter.
Oben kann ich dann wirklich krabbeln.
Und krabbel in mein Zimmer. Zum Bett. Zieh mich auf's Bett.
Geschafft!!!
Himmlischer Schutz. Mein Bett!
Ich atme auf. Und schlafe gefühlt augenblicklich ein.
Himmlische Ruhe...
auch für mich, sogar für mich...

Als könnte ich jemandem mein Leben in die Hand drücken
und sagen: Trag du's.... Ich kann's nicht mehr
und dieser jemand nimmt's in seine guten Hände
und steht ganz ruhig da
und ich weiß, ich muss nicht sagen: pass gut auf es auf,
denn das tut er
steht die ganze Zeit da
und passt auf
bis ich wieder aufwach...
irgendwie so.


nachtwind

hey Sucre...
sagen die Jungen nicht sowas wie ,, fühl ich"? ,, Ich fühl dich"?
Das kam mir in den Sinn, als ich deine Gedanken gelesen hab - ich fühl dich.
Weiß gar nicht , was genau das für die Jungen  bedeutet... ich hab's einfach wörtlich gemeint.
Du hast da grosse Felder aufgemacht, mit deinen Gedanken... für mich zumindest sind es große Felder:
- kein Kind sollte so etwas erleben müssen
- als ob du trotzdem Liebe geben kannst und gut zu anderen Menschen sein kannst
- auch: zu lesen, was deine Mutter mit dir gemacht hat ... unfassbar

Zum Letztem - ich hab eh schon das Bedürfnis gehabt, meine Mutter nicht so allein und schutzlos im Regen stehen zu lassen... ganz so einfach ist diese Geschichte auch nicht. Auch wenn sie in Geschichten aus meiner Sicht nicht gut aussieht. Und das schon auch wirklich zu Recht.
Trotzdem liest sich ihre eigne Geschichte nicht so eindeutig. Da ist auch viel Kummer drin. Sie hat eigentlich nur versucht, ,,das Richtige" zu tun.
Und ist daran kaputt gegangen.

Das mit der Liebe... Du brauchst mich nicht bewundern dafür, sucre... das war keine Leistung von mir - überhaupt keine einzige, sucre - sie war einfach da.
Von Anfang an. Bis jetzt.
Warum, das weiß ich nicht. Ich hab mich das auch immer wieder mal gefragt, in unterschiedlichen Phasen meines Lebens. Also weniger die Frage nach der Liebe, mehr die Frage nach dem Leben... für mich ist das ganz nah beieinander, sucre. Ohne Liebe kann ich doch nicht leben - wieso leb ich dann noch? Warum bin ich nicht gestorben?
Also nicht jetzt, warum hab ich mich nicht umgebracht. Das ist eher verstörend für mich.  Ganz im Gegenteil.
Es muss doch Liebe dagewesen sein! Sonst hätte ich doch nicht überlebt.
Also eben nicht als Vorwurf meinem kleinen Kind in mir gegenüber - ganz im Gegenteil, auf der Suche nach der Liebe. Die doch in meinem Leben gewesen sein muss.
Denn ganz ohne Liebe stirbt man doch.

Ich habe an eine liebevolle Hebamme gedacht. Die mich vielleicht in Empfang genommen hat. Oder eine Kinderkrankenschwester im Krankenhaus, die ein bisschen Liebe auf mich hat streuen können. In der kurzen Zeit.
Das war mir lange ein großer Trost. Mir das vorzustellen.
Und hat mich fast weinen lassen. Gleichzeitig.
Innig halt.

Ich hab auch eine Zeit lang mir vorgestellt, es wär ein Engel bei mir gewesen. Und der habe mich geliebt. Wenn keiner ihn sehen konnte. Habe der mich einfach im Arm gehalten. Und mich angelächelt.
Das war mir so ein warmer Trost. Mir das vorzustellen.
Und hat mich auch weinen lassen. Gleichzeitig.

Wenn's innig wird, ist immer beides ganz lebendig da:
warm durchflutende, innige halt, Freude
und gleichzeitig leise tiefe, innige halt, Traurigkeit, die aufsteigt vom Bergsee der Trauer in uns.
Das lässt uns weinen und lächeln zugleich.

Ich will auch nicht ausschließen, dass es so gewesen sein kann.
Und das mir das gereicht hat.
Um zu leben.

Es ist mir immer noch ein guter Trost.

Aber ich glaube, es gibt da auch noch die Möglichkeit, dass da einfach
die Liebe schon da war. In mir. Als ich das Leben begann.
Und deswegen
lebe ich.
Weil sie die ganze Zeit da war.
In mir.
Und ich
damit in ihr.


Ich glaube, der Mensch ist ein hochkomplexes Wesen.
Woraus besteht er - allein das schon macht mich schwindelig. Es ist zu anspruchsvoll zu denken. Für mich.
Allein schon dass es - egal wieviel Menschen es gibt, es keine zwei gleichen DNAs gibt.
Das allein lässt mich schon fassungslos zurück. Wie kann das sein? Wir sind alle miteinander verwandt - und trotzdem ist nicht ein einziger
so wie ich.
Als Kind hab ich mir versucht vorzustellen, wie die Unendlichkeit ist.
Ich bin grandios gescheitert. Es hat mich zu schwindelig gemacht.
Und so geht es mir auch mit den Menschen. Was es da für einen unermesslichen Vorrat an Möglichkeiten geben muss. Unendlich viele Möglichkeiten. Obwohl wir alle doch verwandt sind.
Ich kann das nicht denken.

Es gibt die Gene. Jedes Kind hat andere. Schon da ist die Möglichkeit unendlich.
Wo und wie und in welchem Zusammenhang auch die Liebe plaziert sein kann.
Denn Gene bestimmen ja nicht nur den Körper. Der Körper ist nicht denkbar ohne Gefühle. Ohne Charaktereigenschaften. Ohne Begabungen. Und Schwachstellen.
Ich hatte meine beiden Kinder im Arm. Frisch geboren. Und konnt mich nicht sattsehen. An diesem Wunder. Und ich hab ihre Augen hin und herflitzen sehen. Im Schlaf. Und ich hab mich gefragt - was um Himmels Willen träumen sie jetzt?? Sie haben doch noch nichts gesehen. Träumen sie Farben? Oder Licht, das von allen Seiten kommt? Die Augen flitzten so hin und her, bei beiden.
Haben sie wirklich schon so viel gesehen? Oder träumen sie auch im Bauch schon? Aber was träumen sie denn dann?
Ich weiß es nicht.
Ich weiß, dass der Mensch träumen muss. Um sein Gehirn zu entwickeln.
Aber was frisch geborene Menschen träumen - und wie - das frag ich mich immer noch.
Vielleicht kommt es schon da zu Synapsen, die sich bei dem einen so - und dem andren ganz andres verbinden. Und vielleicht kann auch schon da
die Liebe sich ganz unterschiedlich verankern, in jedem Menschen anders?

Und dann trifft der Mensch ja auch noch auf seine Umwelt. Und wieder gibt es vermutlich unendlich viele Möglichkeiten, wie jeder Mensch anders
auf diese dann reagiert.

Da ist mir einfach überall zu viel unendlich drin - da bin ich zu einfach gestrickt.
Da kapituliere ich. Das kann ich nicht durchdenken.

Aber eins weiß ich : wir sind nicht das, was mit uns gemacht wurde.
Wir sind das, was wir erlebt haben.
Und ein und dieselbe Geschichte erlebt der eine so - und der andere völlig anders. Der eine zerbricht daran vielleicht, und den andren hat vielleicht was ganz andres davon beeindruckt.
Es ist alles so vielfältig.

Aber eins weiß ich: dass da Liebe in mir ist, das ist nicht meine Leistung.
Das ist einfach so.
Vielleicht war's die Hebamme, vielleicht die Säuglingsschwester... vielleicht ein Engel - oder die Liebe selbst, die sich in einer ganz eigenen Art in mir mit mir verbunden hat.... Eine aus der unendlichen Menge an möglicher Mutation...
Keine Ahnung.
Aber sie war immer da.
Ohne jedes Zutun von mir.

Das einzige, was ich irgendwie dann doch dazu getan hab -
ich hab sie ausgehalten.




 Und jetzt sitz ich hier in meiner Küche, es duftet noch nach Linsensuppe und ich hab es trocken und warm. Nebenan wartet ein weiches Bett auf mich, aber ich sitz noch da und denk jetzt mal nicht über dies und das nach, sondern denk an dich. Auch in mir drinnen ist es warm, wie ein kleines ruhiges Lagerfeuer...
und ich stell mir vor, wir beide sässen jetzt an einem kleinen ruhigen Lagerfeuer... du setzt deinen Hut wieder auf und wir beide lächeln darüber. Weil es jetzt wieder richtig ist. Und dann schauen wir wieder in die Flammen. Und jeder denkt so seins vor sich hin. Und manchmal sagen wir was. Und manchmal ne ganze Weile nix.
Da ist Frieden im Kreis des Lagerfeuers. Und wir sind dadrinnen. Jeder für sich. Und doch gemeinsam.
Und dann sagt eine: ,,das haben wir alle."
Und die andre: ,,mmhh..." und nach ner langen Weile: ,,was? Ausgehalten?"
Und die eine wieder ,,mmhh...".
Und nach noch einer Weile sagt eine von beiden: ,, kann man schon mal den Hut ziehen vor uns allen!" und die andre findet das auch
und dann ziehen wir beide mal den Hut. Vor uns allen. Uns allen allen.
Und dann setzen wir ihn wieder auf, wir lonesome Cowgirls an unserem Lagerfeuer.
Und finden uns richtig gut!

Das wär schön. Finde ich.

In dem Sinne gut Nacht!
hey :-)

nachtwind

Weißt du, sucre, ich denke, wir alle tragen eine, unsre Last... wir alle kämpfen unsren eignen Kampf... wir alle haben unsre Träume... wir alle haben unsere Glückseligkeiten... - ich glaube nicht, dass das große Unterschiede macht, egal was wir erlebt haben.
Wir wissen nur nicht von dem der anderen.
Wir kennen die Geschichten nicht. Die geschehen sind. Und genauso wichtig: wie der Mensch gestrickt ist. Der sie erlebt hat.
Aus dem Zusammenspiel könnten wir dann unsre Schlüsse ziehen. Was die Lebensleistung angeht.
Ich glaube, jeder würde unseren Respekt verdienen.

Gut jetzt nicht jeder - Lady Paukenschlag möchte ich schon noch ein bisschen länger doof finden können.
Ich finde, jeder Mensch braucht auch ein paar Leut, die er doof finden kann. Allein schon wegen der Ausgeglichenheit.

Aber rein theoretisch natürlich auch sie.
Ich hör dann einfach nicht zu, weil ich zufällig grad auf's Klo muss, wenn sie erzählt. So geht das dann auch.

Was ich eigentlich sagen will:  nicht weil man eher krasse Geschichten erlebt hat, ist man automatisch schwerer gestört als andre mit subtileren Geschichten.
Leben ist keine mathematische Linie. Dollere Geschichte ist gleich dollere Schäden. Weniger dolle Geschichten ist gleich weniger dolle Schäden.
Ich kann es nicht beweisen, aber das sagt mir meine Lebenserfahrung.
Es ist nicht so simpel.
Der Mensch ist ein komplexes Wesen. Siehe oben. Hochkomplex!
Und dann kommt ja auch noch dazu, was das Leben so macht mit einem. Gleichzeitig. Das
kann dann alles nochmal drehen!

Als ich nach meinem Jahr Einsiedelei in den Bergen
in die großen Städte zurückkehrte, stand ich an meinem ersten Abend vor dem damals glaub ich einzigen Hochhaus in Köln. Ein schickes Hochhaus. Mit schicken Bewohnern.
Ich schau es so an, und dann kommt ein Gedanke hoch in mir, woher auch immer der jetzt wieder hochkam - und der ging so: viele von denen, die hier wohnen, haben wahrscheinlich genau dasselbe wie du durchgemacht. Der Plan geht nicht mehr weiter, hat sich ausgeplant... wohin jetzt geht die Reise?!
Nur haben sie das unspektakulär durchgemacht. Sind weiter in's Büro gegangen, haben vielleicht die Beziehung noch ein ganzes Jahr daneben gelebt... sie haben grad so weitergemacht wie bisher - und haben doch gleichzeitig genau so eine Krise durchlebt...
und mit einem Mal kam ich mir richtig privilegiert vor.
Da war mit einem Mal all das Ungeschickte, was ich so gar nicht an mir leiden konnte, das Ungeschickte, weil ich einfach nicht wusste, wie das geht: leben ....
da war mit einem Mal mein großes Handikap
gleichzeitig ein Privileg auch.
Eben genau WEIL ich nicht wusste, wie das so geht, das Leben, musste ich mir alles selbst erfinden, wie das wohl gehen kann.
Und mir dadurch eben auch
eine etwas passendere Umgebung suchen
für so eine Lebenskrise.
Ich glaube, ich hatte es viel leichter als alle die, die das in ihrem Hochhaus, in ihrem Beruf, in ihrer vertrauten Umgebung durchleben mussten.
Es hat sich zumindest so angefühlt.
Wissen kann ich es ja nicht.

Ich weiß nicht, woher solche Sätze oder Gedanken kamen. Aber wenn sie kamen, wusste ich sofort: das ist wichtig.
Und weil ich so völlig ohne Orientierung war immer, hab ich sie mir eingesteckt wie einen Kompass.
Nicht, dass ich sie dauernd benutzt  hätte. Aber wenn ich nicht mehr weiter wusste, hab ich manchmal auf einen davon draufgeschaut. Und wusste wieder ein bisschen, wo ich war. Immerhin.


Und dann ist da noch der dritte Satz. Der mich berührt hat. Den du geschrieben hast.
Ich fühl ihn so.
Ich denk und fühl das so!
Das ist auch meine Reaktion auf all solche Geschichten. Und ich will auch nichts, nicht einen Zentimeter
davon wegnehmen. Nie.

Aber je älter ich werd, desto mehr versuche ich mich immer wieder auch zu erinnern, woher wir kommen. Um besser zu verstehen. Unsre Gegenwart.
Und wohin die Reise geht.
Wie gesagt, ich habe Enkelkinder. Und ich lieb sie sehr.
Die Zukunft kann mir nie egal sein.

Zwei Generationen vor mir, sucre, da war es normal, dass den Eltern ein Kind oder zwei als Kinder schon verstorben sind. Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie tief das geht.
Und doch gehörte es zum Leben dazu. Das musste man ertragen, wenn man leben wollte.
Und vor den zwei Generationen vor mir
alle andren auch.

Wenn eine Mutter auf's Feld musste, dann hat sie ihr Kind eingeschlossen in ihrer Hütte. Bis zum Abend. Stunde um Stunde. Wenn du Pech hattest, warst du das einzige Kind.
Wenn die Müllersfrau arbeiten musste, hat sie einen Pflock in die Erde gerammt und ihre Kinder angebunden. Wie Ziegen. An einem Bein. Damit sie ihr nicht in den reißenden Bach fallen.
In den Bergen mussten die achtjährigen schon den Sommer über das Vieh hüten. Oben auf der Alm. Ganz allein, sucre. Und ohne Schuhe. Und wenn es schlechtes, kaltes Wetter gab in den Bergen, dann sind sie in die frischen Kuhfladen gestiegen. Mit ihren nackten Füßen. Weil sie zumindest kurz
ein klein wenig warm machten.

Sie waren ganz allein jeweils. Mit den Viechern. Und mussten die richtigen Entscheidungen treffen. Ganz allein.
Bei uns gibt es noch alte Mönner. Die davon erzählen können.
Es waren Kinder, sucre. Ganz allein. Und Viecher machen nicht immer, was man so will von ihnen. Was jetzt ganz wichtig ist, dass sie das machen. Machen sie einfach nicht. Manchmal. Was dann?

Wenn es mehrere Kinder gab, mussten sie nach der Volksschule schon aus dem Haus. In's nächste Dorf, wenn man Pech hatte, in die nächste Stadt. In fremde Familien. In die Lehre. Oder in den Haushalt. Ohne sie zu kennen. Diese Menschen. Wenn man Glück hatte, waren sie nett. Und nett hieß, sie haben sie nicht geschlagen. Der Mann hat sie nicht angefasst. Sie haben immer zu essen gehabt wie die Familie. Und sie haben sie nicht betrogen um ihren Lohn.
Arbeiten von morgens bis spät abends. Mit zehn. Und einmal,im Jahr durften sie nach Haus. Kurz.
Die andre Oma meiner Enkelkinder, die hat das noch so erlebt, die musste in den Haushalt des Bäckers. Mit 12, glaube ich. Im Haus alles machen, in der Backstube helfen, die alte Bäckersfrau pflegen, die bettlägerig war... erst wenn alles fertig war, durfte sie zu Bett.
Meine Generation, sucre. Gut, Bayern halt!! Und Dorf! Aber trotzdem.

Wie du es drehst und wendest - es ist so gottverdammt nicht lange her... das alles.
Und das war nicht mal vorübergehend. Das war seit Jahrhunderten so. Und ja auch schon viel, viel besser geworden seitdem.

Was ich sagen will: ich glaube, der Mensch ist so gemacht, dass er so was alles aushalten kann. Ohne zu zerbrechen. Als Kind.
Kinder sind viel stärker, als wir denken.
Versteh mich nicht falsch, sucre - ich bin gottfroh, dass das nicht mehr meine Kinder erleben mussten!!
Und nicht einen Zentimeter weich ich ab von unsrem Fels: das sollte ein Kind nicht durchstehen müssen!
Die andre Seite derselben Medaille ist, glaube ich:
aber es kann es!





nachtwind

Und ja - meine Mutter...
ich kenne jetzt nicht alle 8 Milliarden Menschen näher, aber ich denke schon, dass ich sagen kann: sie gehört zu der großen Gruppe der einsamsten Menschen auf diesem Planeten...

Geboren 22 in einem Dorf in Pommern, der Vater ein ,,großer, stattlicher Mann", Chef der Feuerwehr, was auf dem Dorf einen Stellenwert wie ein Bürgermeister hat; was er beruflich gemacht hat, hab ich nicht erfahren oder vergessen. Überzeugter Nazi.
Ich kannte sie beide nicht, weder ihn noch die Oma... war ganz auf die Erzählungen meiner Mutter angewiesen. Ich habe ein Foto von den beiden, mehr nicht. Von ihrer Mutter hat sie nicht viel erzählt, von ihrem Vater immer mal wieder.
Als Hitler die Macht ergriff, war sie 11. Sicher keine Überraschung, dass sie begeistert vom BDM war (Bund Deutscher Mödchen, einer straff organisiertenJugendbewegung der Nazis, das weibliche Pendant zur HJ, der Hitlerjugend). Begeistert waren viele - sie war glaub ich viel mehr. Sie war glühende Anhängerin. Zumindest glühte sie, wenn sie davon erzählte.
Genauso wie es klirrte und glühte gleichzeitig, wenn sie ihre Leidenschaft, das ,,Rot Kreuz", ausleben durfte.
Mit leuchtenden Augen und elektrisierte Stimme davon erzählte, wie sie einem Soldaten, dem ein Bein abgerissen war, mit einem Damenstrumpf den Stumpf abband. Auf der Flucht.
Ich hatte keine Ahnung von Hitler und dem Krieg und Flucht. Zu der Zeit, als sie mir solche Geschichten erzählte. Ich konnte es nirgends einordnen.
In Namibia gab es keinen Geschichtsunterricht, was das anging. Damals hieß Namibia auch nicht Namibia - Südwestafrika hieß es. Unter den Deutschen immer noch Deutsch-Südwestafrika. Und sie hatten keinerlei Interresse daran, da etwas daran zu ändern.
Ich kannte nur ihre leuchtenden Augen - und die ergriffene Stimme, wenn sie sagte: ,,heut hat der Führer Geburtstag".
Das einzige, was mein Vater dazu sagt, war ein: ,,aber Ursel!" - wie immer wenn sie sich aus seiner Sicht danebenbenahm. Und danebenbenehmen hieß für ihn: den Gefühlen nachgeben.
ZB wenn sie aus dem Rollstuhl aufsprang und weglief, wenn wir sie zur Entgiftung in's Krankenhaus brachten, mein Vater und ich. Er sagte dann sein ,,aber Ursel!". Und blieb kopfschüttelnd stehen. Während ich und ein Pfleger ihr hinterherrannten und sie wieder einfingen. ,,aber Ursel!" war sein Beitrag. Hier wie dort. Mehr nicht.
Es ließ sich nichts daraus herauslesen.

Und nachfragen durfte man nicht. Wie zum Thema Apartheid.
Das war einfach so. Punkt.

Ich kannte nur ihre glühende Begeisterung, wenn sie erzählte, von Dorffesten, an denen es natürlich Schießstände gab - und sie so geschickt war darin! Wie stolz sie war! Und eine Rampe, über die man fahren konnte, mit einem Motorrad - und springen dann mit dem Motorrad und im Flug eine Wurst mit dem Mund von einer Leine abbeißen, an der sie hing - sie war ein Teufelsweib darin, wie sie so erzählte. Es waren so ihre Momente, in denen sie echte Achtung und Anerkennung empfangen hat, glaub ich. Deshalb war das so besonders für sie.

4 Jahre nach ihr wurde ihr Bruder geboren.
Und er war behindert.
Ich glaube, sie wollte dem Vater den Sohn ersetzen.
Sie war sehr vaterbezogen.
Es ist möglich auch, dass die Mutter nicht mehr so belastbar war. Seitdem.
Und nur der Vater blieb. Als Liebesquelle. Als Bestätigungsquelle.
 
Wie auch immer - auf all ihre Probleme, die ich nicht kenne, und all die Probleme der Familie, die ich nicht kenne, auf all die Probleme
hatte sie eine lösende Antwort gefunden: Hitler!
Und die Nazis!
So wie andre in Religionen ihre Antworten finden. Genauso.
Sie war tief religiös nazigläubig. Mit tiefster Inbrunst
Nazi.

Ihr Vater wurde lange nicht in den Krieg eingezogen. Er hatte schon im ersten Weltkrieg gedient. Zuletzt dann aber doch.
Ich nehme an, er hat zu ihr gesagt ,,pass gut auf die Mutti auf!"
Ist natürlich reine Spekulation. Aber keine abwegige.
Die Mutter hatte noch mal 8 Jahre später nach ihrem Sohn eine Tochter geboren. Sie starb am selben Tag.
Vielleicht hat sie sich nie mehr erholt davon.
Wie gesagt, von ihr hat meine Mutter nie wirklich erzählt.
Ob er es nun so gesagt hat oder nicht - als mein Großvater in den Krieg  gezogen wurde, war meine Mutter 21,22 - ausgebildete Zahnarzthelferin. Und stark eingebunden in die weibliche Rot Kreuz Bewegung, die es gab.
Glühend Gläubige des Nazikults.
Was macht so jemand, wenn der Vater in den Krieg zieht.... und die Mutter (vielleicht) selbst Unterstützung braucht?
Und daheim ein behinderter Bruder lebt?

Sie hat es mir erzählt, in ihrem Suffkopp - ich weiß bis heute noch wo und wie das alles dort aussah... es hat sich festgebrannt auf meiner Festplatte.
Und kann nie überspielt werden.
Das blanke Grauen hat mich gepackt... Ich war ihm hilflos ausgeliefert.

Sie ist zum Hausarzt. Und hat ihn aufgefordert, ihren Bruder in die Euthanasie 
zu schicken.
...
,, und der hat sich geweigert!!! Da hab ich ihm gedroht!! Und ich musste ihm mehrfach drohen!! Dass ich es melden werd! Bis er dann endlich eingewilligt hat!!"
...
Ich höre ihre Stimme immer noch in mir - so empört!! Und so unfassbar stolz!!!
So unfassbar
Zum ersten Mal, seit ich hier schreibe, laufen mir die Tränen runter.

So unfassbar stolz





 

nachtwind



Und ja - natürlich hab ich das viele viele Jahre immer wieder neu angezweifelt. Es war ja auch nicht das einzige, was sie so erzählt hat.
Ich hatte jetzt keine Vergleichsmöglichleiten, aber ich nahm einfach mal an, dass Besoffene Geschichten erzählen. Nur Geschichten halt.
Nix echtes.
Aber diese eine ließ mich nicht in Ruh. Ich weiß garnicht, ob ich damals in der Lage war, das Entsetzliche darin wirklich zu erkennen, aber sie hat mich trotzdem nachhaltig erschüttert. Irgendwann hab ich es nicht mehr ausgehalten, und hab doch mal nachgefragt. Meinen Vater. Klar, wen sonst. Ob er denn etwas wisse - über den Bruder meiner Mutter.
Verärgerte Antwort: ,,es gibt gar keinen Bruder!"
Wenn es einen Bruder gegeben hätte, wüsste er davon. Er wisse aber nichts davon. Ergo
es gibt keinen Bruder.
Er war keine Hilfe.

Es verblüfft mich immer wieder, wie sehr ich mich weigere, das Naheliegende zu  begreifen.
Ich versuch mit aller Dringlichkeit, etwas zu verstehen - aber das Naheliegende?
Keine Chance.
Dabei bin ich nicht blind. Habe das Naheliegende durchaus im Blick. Und auch einiges an Handwerkszeug dafür.

Es ist, als nähere ich mich dem Naheliegenden mit einem Magneten - er soll es stark und sicher in mir verankern. Aber es ist, als halt ich den Magneten
mit der falschen Seite voran.
So zieht er das Naheliegende nicht wie erwartet in mich hinein, wo es hingehört, sondern stößt es nur immer wieder und wieder
im letzten Moment ab.

Mir ist, als müsste ich den Magneten nur umdrehen!
Aber ich weiß nicht richtig wie.

Die Geschichten, die sie am Essenstisch erzählte, von allen belächelte oder bekopfschüttelte Anekdoten von klein nachtwind halt,dass ich so lustig mit dem Kinn gezittert hatte, wenn sie mir die Flasche beim Trinken wegzog... so heftig, alle haben gelacht... aber das ging leider nicht lange, nach ein paar mal hintereinander hab ich den Kopf weggedreht und wollte partout nicht mehr.
Und dann war die Enttäuschung spürbar, wenn sie davon erzählte.
Krass, denk ich jetzt grad - war das ein Akt der Würde sogar? Sind Säuglinge denn dazu imstande? Oder einfach nur Schutz vor nicht mehr Erträglichem?
Ein Urbedürfnis runterregulieren. Weil es etwas gibt, was noch wichtiger ist als das Urbedürfnis?
Was wär das dann?
Zugehörigkeit?

Dass ich, sobald ich krabbeln konnte, den Mülleimer geplündert hab. Und alles in mich reingestopft hab, was ich da so fand. Schon eklig irgendwie.
Dass ich mit den Haarspängerles von meiner Schwester den Putz von der Wand geknibbelt hab und geschluckt. Und als mir unmissverständlich klargemacht wurde, dass das nicht geht, Ruhe einkehrte. Aber nur scheinbare. Denn irgendwann entdeckten sie ein Stück eingerissene Tapete, und darunter fein säuberlich versteckt ein großes Loch. Doch immer weiter gefuttert. Aber geschickt verborgen.
Erinnert irgendwie an einen Film über einen Ausbruch im Knast. Nur eben im Kleinformat. ;-)
Dass ich einmal mit meinem Gitterbettchen so vor die Türe gerutscht war, immer Kopf gegen die Gitter, dass meine Mutter und meine Schwester nach dem Einkaufen nicht mehr reinkamen.
Also wenn die Geschichte dran war, dann hab ich immer schon den Kopf eingezogen. Denn sie endete immer damit, dass mich alle anschauten. Mit tiefer Missbilligung.
Denn da musste man die Nachbarn holen. Zur Hilfe. Höchstsünde für meine Familie. Was sollen denn die Nachbarn denken?!  No-go Nr 1. Warum auch immer. Für mich nie nachvollziehbar. Vielleicht die natürlichen Folgen nach einem Leben unter einer Diktatur? Oder einfach typisch deutsch?

Bei all diesen eher Kleinigkeiten versteh ich es noch, dass es mir wegrutscht, immer wieder... kurz bevor ich es greifen kann. Ein Kind, denk ich, versucht zu verstehen, was für Werte herrschen. In der Welt, in die es hineinwachsen soll.
Da übernimmt man die Kommentare, Blicke, Deutungen. Von seinen Eltern. Von wem auch sonst. Als Kleinchen.

Schwieriger wird es, wenn es die Geschichten gewichtiger werden.


nachtwind

Ich muss noch sehr sehr klein gewesen sein, nach den Schilderungen meiner Mutter.  Da war es ihr eine große Freude, mich, wenn ich geweint hab, zum Stillschweigen zu überreden. Ich weiß nicht wie - aber sie konnte es. Beziehungsweise natürlich auch: ich.  Irgendwie hab ich es geschafft, mich runterzuregulieren. Es muss so etwas ähnliches wie eine Dressur gewesen sein. Es dauerte nämlich, bis ich es konnte.

Das klingt jetzt nicht so prickelnd. Aber ich denke, in der Geschichte der Menschen wird es immer wieder so Phasen gegeben haben, in dem genau das
überlebensnotwendig gewesen sein muss. Für die Gruppe. Dass Säuglinge nicht laut weinen.
In kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Stämmen.
Wenn Nomaden sich verstecken mussten.
Nachdem um die Jahrhundertwende 1900 die Nachtschichten eingeführt wurden, und die Arbeiter tagsüber schlafen mussten. Und die Wohnsituation ja oft hieß: alle in einem Zimmer. Oder Kleinstkinder in Krippen gegeben wurden, weil die Mutter arbeiten musste. Da gab es Opiumschnuller für die Kleinen, das weiß ich. Aber ob alle dafür Geld hatten?
Ich weiß nicht, wie die Indianer es schafften, bei Bedarf. Wenn Säuglinge nicht weinen durften. Oder die Stämme bei uns hier.
Aber irgendwie werden sie es geschafft haben.
Also ist der Mensch durchaus dafür gemacht, das zu schaffen. Das eigne Bedürfnis zu schreien runterzuregulieren. Um dem Stamm. Der Familie das Weiterleben zu ermöglichen.
Das wussten sie natürlich noch nicht. Aber die Notwendigkeit dazu spürten sie. Das musste reichen.
Und das reichte dann wohl auch bei mir.
Ich konnte es.

Als ich eigne Kinder hatte, fiel mir das wieder ein. Und ehrlich: ich hatte null, absolut null nicht einen einzigen winzigen Schimmer, wie sie das wohl irgendwie geschafft haben könnte. Es ist mir bis heute ein Rätsel! Ich hab so ne Ahnung. Aber ob es stimmt?
(Ich hätte schon gern das eine oder andre mal ganz gern gewusst, wie so was gehen kann. Nur so mal wissen. Ich hätt es ja nicht umsetzen wollen. Nur mal wissen...  Ich hab nicht einen einzigen winzigkleinen Hinweis gefunden. In meinen Kindern. Wie so was gehen könnte.
Na gut - wir haben es als kleine Familie auch so gewuppt. Mit Geschrei und Geweine... geliebtes Geschrei und Geweine. Im Nachhinein. Immer. :-) )

So weit noch alles im Rahmen der Herausforderungen. Für Säuglinge, die sich anpassen müssen. Der Mensch ist nicht als Insel geplant. Der Mensch muss, zumindest solang er klein ist, Teil einer Gruppe sein. Und er bekommt die Fähigkeiten mitgeliefert. Die er braucht. Um den Herausforderungen, die das mit sich bringt, auch gewachsen zu sein.

Aber, und jetzt wird's schmerzhaft - damit war es nicht zu Ende mit dem Lernen müssen. Dem mich anpassen müssen.
So wie sie es schilderte, durchaus nachvollziehbar.
Für mich als Säugling
nicht mehr.
Ich glaube, das hat mich schon extrem verwirrt.
Verstört, denk ich,  auch.

Denn - das ganze hör-jetzt-sofort-auf-zu-weinen-Gelerne hatte ja gar keine sachliche Notwendigkeit. Es diente ja nur dem Bedürfnis meiner Mutter, Kontrolle über etwas zu haben. Das Etwas war dann ich.
Ich hab es gelernt. Jetzt hatte sie die Kontrolle. Aber sie hatte nix mehr davon. Ich stellte wohl das Weinen von selbst ein. Sobald sie sich näherte. So hat sie es mir zumindest vermittelt.
Was also tun? Um wieder dieses gute Gefühl zu bekommen?
Aus ihrer Sicht verständlich. Aus meiner nicht mehr.
Sie brachte mich wieder zum Weinen.
Das war zuviel für mich, glaub ich. Ich erinner mich nicht daran, natürlich. Aber ich ahne die Gewalt des Zwiespaltes, in dem ich mich befand. Dadurch.
Ich mein, es hat mich schon viel Kraft gekostet, nicht zu weinen. Obwohl ich das dringende Bedürfnis danach hatte. Und jetzt quält sie mich so lange, bis ich doch wieder weinen muss? Obwohl ich mich doch mit aller Macht dagegen stemmen soll?!
Ich ahne, wie sie mich zum Verstummen gebracht hat. Ich weiß es nicht. Aber es gab so eine Geste, wenn sie es mir erzählte. Nicht nur einmal.
Ich glaube, sie hat mir einfach stark den Mund und Nase zugehalten.
Am Ende der Lernzeit hab ich wohl schon aufgehört, wenn sie nur in die Nähe kam. Ich sie nur hörte.
Das war dann wohl auch sehr befriedigend... aber eben nicht lang.

Wie sie mich dann doch wieder zum Weinen hat bringen können, das weiß ich . Ich hab's gesehen.