Kleine Hundeseele
Sind wir Funken? Glühwürmchen? Sternschnuppen? Tanzende Irrlichter über dem Moor der Zeit? Blendet unser Licht, erleuchtet es das Dunkel und Wirrwarr der Zeiten, weist es einen Weg, führt es in die Irre?
Der letzte Reim ist zerbrochen. Splitter und Scherben wollen nicht mehr zueinander finden. Niemand kann die ursprüngliche Form erkennen. Keiner ihre Reste zusammenfügen. Babylonische Wortfetzen in allen Sprachen. Sinnentleert und ohne Inhalt.
Leben wir? Oder sind wir längst tot und wissen es nicht? Unsichtbare Schatten einer bereits vergangenen Epoche? Werden all die Sterbenden um uns her geboren ins Licht der Wirklichkeit hinein, wir aber verharren trauernd im Tod und Dunkel der Illusion und des Trugs?
Der schwarze Hund zu meinen Füßen, was unterscheidet ihn vom Menschen? Wir behaupten ohne besseres Einsehen, er verfüge nicht über die Gabe des Denkens. Er wisse nicht um sein Selbst. Ja, er habe nicht einmal erkannt, dass er sei.
Woher nehmen wir die Gewissheit dieser Mutmaßung? Wir benutzen unsere Maßstäbe, um ihn zu beurteilen. Macht er es nicht ebenso mit uns? Wie wird wohl sein Urteil ausfallen?
Wir sprechen ihm die Gabe der Abstraktion ab? Was aber, wenn er sie einfach nicht braucht? Oder aber wenn die seine eine andere, uns verborgene ist?
Das Hündchen träumt. Es bellt im Schlaf, zuckt und zappelt mit den Beinen. Es erlebt. Sind seine Traumbilder von weniger Bewusstsein bestimmt als unsere? Ist sein Unterbewusstsein von weniger Gedanken durchsetzt als Unseres?
Wir wissen nicht, was in seinem Kopf vorgeht. Wir wissen so gut wie nichts von seinem Fühlen, Trachten, Sehnen. Wir sagen, er handelt instinktiv. Ist beherrscht von Fresssucht und Trieb. Was aber sind wir? Ich frage, was?!
Wir sprechen ihm jede Fähigkeit ab, spirituelle Welten zu erreichen. Kennen wir die seinen? Wissen wir um seine Religion, um seinen Gottesbegriff? Wie archaisch war unserer noch vor wenigen Jahrtausenden, wie entsetzlich ist er zum Teil heute noch? Woher nehmen wir die Gewissheit, seine Seele auf ein dumpfes Etwas zu reduzieren, woher diese Anmaßung?
Er kann Freude empfinden und Leid wie wir. Schmerz und Trauer, Begeisterung und Sehnsucht, Angst und Kummer wie wir. Er kann hassen. Und er kann lieben. Selbstlos und leidenschaftlich. Er ist uns ähnlich, mit uns verwandt. Beseelt und lebendig.
Wieso sagen wir, dass er nicht um seine Sterblichkeit weiß? Wissen wir das? Wir vermuten es, nichts weiter. Nichts, so gut wie Nichts wissen wir von ihm.
Wir verachten ihn wegen seiner Scham- und Zügellosigkeit. Er treibt es mit Verwandten, lässt keine Gelegenheit aus, beschnüffelt die Ausscheidungen seiner Artgenossen. Was aber lese ich Tag für Tag in der Zeitung? Und wo hinein stecken wir unsere Nase?
Er tötet grausam und ohne Gnade, wenn er kann. Wie aber gehen wir mit unseren Beutetieren, unserem Nutz- und Schlachtvieh um?
Er ist blutgierig und erbarmungslos, so er entfesselt. Ich beobachtee dasselbe Verhalten bei uns in den Nachrichten, Abend für Abend. Und doch, da ist ein kleiner Unterschied. Wir morden Unseresgleichen, wir töten Artgenossen.
Unser Leben, unsere Ethik, ist bestimmt von Verzicht und Selbstbeherrschung. Wir praktizieren sie, um zu überleben, weshalb sonst? Was aber wissen wir von seinem Verzicht und seiner Selbstbeherrschung?
Der Rahmen mag ein anderer sein, die moralische Leistung deshalb geringer anzusehen ist nichts als selbstgefälliges Gutdünken. Außerdem widerspricht dieses unser Urteil der Relativitätstheorie, also einem wesentlichen Bestandteil unserer sogenannten Erkenntnis.
Was also unterscheidet mich wirklich von meiner liebgewonnenen Hündin? Ist es lediglich der Dünkel der Überlegenheit, der mir dabei hilft, die eigene Erbärmlichkeit besser ertragen zu können?
Oh ja, wir haben uns die Erde untertan gemacht. Wir taten es mit rücksichtsloser roher Gewalt, ohne Gnade und Gewissen, mit entsetzlicher Zerstörungswut und Grausamkeit. Und, so frage ich, warum tun die Tiere nicht dasselbe mit uns? Sind sie es am Ende, die uns überlegen sind, irgendwo tief in ihrem Innersten Wissende und Verstehende, auf einer Ebene, die wir längst verloren oder nie besessen haben?
Ich weiß es nicht. Ich erziehe. Auch Menschenkinder müssen erzogen werden. Der Unterschied ist nicht allzu groß. Und der Erfolg ebenso ungewiss.
Bei genauer Betrachtung kann ich nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob es nicht vielleicht umgekehrt ist. Ich werde von ihr erzogen. Hundgerecht gemacht sozusagen. Nach ihrem Bild geformt und erschaffen. Ihr Kompromiss ist der Gehorsam, ein Verhalten, dass ihr auch im Wolfsrudel abverlangt wäre.
Wer also lernt eigentlich von wem? Und wer beherrscht, manipuliert, konditioniert, dressiert wen? In jedem Falle ist mir der Gedanke, die Krone der Schöpfung zu sein, verhasst. Und ich fürchte, sie nutzt das gnadenlos aus...
Wie dem auch sei, ich habe einiges gemeinsam mit ihr. In jungen Jahren soll ich ein rechter Hundesohn gewesen sein, was mir so zugetragen wurde, doch in späteren Tagen war mir immer öfter hundeelend zumute ob des Hundelebens, das zu führen ich blöder Hund mich gezwungen sah und das mir nur allzu oft hundsgemein mitgespielt hat.
Immer öfter fiel der Schatten des Höllenhundes auf meinen Weg, und nicht nur einmal hatte ich das Gefühl, vor die Hunde zu gehen.
Hunde wollt ihr ewig leben, mittlerweile bin ich ganz schön auf den Hund gekommen. Meine arme Hundeseele heult den Vollmond an, wenn ich wieder mal leide wie ein Hund und es mir hundsmiserabel geht.
Diese winselnden Zeilen schreibe ich unter wolkenverhangenem Himmel, aus dem es Cats and Dogs regnet, nicht einmal einen Hund würde man bei diesem Hundewetter vor die Tür jagen.
Aber scheiß der Hund drauf, ich will keine schlafenden Hunde wecken und mag bekannt sein wie ein bunter Hund, nur glücklicher Fügung verdanke ich es, kein Schweinehund geworden zu sein, und anhänglichen sensiblen Wesen wie diesem, dass sich unter meinen Händen streckt und räkelt.
Für das Alles und Jedes Spiel ist, das Dasein pure Freude, das Erleben hemmungslose Begeisterung und Ausgelassenheit. Ein Kind der Unschuld.
Eine kleine Hundeseele, die nicht gebrochen, ein Welpe, der nicht getreten, geschlagen und misshandelt, ein Hündchen, das nicht verraten, verlassen, missbraucht und entwürdigt wurde. Ein unversehrtes kleines Ich.
Das ist es, was mich von ihm trennt. Was mich ab und an mit Wehmut und Traurigkeit erfüllt. Wenn ich in seinen Augen das Strahlen von Glück, Liebe, Geborgenheit und Zufriedenheit sehe.
Dann möchte ich die Welt da draußen vergessen. Sie nie gekannt haben. Dann möchte ich ein kleiner schwarzer Hund sein.