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Autor Thema: Kleine Geschichten...  (Gelesen 8895 mal)

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Hobo

  • Gast
Kleine Geschichten...
« am: 29 November 2011, 10:17:26 »

Geschichten erzählen ist eine Sache. Geschichten erleben, das ist was ganz anderes. Ich mag Geschichten, gerade die kleinen Geschichten, die jedem von uns passieren und auch und gerade jedem früher passiert sind. Das geht ja nun früh los...

Die erste, an die ich mich noch erinnern kann war heftig aber auch lustig, na ja, zumindest fast...

Ich war damals 7 Jahre alt. Ich war stolzer Erstklässler, da ein Schulrat beschlossen hatte, dass ich mit 6 Jahren noch nicht reif genug für die Schule sei. Heute weiß ich, dass ich eine Frage zu einem Berg vor den Toren der Stadt, hm, hinter den Toren der Stadt eher, nicht beantworten konnte. Das war im Jahre des Herrn 1960. Heute weiß ich, dass dieser Hügel "Weinbiet" heißt. Damals nicht. Was ein Glück, durft noch ein ganzes Jahr Kind sein und tun und lassen was ich wollte. Aber auch dieses Jahr ging vorbei und es war soweit.

Ich kam in die Schule. Klar, damals noch mit Tüte und Tamtam und allem, was man zu dieser Zeit so veranstaltet hat. Ich kann mich auch nicht erinnern, davor Angst gehabt zu haben oder Abneigung. Man hatte es mir wohl sehr gut verkauft. Also meine Eltern und mein älterer Bruder. Der hatte ja nur noch von der Schule erzählt und wie toll da alles sei. Gut, ich habe mich zu der Zeit lieber im Schlamm eingegraben und Eidechsen gefangen. Also wirklich wichtige Sachen. Aber egal, ich bin hin und fand es auch nicht schlecht.

Der Lehrer war nett. Klar, damals waren alle Kinder noch so erzogen, dass sie auf Kommando aufgesprungen sind und im Chor "Guten Morgen, Herr Lehrer" gekräht haben. Ich natürlich auch. War halt so. Gut, ist über 50 Jahre her, heute ist das anders. Da kommen die Lehrer mit Polizeischutz ins Klassenzimmer und die Schüler werden an der Tür nach Waffen durchsucht. Nein, so war das nicht damals. Leider weiß ich nicht mehr, welche Art von Kleidung ich damals getragen habe. Oder vielleicht zum Glück. Aber auch das war damals nicht wichtig, keiner hat sich darum gekümmert. Die Schüler, die einen älteren Bruder hatten, die haben logischerweise die abgelegten Klamotten des großen Bruders aufgetragen. Das war normal und hat keinen geschert.

Soviel zu der Welt der Schule damals. Und ja, glaubt mir keiner mehr heute, ich war ein braver Junge und habe immer mitgearbeitet. Gut, im Schulhof in den Pausen, da gab es schon mal Auseinandersetzungen, aber das ist eine andere Geschichte. Erzähle ich später mal.

Natürlich waren die Ferien damals wie heute sehr beliebt. So auch die Osterferien. Wir wohnten in einer Wohnung im 1. Stock und es gab keine Wiesen weit und breit. Auch der Wald war ziemlich weit weg, wir waren eben mitten in der Stadt. Also war das Ostereiersuchen auf die Wohnung beschränkt. Es hat dem Spass keinen Abbruch getan, meine Eltern haben immer tolle Verstecke gefunden. Was sie nicht ahnen konnten war, dass sich der Jüngste schlaflos schon mitten in der Nacht auf die Suche machte. Alle haben tief geschlafen und ich war sehr stolz, vor meinem Bruder auf die Suche zu gehen. Das weiß ich noch genau. Ich hätte im Bett bleiben sollen...

Meine Eltern hatten einen Musikschrank. Also so eine Art Sideboard, links war ein Plattenspieler eingebaut und rechts eine Glasscheibe. Hinter dieser Glasscheibe standen Gläser und Flaschen. Mir hatten es die bunten Gläschen in einem Sechsertrageset angetan. Das war so ein goldverziertes Metallgestell mit 6 Schnappsgläsern in verschiedenen Farben. Man darf nicht vergessen, es war 1960 und zu dieser Zeit der letzte Schrei. Die habe ich mir auf meiner Suche nach Ostereiern erst mal geholt. Natürlich kann man mit sowas nicht spielen, wenn man nichts hat, das man da auch reinschütten könnte. Aber das war kein Problem, da Stand eine Flasche und ich habe dann wohl munter eingegossen und von einem Gläschen ins andere geschüttet. Wie das Kinder halt so machen. Ab und an habe ich ein Schlückchen getrunken und wieder nachgeschenkt. Heute weiß ich, dass diese kleinen Schlückchen ungefähr 33cl waren. Und in der Flasche war echter Strohrum, von meinen Eltern aus Österreich mitgebracht mit satten 80% Alkohol ungefähr.

Genau dort haben sie mich gefunden als die Sonne aufging. Sturzbetrunken und fast bewusstlos. Sie haben mich ins Bett gesteckt, einen Notarzt gerufen, ja, das Theater war komplett. Wobei ich davon nichts mitbekommen habe. Der Arzt hat auf die alte Art den Magen frei gemacht, also ohne Pumpe, eher rustikaler und ich war fast eine Woche im Bett. Hab wohl von schwarzen Männern und anderen Albtraumgestalten gelallt und alle sehr gut unterhalten. Heute weiß ich, dass ich fast über die Wupper, na ja oder den Jordan, gegangen wäre.

Noch heute bin ich dankbar, dass meine Eltern zu mir standen. Ich habe keine Strafe bekommen, keine lauten Worte oder sowas. Gar nichts. Allerdings gab es keine Flaschen mehr danach. Zumindest nicht in Reichweite von Erstklässlern. Nach der Woche bin ich etwas blass aber durchaus wieder gesund zurück in die Schule gegangen. Niemand hat je davon erfahren. Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass ich immer noch der Promilleweltmeister aller 7-jährigen bin. Immerhin Weltmeister...

Klar, die Schule ging weiter, das Leben auch, aber beides hatte noch einige interessante Geschichten. Doch für heute nur diese...

Ja, so war das, Ostern 1960.

Falls es hier Menschen gibt, die auch eine kleine Geschichte aus ihrem Leben erzählen könnten, macht doch, ich fänds schön, lese gerne kleine Geschichten.

lg
Hobo
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Hobo

  • Gast
Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #1 am: 01 Dezember 2011, 11:29:17 »

Gerade habe ich den ersten Teil meiner kleinen Geschichten nochmal gelesen. Und siehe da, es ist erstaunlich, was da alles an Erinnerungen wieder aufsteigt. Ja, das Jahr 1960, aus der Zeit vorher könnte ich auch noch eine Geschichte erzählen, aber es ist eine Unfallgeschichte, blutrünstig und wenig erfreulich. Ich hatte wirklich schon einen Roller. Sogar mit Luftreifen. Das war damals der letzte Schrei. Ok, man sollte damit halt nicht unter Fahrräder kommen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Anscheinend ist vieles, was ich für immer vergessen glaubte, doch noch irgendwo in diesem seltsamen Gehirn vergraben. Ich habe einfach mal über die Zeit nach Ostern 1960 nachgedacht. Zum Beispiel mein erstes Schuljahr. Das ist ja nun für die Entwicklung eines noch sehr kleinen Menschen nicht ganz unwichtig. Klar, ich konnte errechnen, dass es  60/61 war. Allerdings sind viele Details dieser Zeit wirklich vergessen und somit verloren. Aber einiges, das weiß ich noch recht gut. Davon handelt die kleine Geschichte heute. Da ich gerade ohnehin über diesen Thread nachdenke, auch über die Reaktionen darauf, werde ich für weitere Geschichten Überschriften wählen. Auch für mich, da ich diese Geschichten zusammen fassen und daraus vielleicht etwas mehr machen werde, als kleine Geschichten im Forum... Heute:

Mein erstes Schuljahr

Erstaunlich, was da, wenn auch vage, doch noch erinnerbar ist. Stolze 7 Jahre alt, neugierig, auch nervös und hauptsächlich abwartend, so habe ich die Schule angefangen. Das allererste was mir dazu einfällt, das ist natürlich meine Tafel. Nein, keinen Tablet-PC ihr Jungnasen, eine Schiefertafel. Vorne Zeilen und hinten Karos. Halt zum Schreiben und zum Rechnen. Daran hing ein Wischlappen und im Schulranzen hatten wir alle einen Schwamm. Der war gut, weil er regelmäßig die 2 Bücher, die wir hatten eingesaut und ziemlich durchweicht hat. Es gab dann aber schnell so eine Art Seifendose, die war recht dicht und das Problem war gelöst. Geschrieben wurde mit einem Griffel. Ist wahr, jeder hatte eine Schiefertafel und Kreidegriffel. Die waren im Griffelkasten, der aus Holz war. Das hat beim Rennen mit dem Schulranzen auf dem Rücken ein ganz typisches Geräusch gemacht und immer wieder zu abgebrochenen Spitzen bei den Griffeln geführt.

Das war aber längst nicht so schlimm wie ein Sturz. Der hat meist zum Tod der Schiefertafel geführt und zu richtig großem Ärger zu Hause mit den Eltern. Warum? Familienetats waren damals anders als heute... Aber das ist eine andere Geschichte. Ich weiß nicht mehr wieviele Tafeln ich im ersten Schuljahr gehimmelt habe, ich schätze aber mal so alle 6 Wochen eine.

Das Lernen ging damals auch ganz anders als heute. Ich glaube, ich habe ein halbes Jahr lang Spazierstöcke auf meine Tafel gemalt. Griff links, Griff rechts, Griff unten, Griff oben. Es waren bestimmt 100.000 Spazierstöcke. Zumindest empfinde ich das heute so. Erst dann wurden Buchstaben geschrieben. Immer als Pärchen. Großes A mit kleinem a usw. Und natürlich alles in Druckschrift. Das ganze Alphabet und natürlich auch wieder gefühlte 100.000 mal. Und auf der Rückseite die Zahlen. Ungefähr genauso oft. Soviel nur zum Schreiben lernen.

Viel lustiger war das Lesen lernen. Wir hatten eine Fibel. Nein, nicht Bibel. Lesebücher für Schüler hießen damals Fibel. Sehr beliebt waren Familiengeschichten, also Alltagssituationen. Wobei die es in sich hatten. Ein paar dieser Sätze weiß ich noch. "Die Mutter macht das Frühstück für die Kinder" oder "Die Mutter putzt die Wohnung" oder "Der Vater kommt abends von der Arbeit nach Hause" und "Die Mutter hat das Essen für den Vater und die Kinder vorbereitet und alle essen zusammen. Der Vater spricht das Tischgebet". Auch schön war "Die Mutter hat die Wäsche gewaschen und legt dem Vater frische Kleidung hin".

Niemand hat damals darüber gelacht. Ehrlich nicht, es war 1960, da war das normal. Es war nur eine Abbildung des damals üblichen täglichen Lebens. Ich kannte niemandem, dessen Mutter gearbeitet hätte. Die war zu Hause und die Väter haben das Geld verdient.

Ansonsten kann ich mich noch sehr gut an den Religionsunterricht erinnern. Die Klassen waren ja damals getrennt nach Geschlechtern. Außer in Religion, die Katholen und Evangelen wurden da aus beiden Klassen zusammen gefasst, also auch die Mädchen. Heute eher lustig, Koedukation ausgerechnet in Religion. Aber das ist eine andere Geschichte, die es durchaus Wert ist erzählt zu werden...

lg
Hobo
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Epines

  • Gast
Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #2 am: 01 Dezember 2011, 16:28:35 »

Hallo lieber Hobo, welche gute Idee einen solchen Thread zu eröffnen.

Ach die Schulzeit... beim Lesen deiner Erlebnisse sind bei mir auch so einige Geschichten hoch gekommen.

Mit Argwohn hatte ich auf die Schule gewartet, die mir den "Ernst des Lebens" beibringen würde, so die Worte meines   Vaters damals.
Irgendwie hatte ich das Gefühl entscheiden zu können, ob ich dort hin will oder nicht. Also beschloss ich es mir vorerst einmal anzusehen.

Es war absolut fürchterlich. 30 Kinder die nicht lesen konnten, die herum stotterten und nicht einmal die Buchstaben kannten. Ich langweilte mich vom ersten Tag an. Nach einigen Wochen war mir klar, dass dies nichts für mich ist, dass es nichts gibt, was mir in der Schule noch beigebracht werden könnte. Denn lesen und schreiben konnte ich schon lange und was man sonst noch braucht war mir irgendwie total unklar.

Also beschloss ich da nicht mehr hin zu gehen. Anfangs fiel es gar nicht auf, denn meine Eltern waren beide berufstätig und hatten mit sich selbst so viel zu tun, dass ich irgendwie zwar da war, aber kaum beachtet wurde.

Bei schönem Wetter fuhr ich schon morgens mit meinem "Trottinet" in den nahegelegenen Park und spielte auf dem Spielplatz und wenn es regnete bot mir die Kirche, die meist total leer war Unterschlupf.

Nach drei Wochen, ich saß gerade wieder auf der Bank im Park und schrieb einige selbsterfundene Hausaufgaben in mein Schulheft. Da hörte ich wie hinter mir jemand unglaublich verärgert und wutschnaubend laut einen Namen rief; es war meiner...
Meine Mutter stand da mit hochrotem Gesicht und sie schäumte vor Wut. Ich kann mich noch gut an den Schrecken erinnern, ich hatte mir vor Angst beinahe in die Hosen gemacht.

Ich Depp hatte an diesem Tag den Hausschlüssel vergessen und meine Mutter hatte in der Pause meine Lehrerin angerufen und diese war sehr erstaunt, dass ich nicht krank und meine Mutter um so erstaunter, dass ich nicht in der Schule war.

Dieses mein Versagen hatte mich damals sehr geärgert, denn ich dachte naiverweise, dass man es sonst nie gemerkt hätte.

Also musste ich wieder hin und es war übel... Schule war so was von langweilig.

In der Folge machte ich Bekanntschaft mit meinem ersten Psychologen, denn etwas musste mit mir ja nicht stimmen, grundsätzlich gehen Kinder doch gerne in die Schule und haben viel Spaß daran :-).

LG
Epines

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Hobo

  • Gast
Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #3 am: 01 Dezember 2011, 18:01:23 »

Freut mich, dass es jemand wagt, Epines^^. Es sind wohl wirklich die "gravierenden" Erlebnisse, die sich tief in unser Gedächtnis eingraben. Leider verdrängen wir sie dann meist im Laufe eines ganzen Lebens. Finde ich schade, weil man diese Dinge heute natürlich viel besser beurteilen kann, viel besser erkennt was damals tatsächlich passiert ist und natürlich auch, ob diese alten Geschichten vielleicht schon Einwirkungen auf unser späteres Leben hatten. Wenn ich lese, dass du früh schon mit Psychologen zu tun hattest, dann drängt sich der Verdacht wohl auf.

Aber nicht nur bei Dir war das so. Meine nächste kleine Geschichte hat mich definitiv schon im zarten Alter von 7 geprägt. Auch wenn ich es erst später realisiert habe und natürlich auch erst später die Konsequenzen gezogen habe. Aber ich muss noch eine Weile nachdenken, es ist halt verdammt lang her. Sie wird von Religionsunterricht und auch vom Sittenbild des Jahres 1960 handeln. Und von den Betroffenen. Mal sehen, später vielleicht oder morgen. Ich brauch immer ein Bild einer Geschichte im Kopf. Es ist noch nicht komplett, aber es wächst...^^

lg
Hobo (kleine Geschichten sind toll...)
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Nicki

  • Gast
Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #4 am: 01 Dezember 2011, 23:16:19 »

Auch eine kleine Grundschulgeschichte:

Ich ging auf eine katholische Grundschule, bei der es üblich war, das regelmäßig in der ersten Stunde ein Gottesdienst stattfand.
Meine zwei Jahre ältere Schwester hielt insgesamt nicht so viel von der Schule und eines morgens überredete sie mich, nicht zum Gottesdienst zu gehen, sondern die Stunde lieber auf dem Spielplatz zu verbringen und zur zweiten Unterrichtsstunde in der Schule zu erscheinen.
Leider hat sie versäumt mir zu erklären, das das Schwänzen war und man das eigentlich nicht darf. Ich habe es mittags also ganz fröhlich meiner Mutter erzählt und meine Schwester und ich bekamen eine ordentliche Tracht Prügel!
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nubis

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Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #5 am: 02 Dezember 2011, 08:40:32 »

Puh.. - also traue ich mich auch mal :-)

Mich hatte schon @hobos erstes Posting inspiriert auch etwas aufzuschreiben - inzwischen ist ein halber Roman daraus geworden, weil mir immer noch mehr in den Sinn kommt^^

Aber keine Angst: ich schreibe hier jetzt mal nur einen Teil - sonst schlaft ihr nachher beim lesen noch ein ;-D


Also:

Ich wurde bereits mit 5 eingeschult: in eine belgische Grundschule.
Ich erinnere mich noch an eins von den Aufgabenheften – Bilder, die man ausmalen konnte und dann daneben schreiben sollte was es darstellt – vor allem an das Bild mit dem bärtigen Mann mit der Axt, und ich wusste nicht, ob es ein Holzfäller sein sollte, einfach ein Mann oder ein ‚Opa’, an den Einzelunterricht, den ich in der Zeit hatte, wo die anderen Religion hatten und ich,  weil ich nicht getauft bin, so tolle Sachen wie das Schälen eines Apfels mit einem echten (!) Küchenmesser gelernt habe – und an den Zaun, der den Schulhof in zwei Hälften geteilt hat…

Klingt komisch – aber war so: Flamen und Wallonen getrennt… - keine Ahnung, ob das heute noch so ist, ich nehme es mal nicht an …aber wer weiß das schon?
Irgendwann hatte ich mal Zweifel, ob mich meine Erinnerung da nicht trügt, aber meine Mutter hat es bestätigt.
Soviel zum ‚vereinten Europa’, denke ich immer, wenn es in so einem kleinen Klitsche-Land wie Belgien nicht mal die beiden Bevölkerungsgruppen schaffen miteinander auszukommen…

Man muss sich mal vorstellen: meine Mutter wurde als Deutsche geächtet – klar, Nachkriegszeit – armes, besetztes Belgien -  mein Großvater auch noch nach Belgien deportierter russischer Jude (man merkt: das war brisant) – jedenfalls war die Familie meines Vaters entsprechend schockiert …bis seine Schwester (also meine Tante) mit einem Wallonen ankam… - man glaubt es kaum – aber DAS stelle meine Mutter glatt in den Schatten^^

Wie gesagt: Grundschule mit 2 Meter hohem Maschendrahtzaun auf dem Schulhof… aber vielleicht hatte er ja auch eine ganz andere Bedeutung, die sich mir nur nicht erschlossen hat...


Aber ich bin abgeschweift…

Die Schule... - wir sind nach meinem ersten Schuljahr nach Deutschland umgezogen und ich habe hier dann das Jahr wiederholt.
Ich erinnere mich noch an vieles: die erste Klassenlehrerin - der erste Streit mit einer Mitschülerin, die dann ihre ältere Schwester rief um mich zu verkloppen^^

Wir haben uns später vertragen und uns sogar ein paar Mal getroffen zum spielen - aber das Wertvollste, was ich damals gefunden habe, war meine Freundin ...wir treffen uns heute noch regelmäßig: nach 37 Jahren und unendlich vielen gemeinsamen 'Geschichten'...





nubis *offensichtlich auch schon uuuralt^^ - und grade wieder in Erinnerungen versunken :-)


« Letzte Änderung: 02 Dezember 2011, 08:42:04 von nubis »
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Gegen Schmerzen der Seele gibt es nur zwei Arzneimittel: Hoffnung und Geduld

(Pythagoras)

parapieps

  • Gast
Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #6 am: 02 Dezember 2011, 19:17:05 »

meine peinlichste geschichte aus der grundschulzeit ist ganz schnell erzählt.
da meine eltern arbeiten mussten, bin ich immer in den frühhort gegangen. von da aus wurden wir immer zur schule gebracht. eines morgens bin ich mal wieder mit meinem schulranzen dort noch halb verschlafen aufgekreuzt und traf leider nur die leute von der kita an. als die mich mit dem schulranzen sahen fingen sie laut an zu lachen und machten sich lustig. es waren ferien und niemand zu hause hat daran gedacht.....grml das liegt mir heute noch irgendwie im magen
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Nicki

  • Gast
Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #7 am: 02 Dezember 2011, 23:21:39 »

@Pieps: Ich stand auch mal an einem Feiertag vor der verschlossenen Schule :( Das ärgerlichste daran war das frühe Aufstehen!

Eine kleine Weihnachtsgeschichte (schmunzel):
In der Mittelstufe hatte ich zwei Jahre Unterricht bei einem Lehrer, der bekannt war für seinen Sadismus gegen Schüler und unfaire Benotungen. Wenn er jemanden nicht mochte, sorgte er dafür, das derjenige nichts mehr zu lachen hatte und trotz aller Mühen sitzen blieb.
Einige Fälle sind bis zum Schulamt gegangen.
Nun ja, es begab sich in der besinnlichen Adventszeit, das meine Klasse eine Unterrichtsstunde bei diesem Menschenquäler hatte. Wie üblich saßen wir mit eingezogenen Köpfen, bloß nicht seine Aufmerksamkeit auf einen lenken!
Er lehnte vorne am Lehrerpult und redete. Hinter ihm auf dem Tisch standen zwei brennende Adventskerzen.
Bei uns machte sich eine gewisse Anspannung breit, er achtete nämlich nicht auf die Kerzen und fuchtelte mehrmals mit dem Ellenbogen über den Flammen herum! Keiner von uns sagte etwas, wir warteten ab, hofften, das ihm etwas passieren würde!
Dann stellte er sich leider anders hin, die Kerzen jetzt hinter ihm, Enttäuschung ging durch die Bankreihen. Wir hätten es ihm so gegönnt, das er verbrennt.
Er redete immer weiter, doch auf einmal wurde er unruhig, meinte, es würde so heiß. Dann ein entsetztes:"Ich glaube, ich brenne!" - Und tatsächlich, die Kerzen hatten seinen Pullover am Rücken in Brand gesteckt! Keiner von uns hat sich auch nur bewegt während er den brennenden Pulli über den Kopf zog, auf den Boden warf und die Flammen austrat.
Er hat sich dabei nichts getan, aber ich glaube, wir hätten ihm noch nicht einmal Hilfe gerufen, weil er so ein fieser Hund war.
Wir hatten aber eine kleine Adventsfreude durch dieses Erlebnis!
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Epines

  • Gast
Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #8 am: 03 Dezember 2011, 04:34:52 »

Ach die Schulzeiten, leider habe ich teilweise grosse Erinnerungslücken und wie du @Nicki, hatten wir auch einige sadistische Lehrer, aber es gab auch wundervolle Pädagogen wie den Herrn Straumann, "Sträussel" wie wir ihn heimlich nannten.

Unser Klassenlehrer war damals  sehr krank und wurde durch einen total unfähigen Ersatzmann ersetzt,  frisch vom Seminar.
Wir, ca. 20 pubertierende und aufmüpfige 14 jährige Teenager, tanzten ihm sehr schnell auf der Nase herum. Er erlaubte uns einfach alles,  sogar während den Schulstunden Musik zu hören. Ich hatte eigens dafür meinen Plattenspieler von zu Hause mitbringen dürfen.
Als eines Tages der Lärm, - und Musikpegel  wieder so richtig heftig war, wurde plötzlich die Türe zum Klassenzimmer aufgerissen und der ältere Lehrer von der Klasse nebenan stürmte hinein und brüllte, dass sofort die Musik ausgemacht werden sollte. Unsere Aushilfe stand nur doof da und sagte kein Wort.

Der wutschnaubende, eher kleine und zierliche Mann zeigte auf mich, ich saß ganz vorne und sagte: "Du bringst sofort diesen Plattenspieler in mein Zimmer". Ich erwiderte aufmüpfig:" Nein ganz sicher nicht, unser Lehrer erlaubt uns die Musik". Worauf er entgegnete:" Ist mir egal, mein Unterricht wird dadurch gestört, los bewege dich". Ich frech wie ich war weigerte mich, da knallte er mir eine, worauf ich natürlich sofort gehorchte...

Kurz darauf wurde uns mitgeteilt, dass unser Lehrer  keine Schule mehr geben könne und wir darum einen neuen Klassen-Lehrer bekämen.
Und oh Schreck und Graus, es handelte sich um diesen Kindermisshandler, der mir eine geknallt hatte.
Er musste nur noch ein Jahr arbeiten bis zur Pensionierung und da hatte man ihn uns, der angeblich schwierigsten Klasse im Schulhaus zugeteilt. Boahhhh....schöne Aussichten, na dem würden wir die Tour vermasseln!
Wir fingen an fiese Pläne zu schmieden, um den richtig fertig zu machen.

Mit einem Fußtritt flog die Türe  am ersten Tag auf und der nasse Schwamm, den wir auf der Türkante oben platziert hatten,  fiel auf den Boden, ohne sein Ziel zu erreichen.

Freundlich lächelnd schritt er herein , stellte sich als Herr Straumann vor und bat mich als erstes nach vorne zu kommen. Er öffnete den Schrank, holte meinen Plattenspieler heraus und sagte, dass es ihm leid tue, dass er mir damals eine geknallt habe, es sei falsch gewesen und er habe überreagiert und er hoffe sehr, dass ich seine Entschuldigung annehmen würde.

Wir waren alle beeindruckt, dass ein Lehrer sich entschuldigt, aber noch mehr von der respektvollen Art und Weise wie er uns fortan behandelte. Wir konnten einfach nicht glauben, dass Lehrer so geduldig und immer freundlich sind, irgendwie trauten wir dem Frieden nicht und glaubt mir, wir versuchten jeden Trick um ihn zu ärgern, zogen alle Register, aber er freute sich sogar über unsere derbsten Scherze und war gespannt welche Überraschung wir ihm wohl als nächstes bereiten würden, wir lachten oft zusammen. Irgendwann gaben wir es einfach auf ihn zu ärgern.

Einmal schrieben wir nachmittags an die Tafel: "Uns stinkt es". Er kam herein, sah es, nahm sofort die Kreide und schrieb darunter:" Mir auch, gehen wir nach Hause". Wir durften damals wirklich gehen, einfach so!

Er  unterrichtete uns in Chemie und Geschichte und eines Tages sollten wir im Chemieunterricht Schnaps brennen. Eine wertvolle Erfahrung, an die ich mich heute noch gerne erinnere und nicht zuletzt verdanke ich Sträussel ein Wissen, was mir später sehr zu Gute kam.

Wir bauten also einen Destillierapparat auf und Sträussel brachte vergorene Kirschen mit, es sollte also Kirsch gebrannt werden. Es roch wunderbar und gespannt warteten wir auf die ersten Tropfen des klaren und durchsichtigen Alkohols, dem sogenannten Vorlauf,  den man aber nicht trinken dürfe, erklärte Sträussel, da er schädlich sei und früher viele Männer deswegen blind geworden sind.
Nach einiger Zeit tropfte dann unser eigener Hausbrand aus der Spirale und wir durften ihn auf Würfelzucker geträufelt kosten. Es ging lustig zu und her, nicht zuletzt auch, weil wir vermutlich alle einen heftigen Schwips hatten.
In der nächsten Chemiestunde sollten wir lernen, wie man aus 40° Schnaps, 80° macht und er bat uns die Eltern zu fragen, ob sie irgendeinen Schnaps hätten, der keine Verwendung mehr findet.

Ich fand  zufällig eine Flasche Wodka im Schrank meines Stiefvaters, ich glaube er hieß Moskowskaya, oder so ähnlich. Na ja egal, auf jeden Fall lernten wir, dass man Schnaps immer zweimal brennen muss, um eine gute Qualität zu erhalten und wenn er dann auf 80° ist, was ja keiner trinken kann, soll man ihn mit destilliertem Wasser wieder auf 45° herunter verdünnen.
Was wir dann irgendwie aus zeitlichen Gründen versäumten und so wanderte die Flasche Wodka, in der nun nur noch die Hälfte drin war, wieder in den Schrank meines Vaters und bescherte mir später einen Satz Ohrfeigen, denn als er einen kräftigen Schluck trank, spuckte er sofort aus und zwar auf den frisch geputzten Parkettboden, was meine Mutter überhaupt nicht lustig fand.

Leider unterrichtete uns Sträussel nur ein einziges Jahr und wir alle vollbrachten erstaunlicherweise in seinen Fächern Höchstleistungen, weil lernen plötzlich richtig viel Spaß machte. Im Geschichtsunterricht durften wir auf Blättern herum kritzeln und malen, während er uns von den alten Griechen von Zeus und Hera erzählte und dies gestaltete er so spannend, dass die Figuren beinahe lebendig wurden.
Ich denke gerne an dieses eine Jahr zurück, er war der beste Lehrer den ich je hatte.

10 Jahre später an einem Klassentreffen, sah er immer noch genau so aus wie früher und  hatte noch die selben schwarzen Haare. Da  stellte ich staunend fest, dass  noch kein einziges graues Haar sein Haupt ziere. Da lachte er schallend und sagte, dass sie gefärbt sind und zwar schon als er uns noch unterrichtete. Es amüsierte ihn königlich, dass wir es nie gemerkt haben und er sagte, dass dies sicherlich für uns damals ein gefundenes Fressen gewesen wäre. Klar.... denn welcher 60 Jahre alte Lehrer färbt sich schon die Haare schwarz, lach.

LG
Epines

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Sintram

  • Gast
Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #9 am: 03 Dezember 2011, 07:44:56 »

Guten Morgen, hobo

Deine kleinen Geschichten gefallen mir sehr gut, ich lese sie mit neugieriger Freude, finde mich auf der Schiefertafel wieder, alter Knochen der ich bin, und freu mich schon auf die kommenden. Auch die der andern finde ich interessant, amüsant, anregend und bin der Meinung, dass Du hier was richtig Gutes vom Zaun der Lebenserinnerungen gebrochen hast.

Seine Schulzeit in einem Rundumschlag in ein Posting packen, das kann nur der Desperado, der Sintram kann das nicht, weil viel zu viele Anekdoten einer langen Zeit ihn darin hemmen.
Geschichten, die erst vor gar nicht langer Zeit ein erneutes Mal wachgerufen wurden, als ich für ein paar Jahre in meinem Geburtsort weilte.

Die Lehrerin meines ersten Schuljahres war zugleich meine Nachbarin, die mich von kleinst auf kannte und sich in mich verschossen hatte, was mir einen gewissen Sonderbonus garantierte. Sie schob mir immer ein Stück Kuchen durch die Zaunmaschen, aber nur für ein Bussi, ein Küsschen auf ihre Wange, nun, was tut man nicht alles für ein Stück Kuchen.
Sie war eine dieser Jungfern, die zu einer Zeit Lehrerein geworden war, als die „Fräulein“ noch nicht heiraten durften, das blieb auch nach der Abschaffung noch eine Weile ungeschriebenes Gesetz, auf meiner Schule gab es mehrere davon.

Nach der ersten Klasse bestehend aus fünfzig Köpfen kam ich nach Hause und teilte meiner Mutter meinen gefassten Entschluss mit, jetzt alles fürs Leben Nötige zu beherrschen, weshalb ich nicht mehr zur Schule gehen werde (hab das schon mal irgendwo erzählt), aber sie wollte nicht auf mich hören.

Ab der zweiten sammelte ich dann mit ein paar gleichgesinnten Freunden eifrig die „Tatzen“, (mindestens) ein Schlag mit einem dünnen Rohrstock auf die ausgestreckte Handfläche, zog ganz schön und brannte eine gehörige Weile, gab auch Striemen ab und an, ein Spezl hat sogar mal anhaltend geblutet, musste nach Hause geschickt werden.
Am schlimmsten schlug die Musiklehrerin zu, die teilte auch heftige Ohrfeigen aus und Schläge auf den Hinterkopf, einmal legte sie einen Freund übers Knie und malträtierte ihn so lange mit dem Stock, bis dieser brach. Die war auch eine Jungfer, allerdings eine bösartige Frömmlerin, die fürchteten wir alle, wenn der „heilige Zorn“ sie überkam, wie sie selbst immer wieder betonte.

Der Kooperator, also der Hilfspfarrer, zog uns Buben immer an den Schläfenhaaren hoch, bis wir auf den Zehenspitzen standen, und ließ uns endlose Sekunden so stehen, das tat höllisch weh, auch noch lange hinterher.
Eckenstehen war sowieso an der Tagesordnung, das Knien auf einem kantigen Holzscheit war er vor kurzem aus den Klassräumen verbannt worden, sonst wären wir regelmäßig gekniet.

Im Pausenhof wurde so gut wie täglich gerauft, gehauen und gerungen, gekratzt und an den Haaren gezerrt, aber niemals(!) getreten, höchstens mal ans Schienbein, es dauerte jedenfalls nicht allzu lange, da war ich immer öfter darin verwickelt, keine Ahnung wieso.
Dann gab´s natürlich wieder Strafarbeiten, seitenlange Texte abschreiben, nachsitzen, auswendig lernen, Brieflein an die lieben Eltern.

Nun denn, soweit.
Erzähl weiter, ich mag Lebenserinnerungen, besonders aus dieser Zeit, weil ich meine eigene verlorene Kindheit darin wiederfinden kann, und lese Deine kleinen Geschichten gern und mit Freude.

Lieben Gruß
Sintram



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Hobo

  • Gast
Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #10 am: 03 Dezember 2011, 08:46:34 »

Mit viel Freude habe ich gerade hier gelesen. Ich hoffe, dass es euch nicht so schwer fällt wie mir, diese alten kleinen Geschichten zu erinnern. Ich brauche wirklich recht lange dafür, um aus einem Gedanken, einer isolierten Erinnerung, eine ganze Geschichte zusammen zu kriegen.

Genau das, was ihr schreibt, das habe ich gemeint, als ich diesen Thread begonnen habe. Dinge, die einen schon sehr früh im Leben beeindruckt, beeinflusst und vielleicht sogar geprägt haben. So hat mich beispielsweise der Zaun in der belgischen Schule in der kleinen Geschichte von Nubis sehr beeindruckt. Sowas zeigt einem Kind sehr früh, dass nicht alle Menschen gleich sind, dass es überall Zäune gibt, vielleicht nicht immer so deutlich wie dort beschrieben, doch gleichwohl "Zäune", meist in den Köpfen der Menschen. Es sind eben diese "Bilder", die sich im Gedächtnis der Kinder einbrennen und dort bleiben, meist ein Leben lang.

Auch in meiner heutigen kleinen Geschichte geht es um "Zäune". Um einen unsichtbaren Maschendraht in der Mitte der Gesellschaft des Jahres 1960. Zuvor aber noch eines, mir fällt auf, dass beim Hinabsteigen in die Vergangenheit, in die hintersten Winkel meines Gedächtnisses, immer mehr Details an die Oberfläche kommen. Das macht es fast unmöglich stringent eine für sich isolierte kleine Geschichte zu erzählen. Weil an fast jedem Zipfelchen der Vergangenheit, mühsam ausgegraben, sofort eine neue, eine andere kleine Geschichte hängt und es schwer macht, nicht direkt auch darauf einzugehen und dann gleichzeitig mehrere kleine Geschichten zu erzählen. Deshalb mag es Gedankensprünge geben, die wohl nur ich verstehen kann und ich bitte mir diese nachzusehen.

Der Religionsunterricht (oder Kinder als Waffen)

Es war 1960 in der ersten Klasse der Volksschule, so hieß die damals. Lesen, Schreiben, Rechnen, Naturkunde, Heimatkunde, Singen und Leibesübungen standen damals auf dem Stundenplan. Und natürlich Religion. An das Meiste kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur der Religionsunterricht, der hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt.

Wenn Religion war, dann war erst mal viel los im Schulhaus. Aus allen Klassenzimmern pilgerten die Schüler zu ihrer Religionsstunde. Der Klassenverband war aufgelöst und die Trennung von Jungs und Mädchen war aufgelöst. Es gab eine neue Trennung. Damals ja nur in zwei Lager. Es gab die Katholen und die Evangelen. Da es meine Eltern für richtig gehalten hatten mich taufen zu lassen war ich bei den Katholen.

Ich kann mich noch gut an das unbehagliche Gefühl am Anfang erinnern. Wir hatten ja mit Mädchen sonst nichts zu tun und wollten mit denen auch nichts zu tun haben. 7-jährige Jungs haben damals Mädchen gemieden. Die konnten nicht Fussball spielen, nicht raufen, die konnten eigentlich nichts von dem was uns wichtig erschien. Die konnten noch nicht mal einen VW-Käfer von einem Gogomobil unterscheiden und sie wussten auch nicht, wer der Mittelstürmer der lokalen Fussballmannschaft war. Das machte sie in unseren Augen zu totalen Ignoranten.

Aber das war nur anfänglich ein Problem. Die Lehrerin in Religion, das war Fräulein Spiegel, unverheiratet und uralt, also aus unserer Sicht, die war das größere Problem. Dabei war das ewige Auswendiglernen von Kirchenliedern oder Bibelpassagen noch nicht mal das Schlimmste. Ihr Credo war, katholische Schüler sollen sich mit evangelischen Schülern nicht abgeben. Nicht mit ihnen spielen oder Freundschaften schließen. Weil die schlechtere Menschen und "Ungläubige" seien. Nur der rechte Glaube gefällt unserem Gott. Und die mit dem falschen Glauben gefallen unserem Gott nicht. Also dürfen sie uns auch nicht gefallen.

Gut, man kann kleinen Kindern viel erzählen und die neigen auch dazu vieles zu glauben, was man ihnen gebetsmühlenartig eintrichtert. Ich glaube, ich hatte am Anfang auch kein Problem damit. Das änderte sich allerdings recht schnell. Dazu sollte ich erklären, dass die Lehrer sehr gut über unsere Eltern unterrichtet waren. Das stand alles in einem Buch, dass sie immer bei sich hatten. Also der Beruf des Vaters, Mütter hatten ja keinen, die Straße in der man wohnte und auch, welcher Religion sie angehörten. Und so ergab sich schnell für das liebe Frollein Spiegel, dass ich ein Bastard war. Mutter katholisch, Vater evangelisch. Ein Skandal. Auch die Tatsache, dass ich immerhin katholisch getauft war konnte da nichts mehr retten. Ich war plötzlich ein Mensch zweiter Klasse.

Aus heutiger Sicht ist es nicht nachzuvollziehen, wie ich mich damals gefühlt habe. Hatte ja noch nicht mal was verbrochen oder Unsinn gemacht, was ich durchaus auch konnte. Nein, ich kam aus einer "unreinen" Familie. Alleine, dass ich mich noch so deutlich daran erinnere ist wohl ein Zeichen dafür, dass es mich damals schwer getroffen hatte. Zum Glück war ich nicht der einzige "Bastard". Es gab noch 3 andere Jungs und 4 Mädchen, die auch nicht des reinen Glaubens waren. Das führte unweigerlich zu einer Zusammenrottung der Parias. So gelang es uns ganz gut damit umzugehen und Religion war von da an unser meistgehasstes Fach. Es gab also nicht nur diesen "Zaun" zwischen Katholen und Evangelen, es gab sogar noch Zäune zwischen den halben Katholen, den Bastarden und den reinen Katholen.

Natürlich hatte das Auswirkungen. Wir wurden schlechter behandelt, teilweise geschnitten, mussten um vieles kämpfen. Für mich war dies die erste Erfahrung dieser Art in meinem Leben. Und es war keine gute Erfahrung.

Richtigen Ärger gab es aber erst, als ich das meiner Mutter zu Hause erzählte. Aber das ist eine andere Geschichte..., durchaus wert hier erzählt zu werden...

Ja, so war er, der Religionsunterricht im Jahre "des Herrn" 1960 in der deutschen Provinz...

lg
Hobo





  
« Letzte Änderung: 03 Dezember 2011, 08:51:36 von Hobo »
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Hobo

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Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #11 am: 03 Dezember 2011, 12:53:25 »

Als Erstklässler lebte man in einer fest umrissenen Welt. Da war die Familie, die Schule und Freunde. Aber im Zentrum stand natürlich die Familie. Früher sagte man "das Elternhaus". Das hatte durchaus eine wörtliche Bedeutung. Wenn das in der falschen Gegend stand oder der Vater Müllmann war, dann hatte man schon sehr früh sehr schlechte Karten. Auch wenn wir Kinder das damals gar nicht realisiert hatten, es hatte Auswirkungen auf uns. Aber diese kleine Geschichte, die handelt von meinem Elternhaus.

Familie

1960 hatte ich wie die meisten anderen Kinder natürlich auch eine Familie. Und wie in fast allen anderen Familien hat mein Vater gearbeitet und meine Mutter war Hausfrau. Ich hatte noch einen 3 Jahre älteren Bruder in der Familie, aber mit dem kam ich nicht so recht klar. Den habe ich schon mit 7 Jahren beim Ringen auf den Boden gedrückt. Ein Weichei eben. Aber in dieser kleinen Geschichte soll es um die Rolle der Eltern für einen Erstklässler gehen. Ich hatte riesiges Glück. Ich hatte tolle Eltern, wenn auch mit Problemen wenn der Kleinste mal wieder Mist gebaut hatte. Aber selbst dann hatte ich vollen Rückhalt, ich konnte mich blind auf meine Eltern verlassen. Meinen Vater habe ich nicht so oft gesehen, der war morgens schon weg und kam erst wieder zum gemeinsamen Abendessen und dann musste ich ja schon wieder schlafen. Aber in Krisen, wenns gebrannt hat, wenn alles zusammenbrach in meiner kleinen Welt, da war er da für mich. Und meine Mutter sowieso.

Auch, als ich ihr diese Sache mit dem Religionsunterricht erzählt habe. Naiv, wie eben Erstklässler sind, habe ich ihr wohl gesagt, dass mein Vater den falschen Glauben hat und Gott ihn deshalb nicht mag. Und mich auch nicht. Und dass Katholen niemals Evangelen heiraten dürfen. Weil das ja Verrat an unserem Katholengott sei. Selbst heute noch kann ich mich an ihre Reaktion erinnern. Mir sagte sie nur, ich solle nicht alles glauben was man mir erzählt und sie würde mit mir darüber noch reden.

Am Abend hat sie wohl mit meinem Vater darüber gesprochen. Ich weiß noch, dass ich große Angst hatte etwas falsches gesagt zu haben und rechnete mit großem Ärger. Ein Gesetz war ja, man darf seine Lehrer nicht anzweifeln. Sie, die Götter aller Erstklässler hatten kritikfrei zu bleiben. Und für Bestrafungen war mein Vater zuständig, meine Mutter hat sich da rausgehalten. Aber es ist nichts passiert, ich hatte umsonst Angst gehabt. Meine Eltern haben Kontakt mit den Eltern der anderen "Bastarde" aufgenommen und ein recht großes Rad fing sich an zu drehen...

Würden meine Eltern noch leben, heute würde ich sie fragen, was damals genau abgelaufen ist. Aber es lief natürlich alles über meinen Kopf und wohl auch über mein Verständnis der Welt hinweg. Heute weiß ich, dass sich die Tageszeitung, das bischöfliche Ordinariat und der Oberregierungsschulrat eingeschaltet hatten. Das wiederum hab ich mitgekriegt und wäre am Liebsten im Boden versunken. Es war ziemlich heftig für einen Erstklässler. Sie haben es mir nie verraten, wie und was genau sie gemacht hatten.

Noch während des laufenden Schuljahrs ging Frollein Spiegel in Rente und wir bekamen einen Pfarrer als Religionslehrer. Das Hetzen hörte auf, nach kurzer Zeit schon hat es keinen mehr geschert, ob sein Freund Kathole oder Evangele war. Und ich, ich war mächtig stolz auf meine Eltern. Auch wenn sie es mir nie genau erzählten, ich weiß genau, dass sie da richtig Feuer gemacht haben...  So wie immer, wenn ich im Mist steckte...

Ja, 1960 ein erstaunliches Jahr für mich, in vielerlei Beziehung...

lg
Hobo

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Hobo

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Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #12 am: 05 Dezember 2011, 10:50:04 »

Eigentlich wollte ich eine kleine Geschichte mit der Überschrift "Der kalte Krieg und die Kinder" erzählen. Das werde ich auch noch, aber da Weihnachten vor der Tür steht und gestern schon der 2. Advent war, stelle ich um und erzähle eine kleine Geschichte vom Weihnachtsabend.

Weihnachten 1960

Zunächst sollte ich wohl ganz allgemein erklären, dass in dieser Zeit nur die wenigsten Haushalte ein sorgenfreies Leben führen konnten, was die finanzielle Seite des Lebens angeht. Geld war permanent knapp in diesen frühen Jahren, das wurde erst eine ganze Weile später entspannter. Trotzdem hatte ich nie den Eindruck, auf etwas verzichten zu müssen. Aber dadurch waren eben auch unsere "Anspüche" an den Weihnachtsmann bei weitem nicht so hoch, wie man sie heute kennt. An Heiligabend 1960 kann ich mich noch sehr gut erninnern.

Mein Bruder hatte sich ein Fahrrad gewünscht, er war ja auch schon 10 Jahre alt und mir war natürlich klar, das 2 Fahrräder, also für mich auch noch eins viel zu teuer für den Weihnachtsmann waren. Ich wurde auch vorher schon vorsichtig hingeführt mit einem Fahrradwunsch noch zu warten, bis ich etwas größer wäre. Da ich ja einen Roller hatte und mein Bruder versprach mich auch mal fahren zu lassen, hab ich mir kein Fahrrad gewünscht, sondern etwas für unsere Schuco-Autorennbahn. Was das ist weiß natürlich heute keiner mehr, das waren kleine Autos aus echtem Blech, die an einen Spiraldraht entlang fuhren.

Und so kam er dann, der 24.12. und mein Bruder und ich saßen aufgeregt und nervös in der Küche und mussten warten. Meine Eltern haben immer erst an Heiligabend den Weihnachtsbaum aufgestellt und geschmückt. Das hieß, die Wartezeit war recht lang. Ich saß auf einem Dreibeinhocker und schaukelte in banger Erwartung still vor mich hin. Bis es laut knallte und eins von den drei Metallbeinen zusammenbrach und ich auf dem Boden aufschlug. Dummerweise bin ich natürlich nach hinten umgefallen und mit dem Hinterkopf an den Kohleherd geknallt. Ich hatte wohl auch damals schon einen dicken Kopf, aber die Schwarte hat es nicht ausgehalten und ist aufgeplatzt. Und schon lief das Blut wie ein Wasserfall.

Sofort brach die Hölle los. Alle kamen angerannt, es wurde ein Verband gemacht, das ging aber nicht richtig, weil er durchblutete, die Küche war total versaut, das Chaos und der Lautstärkepegel waren gigantisch. Da ja kaum jemand Telefon hatte zu dieser Zeit hatte wurde der Nachbar verständigt, der damals schon Autobesitzer war und ab gings ins Krankenhaus.

Gut, es gab eine neue Frisur,  eine Spritze, 8 Stiche, die Platzwunde wurde zugenäht und eine Gehirnerschütterung konstatiert. Dann zog die Karavane wieder  nach Hause und ich wurde ins Bett gelegt mit der klaren Ansage ruhig liegen zu bleiben. Oh ja, ich habe bittere Tränen vergossen, nicht wegen der Wunde, sowas hatte ich dauernd als Kind, nein wegen dem Weihnachtsmann, der Bescherung und meinem Weihnachtsgeschenk.

Doch kurze Zeit später ging die Tür auf, mein Vater trug einen keinen Tisch an mein Bett und stellte den Adventskranz dazu. Da war ein Weihnachtsteller mit den typischen feinen Sachen, die es nur an Weihnachte bei uns gab, also Feigen und Mandarinen und Datteln und ein paar kleine Weihnachtspäckchen. Und hinter meinem Vater tauchte der Weihnachtsmann auf und schob ein kleines Fahrad neben sich her. Heute weiß ich, dass es unser Nachbar war, aber damals habe ich fest daran geglaubt, dass er nur wegen mir zu uns kam.

Sie hatten mir tatsächlich ein Fahrrad geschenkt. Und ich habe keine Strafe bekommen für das ganze Theater, das ich wieder mal verursacht hatte. Den ganzen Abend saß dann die ganze Familie um mein Bett herum, half mir die Päckchen auszupacken und aus dem Wohnzimmer konnte ich die "Weihnachtslieder-Schellackplatte" hören.

Ja, so war das, mein schönstes Weihnachten...

Meine Eltern hatten damals auf vieles verzichtet, nur um unsere Kinderwünsche an Weihnachten möglich zu machen. Auch später, aber schöner als Weihnachten 1960 wurde es nie mehr...

lg
Hobo
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Epines

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Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #13 am: 05 Dezember 2011, 17:05:12 »

Religion und kindliche Sichtweisen

Als Kind sieht man viele Dinge ganz anders als sie wirklich sind und ich dachte und sinnierte immer schon intensiv über die Dinge des Lebens nach, die in meiner kleinen Welt passierten und vieles entsprang  auch meiner kindlichen Fantasie.

Der Umstand meiner Zeugung und Geburt war wohl mehr dem Zufall zuzuschreiben als einem Wunsch nach Familie, oder er war total einseitig nur auf der Seite meiner Mutter. Mein Vater hatte sie  damals nur auf Druck der Familie geheiratet und da meine Mutter immer berufstätig war und auch bleiben wollte, wussten sie nicht so recht was sie mit mir überhaupt anfangen sollten. Zuerst war die Kinderkrippe aktuell, bis dann meine Großeltern den Vorschlag machten, mich zu sich zu nehmen.

Also lebte ich bis zum Kindergarten bei  meiner schwarz katholischen Großmutter, abgesehen davon war es echt paradiesisch, nie ein böses Wort und ein wohlbehütetes Umfeld. Sie und meine Tanten kümmerten sich liebevoll um mich. Leider starb mein Großvater als ich 3 Jahre alt war. Wir wohnten auf einem Bauernhof und da gab es immer viel zu entdecken. Da waren Heuschober, Schweine, Kühe, Hunde und immens viele Katzen. Dem Hund hatten wir einige Kunststücke beigebracht und als er die gut konnte stellten wir Kisten im Kreis auf und luden alle zur Zirkusvorstellung ein. Leider blamierte uns Bella gänzlich, indem sie unkooperativ die Zusammenarbeit verweigerte.

Ich war immer draussen, egal bei welchem Wetter und dies barfuß bis zum ersten Frost, wo mich meine Großmutter zwingen musste Schuhe anzuziehen. Ich hasste den Tag als der Raureif auf den Blättern zum ersten Mal den Winter ankündigte.

Meist spielte ich den ganzen Tag mit den Mädchen in der Nachbarschaft, es gab keine Straßen und Autos die uns gefährlich werden konnten, wir waren wirklich grenzenlos ungezwungen und frei, spielten im Wald auf den Wiesen und in den Reben meiner Tante.

Es gab natürlich auch Jungs in der Nachbarschaft, aber mit denen verbot mir meine Großmutter zu spielen, als ich einmal fragte warum ich dies nicht dürfe, sagte sie:"Weil die reformiert sind!"
Mit Mädchen dufte ich spielen, weil diese ausnahmslos katholisch waren. Also schlussfolgerte ich lange Zeit, dass der Unterschied zwischen Mädchen und Jungs jener ist, dass Jungs reformiert und Mädchen katholisch sind.
Später als ich den wirklichen Unterschied erkannte, gesellte sich dann jedoch die Annahme dazu, dass im "Zeughaus" geheiratet wird, weil es etwas mit dem zeugen zu tun hat. Also musste man dort hin um Kinder zu zeugen, dachte ich. Als ich dann irgendwann lachend aufgeklärt wurde, dass man im Zeughaus nicht heiratet, sondern dass die Rekruten und Soldaten dort ihr "Zeug" für das Militär abholen müssen, kam ich mir ganz schön doof vor.

Bis ich 15 war verbrachte ich alle Schulferien bei meiner Großmutter und wenn ich so zurückdenke, dann lebte ich nur in diesen Ferien, nur da war ich glücklich. Doch je näher das Ende des Urlaubs rückte um so schwermütiger wurde ich und als ich dann jeweils zurück musste, hatte mich die Depression wieder fest im Griff. Im Grunde war ich mehrheitlich depressiv, nur interessierte keinen wirklich wie ich mich fühlte, es wurde über mich bestimmt, wie wenn ich ein Gegenstand wäre und kein fühlendes Wesen. 
Meiner Großmutter ging es ähnlich, sie lebte nur noch für mich und die Zeit in der ich da war, war für beide immer unvergesslich schön und schon damals wusste ich wie schwer die Trennung auch für sie war. Ich war 17 als sie starb.

Als ich dann zur Kirche musste, wurde mir  schnell klar, dass es auch katholische Jungs gab, meine Cousins zum Beispiel.
In der Kirche waren Frauen und Männer streng getrennt. Links die Frauen und Mädchen, rechts die Männer und Jungs.
Beim Hinausgehen stand der Pfarrer an der Türe und man musste ihm die Hand schütteln, er kannte jeden beim Namen und einmal getraute ich mich zu fragen, ob Gott denn im Altar sei, worauf er dies bejahte und ich dann wissen wollte, warum man ihn einschließen müsse und ob er sonst abhauen würde.
Dieser Gedanken hatten mich nämlich schon beschäftigt seit man mir erzählte, dass der Altar aus echtem Gold war und in ihm ein goldener Becher und ein goldener Teller für den lieben Gott bereit stand. Folglich musste er da drin sein und auch da essen. Ich hätte ihn zu gerne einmal gesehen. Also wollte ich unbedingt wissen, ob meine Annahme stimmte und warum er da drin blieb und wie er dann alles sehen konnte was ich so anstellte, wenn er doch eingeschlossen war.
Ich erhielt darauf keine Antwort, aber alle Erwachsenen die um uns standen lachten.
Später erzählte mir meine Großmutter vom heiligen Geist, der alles sehen konnte und immer über uns schwebte, was mich noch mehr verwirrte. Der Gedanke, dass er alles sehen konnte, war für mich sehr belastend, verursachte  oft ein schlechtes Gewissen  und Schamgefühle und war  später auch der Grund, warum ich meinen Glauben an einen allmächtigen , alles sehenden und wissenden Gott verloren habe, aber dies ist eine gänzlich andere Geschichte.

Im Dorf gab es zwei Kindergärten und zwei Schulhäuser eines für die katholischen Kinder und eines für die Reformierten und natürlich auch zwei Kirchen. Sogar zwei Schwimmbäder! Diese Trennung hatte mir lange suggeriert, dass reformierte Menschen schlechter als katholische sind. Und auch in Gesprächen zwischen Erwachsenen glaubte ich öfter gehört zu haben: "Na ja kein Wunder, er ist schließlich reformiert". Natürlich waren auch alle katholischen Ausländer gute Leute und die reformierten, oder Moslems schlecht...
Erstaunlich hingegen war, dass meine Großmutter mehrere Patenkinder in Afrika finanziell unterstützte, ich nahm folglich an, dass Afrikaner katholisch sein müssen. Die Fotos dieser lachenden schwarzen Kinder habe ich mir oft angesehen und sie schickten auch  Zeichnungen zum Dank für die Hilfe.

Was meine Großmutter von meiner Mutter hielt hat sie mir nie direkt gesagt, aber sie wollte keinen Kontakt mit ihr. Sie hat sie wohl abgelehnt, weil sie nicht katholisch war, allerdings war sie dennoch damals die treibende Kraft, dass mein Vater sie heiraten musste.

Es kam mir so vor als würde sie den ganzen Tag beten. Am Morgen als erstes ein Morgengebet, dann vor und nach jeder Mahlzeit ein Dankesgebet. Am Nachmittag eine lange Andacht und auch am Abend vor dem Schlafen gehen als letztes ein Gebet. Einmal in der Woche kam der Pfarrer zu Besuch und sie beichtete dann. Ich habe mich oft gefragt, was wohl eine so alte Frau noch für Sünden hat, dass sie einmal in der Woche beichten muss, darüber hatte ich die wildesten Fantasien, die aber alle nicht sein konnten, denn sie war meiner Meinung nach so brav und fromm.
Wenn es nachts einmal ein Gewitter gab, stand sie auf und zündete am "Altar", den sie im Schlafzimmer aufgebaut hatte, die Kerzen an, kniete sich davor nieder und betete ein spezielles Gebet, an dass ich mich nicht mehr genau erinnern kann, aber es handelte vom jüngsten Gericht und dem Herrn der auf den Wolken daher geritten kam. Sie hatte immer schon extreme Angst vor dem jüngsten Gericht und ich somit auch. Noch heute wache ich manchmal panikartig auf, wenn es nachts einmal richtig laut und heftig donnert, aber Angst vor Gewitter habe ich eigentlich nicht mehr.

Na ja sie war einfach ein Mensch, der mir sehr gut getan und mir die ersten Lebensjahre liebevoll beigestanden hat. Ich denke gerne an sie und an die unbeschwerte Zeit zurück und an den Halt den ich durch sie hatte.

LG
Epines

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Hobo

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Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #14 am: 06 Dezember 2011, 03:56:41 »

Es ist doch erstaunlich. Ob es nun der Maschendrahtzaun auf Nubis Schulhof in Belgien war, oder meine unsägliche Religionslehrerin oder Epines Erfahrung mit den Reformierten...

Unabhängig von den Familiengeschichten, die da natürlich immer dran hängen, für mich ist es eine kleine Bestätigung, dass es wohl doch nicht nur eine sehr persönliche Erfahrung war. Offensichtlich gab es sowas recht häufig. Alleine, dass in diesem kleinen Forum schon mal drei Menschen ähnliches (im weitesten Sinne) schreiben, das sagt viel aus.

Leider hatten wir früher natürlich keinen Einfluss auf unser Familienleben. Einige hatten großes Glück, so wie ich, andere genau das Gegenteil. Wobei dieses Lotteriespiel heute immer noch das gleiche ist. Und leider immer noch sehr große Schäden anrichtet. Hätten euch meine Eltern damals schon gekannt, sie hätten euch adoptiert und ihr wärt heute meine Schwestern. Und vieles wäre anders.

Aber die Realität geht ihren grausamen Weg, nimmt keine Rücksichten und kann jeden von uns niederschmettern. Aber ja, jederzeit. Selbst einen wohlbehüteten kleinen Prinzen, so wie ich es mal war. Ihr regt mich dazu an, weiter an kleine Geschichten zu denken und ich bin stark beeindruckt von euren Geschichten und eurer Offenheit.

lg
Hobo

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