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Autor Thema: Kleine Geschichten...  (Gelesen 8894 mal)

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Sintram

  • Gast
Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #60 am: 04 März 2012, 17:14:05 »

Geht klar, Hobo, kann ich verstehen, sehr gut sogar.
Kommt Zeit, kommt Geschichte, ein Päuschen schadet nie.

In Jugoslawien, also noch vor dem Krieg, hab ich mal ein Dorffest irgendwo im Nirgendwo der Steinwüste gesehen, da saßen die Leute fröhlich am Tisch zusammen und becherten, sie hatten eine Wasserleitung über die Straße in einen Gebirgsbach gelegt, an dem einen Ende floss der Bach rein, an dem andern strömte das Wasser in ein kleines Mühlrad, das wiederum mithilfe eines Steinzeitmechanismus' an ein Gestell mit großem Bratspieß geknüpft war, an dem sich ein Ochse langsam überm Feuer drehte und rundum knusprig braun wurde, ohne dass wer sich drum kümmern hätte müssen.

Fand ich sehr beeindruckend. :-)

LG
Sintram



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Nicki

  • Gast
Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #61 am: 04 März 2012, 19:58:18 »

Sintrams Geschichte erinnert mich an einen Bauern aus Ungarn, bei dem wir 1991 gezeltet haben.
Er hatte kein fließendes Wasser, nur einen Brunnen, wollte uns aber dennoch moderne Annehmlichkeiten bieten. Er baute ein hohes Gestell, legte zwei Fässer darauf, die mit Wasserhähnen ausgestattet waren und füllte jeden Morgen das Wasser auf. Damit hatten wir Duschen! Morgens mit kaltem, mittags mit lauwarmen und nachmittags mit warmen Wasser.
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Hobo

  • Gast
Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #62 am: 06 März 2012, 20:28:58 »

Ja, kleine Anekdoten passen hier auch gut. Und es sind ja auch diese Erinnerungen, die haften bleiben. Oft nur kleine Dinge, die man ein Leben lang nicht mehr vergisst.

Ich habe eine Weile gezögert, weil es da ein negatives Ereignis und eine schlechte Erinnerung gibt. Es war 1973. Ich hatte noch meinen blauen Käfer und alles war rundum in Ordnung. Meine Schule damals klappte ohne Stress, mein Sport auch, ich glaube ich war bei den Europameisterschaften in Barcelona und ich hatte eine Freundin. Das Leben sah gut aus.

Dann kam eine Einladung zu einer Geburtstagsfeier. Ein Freund aus der Schule hatte uns eingeladen samstags zu ihm zu kommen und schön zu feiern. Ich hatte tatsächlich ein spielfreies Wochenende und los gings. Ich hab auf dem Weg noch einen Kumpel abgeholt und wir sind eher gemütlich über die Landstraße dahin getuckert. Der abgeholte Kumpel hatte eine Zigarette am Start und einen recht großen Blumenstrauß vor der Nase. Konnte ich nicht mit ansehen. Ich habe ihm den Blumenstrauß abgenommen und nach hinten auf den Rücksitz gelegt. Zumindest war das der Plan.

Leider war das in einer leichten Rechtskurve und durch das verdrehen meines Oberkörpers nach rechts hinten hat sich meine Hand am Lenkrad nach links unten verzogen. Nun, der Graben war breit und hätte gereicht. Aber es lag eines dieser großen Abwasserrohre aus Beton drinne. Da sind wir aufgeschlagen. Der Wagen hat sich mehrfach überschlagen, und ist auf dem Dach gelandet. Mein Kumpel ist durch die Frontscheibe geflogen, Sicherheitsgurte gab es damals noch nicht und ich hab den Spiegel abgeköpft und war erst mal weg vom Fenster.

Nun, die Party war abgesagt. Ich weiß erst wieder was, als ich im Krankenwagen durch die Gegend gefahren wurde. Mein Kumpel hatte Schnittverletzungen im Gesicht, aber ansonsten nichts. Bei mir haben sie dann 9 Knochenbrüche, Gehirnprellung und was an der Milz festgestellt. Das Brustbein war irgendwie nicht mehr in der Mitte wo es hingehört, sondern stand irgendwie komisch auf der Seite rum. Es war ein harter Einschlag.

Mein schöner Käfer war Schrott und ich im Krankenhaus, alles in allem so 10 Wochen lang. Aber es ist alles geheilt und nichts, außer ein paar Narben ist zurück geblieben. Ja, das war der stärkste Eindruck und die überragende Erinnerung an das Jahr 1973. Na ja, keine Wunder. Aber das hat man damals weg gesteckt. Ich weiß noch, dass ich in einem Krankenzimmer mit lauter jungen Menschen war. Damals war das so, dass es 6 oder sogar 8 Leute in einem Zimmer gab.

Bei mir im Zimmer lagen 2 Motorradfahrer von irgendeinem Motorradclub, nach einem heftigen Unfall. Da kamen dann jeden Abend Kumpels von denen mit einer Kiste Bier. Die Nachtschwester hat weggeschaut und die haben immer einen abgestellt, der mir eine Bierflasche mit einem Strohhalm festgehalten hat. Die waren lustig. Ich hatte ja beide Arme in Gips und das Gesicht war zugeschwollen. Aber der Strohhalm ging. Und nach der einen Flasche mit Strohhalm bin ein wohl eingeschlafen wie ein Engelchen. Anders wäre das schwer geworden. Das Bein oben am Galgen und die Arme in Gips, da ists nicht ganz leicht zu schafen.

Ja, es waren schöne Wochen. Schmerzhaft teilweise, aber auch jede Erinnerung wert. Ich kann mich sogar noch an einige Gesichter erinnern. Na ja, lange her.

lg
Hobo
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Hobo

  • Gast
Re:Kleine Geschichten...
« Antwort #63 am: 05 April 2012, 11:40:35 »

Hm, eine afrikanische Großkatze meinte, ich solle hier doch mal eine kleine Geschichte mit oder über meinen Vater schreiben. Ja, warum eigentlich nicht...

Ich war wohl gerade 8 Jahre alt. Zumindest so ungefähr. Ich gebe zu, dass ich Alter und Jahreszahlen nicht mehr sehr gut erinnern kann. Es muss also so 1962 gewesen sein. Ich weiß aber noch ganz genau, dass es Herbstferien waren, weil ich unter der Woche bei der Traubenlese war. Gut, ich hab weniger verdient als die älteren, klar. Ich durfte auch nicht Trauben schneiden. Meine Aufgabe war es, die vollen Eimer der Leute zu holen und ihnen wieder einen leeren zu geben. Weil der Logelträger, also der mit dem Riesentrog auf dem Rücken nicht gleichzeitig in allen Zeilen sein konnte. Das natürlich nur, weil es genau zu dieser Jahreszeit das "Weinfest" in unserer kleinen Stadt gab. Das war und ist meines Wissens immer noch das größte Volksfest in der Region. Jede verdiente Mark hab ich gehortet mit der Aussicht, die beim Volksfest auf den Kopf hauen zu können.

Und auf dem größten Platz meiner kleinen Stadt gab es natürlich alles, was die Herzen von 8-jährigen Kindern höher schlagen ließ. Bei uns hieß das "Kerwe". Da gab es wirklich alles. Fahrgeschäfte, Süßigkeiten ohne Ende und alle Arten von Buden die bunt bemalt den riesigen Platz füllten. Ein Paradies für Kinder eben. In diesem Jahr sah es aber nicht gut aus. Mein Bruder war krank. Ich glaube es waren die Masern. Zumindest hat er so ausgesehen, das weiß ich noch genau. Irgendwie nach Marienkäfer, die haben ja auch dieses Punktmuster.

Ich war richtig traurig, weil ich doch 5,- DM von meiner Oma geschenkt bekommen hatte, dass ich mir auf der "Kerwe" auch was leisten konnte. Also nur zum Verständnis, 5,- DM waren zu der Zeit mehr, als es sich heute anhört. Für mich war es damals ein kleines Vermögen. Gut, wir haben auch schon Taschengeld bekommen. So genau weiß ich es nicht mehr, aber ich glaube es waren 50 Pfennig die Woche. Das hat immerhin für 5 "Mohrenköpfe" gereicht, wie die damals politisch unkorrekt hießen. Heute muss man ja "Eiweißschaumbällchen auf Waffel mit Schokoladenüberzug" sagen. Wir kannten höchstens noch "Negerkuss", aber das war nicht gebräuchlich in unserer Region.

Und vor dem großen Fest hatten wir natürlich unser Taschengeld gespart. Einmal Autoscooter hat immerhin 30 Pfennig gekostet. Ich glaube so habe ich rechnen gelernt. Wie oft kann ich Autoscooter mit 5,- DM fahren. Das war eine reale Rechenaufgabe. Wobei, rechnen kann ich heute noch nicht wirklich gut.

Gut, mit dem schwer verdienten Geld der Weinlese und einem weiteren "Zuschuss" einer Tante und auch meiner Eltern war ich richtig reich. Nur, mein Bruder durfte nicht aus dem Bett und wir sind immer alle zusammen gegangen. Tja, da saß dann ich mit all meiner Kohle und war recht stinkig. Aber meine Mutter sagte dann, das ist doch kein Problem, sie bleibt bei meinem Bruder und ich darf mit meinem Vater losziehen. Ich weiß, dass sich das jetzt sehr blöd anhört, aber so richtig begeistert war ich nicht von dem Vorschlag. Weil, ich kannte meinen Vater eigentlich nur vom Abendessen, das bei uns immer recht stumm verzehrt wurde und auch der Abschluss meines Tages war. Danach musste ich ins Bett. Er war morgens schon lange bevor ich aufgewacht bin unterwegs zur Arbeit und kam immer gerade rechtzeitig zum Abendessen nach Hause.

Und wenn wir Kinder Mist gebaut hatte, was wir ehrlich gesagt dauernd machten, dann wurde er als Drohmittel hergenommen von meiner Mutter. Da hieß es immer, wartet nur bis euer Vater nach Hause kommt. Hm, ich denke wir hatten irgendwie angst vor ihm. Aber die Aussicht, doch noch auf das Fest gehen zu können hat meine Angst natürlich verdrängt.

So zogen wir dann los, damals war der Kindertag immer der Sonntag und dann meist so gegen 3 Uhr mittags. Es gab an diesem Sonntag kein Mittagessen für mich, mein Vater sagte, wir werden auf dem Fest was essen. Das war schon mal gut. Da gab es Pommes Frites, die gab es nur dort. Meine Mutter hat die 1962 noch nicht gemacht. Erst später. Aber diese Aussicht war natürlich sehr verlockend für mich.

Vorne, am Zugang zum großen Platz, da haben wir gleich mal angefangen. Der erste Süßwarenstand war meiner. Reich wie ich mich gefühlt habe nahm ich mir ein Körbchen und habe alle die Sachen, die man nur auf so einem Fest kriegen konnte eingesammelt. Natürlich auch für meinen Bruder. Mein Vater hat nichts gesagt, ich hätte gedacht er sagt gleich "übertreibs nicht" oder sowas, aber nein, er hat gelächelt. Und er hat es bezahlt. Ja, ich war sprachlos. Hatte schon aus meinem Umhängegeldbeutel, also Brustbeutel Geld herausgewühlt aber da war schon alles passiert. Er hat dann die große Tüte getragen und gesagt, na, das reicht ja für einen Monat. Gut, ich hatte es wohl übertrieben, aber für einen 8-jährigen war es eine einzige Verführung, alle diese bunten Leckereien. Dann sind wir Autoscooter gefahren. Ich dachte erst, er fährt und darf nur mitfahren. Aber nein, er hat mir etliche Chips gegeben, mich reingesetzt und angeschnallt. Er ist in einem anderen gefahren. Wir sind bestimmt ein Stunde gefahren. Nie mehr in meinem Leben bin ich so lange Autoscooter gefahren. Na ja, heute ist das ja was anderes, da gibt es andere Attraktionen, aber damals war das einer der Höhepunkte.

Dann sind wir an einen Stand gegangen, wo man schon von weitem die Pommes riechen konnte. Es gab Rostbraten mit Pommes, Ketchup und Majo. Es war einfach sensationell. Ich hab sogar eine Cola gekriegt. Und er hat das gleiche gegessen. Meine Mutter hätte schwer rumgemault von wegen ungesund und so. Und Cola war ja ohnehin Teufelszeug. Wir zwei haben das gespachtelt und uns diebisch angegrinst. Dann noch Geisterbahn, Schiffschaukel und Lose, die man unter die Nase gehalten bekam von Männern in grünen Kutten. Hm, an die Kutten erinnere ich mich noch genau, habe aber bis heute keine Ahnung was die bedeutet haben. Mein Vater hat 20 Lose gekauft. Und das 18. war ein Treffer. Wir haben einen Pinguin genommen, der war fast so groß wie ich damals.

Dann war da die Schießbude. Klar, ich wollte unbedingt schießen. Aber da war nichts zu machen. Durfte ich nicht. Er hat mir erklärt, dass Schießen nicht richtig ist. Ich habe ihn auch niemals bei ähnlichen Anlässen schießen sehen. Na ja, er war im Krieg. Gut, er hat mich eine Bude weiter gezogen und da gab es Bälle, die man auf Dosen werfen musste. Wenn man die abgeräumt hat, dann hat man was gewonnen. Wir haben beide geworfen und wir haben einiges mitgenommen an kleinen billigen Plüschtieren. Aber für mich waren es natürlich Trophäen. Ganz am Ende gab es noch ein Kettenkarussell. Sind wir auch noch gefahren. Wow, das ging ab. War das erste Mal, dass ich sowas gefahren bin oder besser geflogen. Und auf dem Rückweg haben wir noch ein paar Runden Berg- und Talbahn gedreht. Vorwärts und rückwärts. Was ein Nachmittag.

Bevor wir uns auf den Heimweg machten hat mein Vater noch was für Mutti und meinen Bruder mitgenommen. Auch Rostbraten mit Pommes und Cola. Dachte mir echt, der traut sich was. Aber meiner Mutter hat nur gelächelt. Und ich, ich hatte keinen Pfennig meines mühsam zusammen gesparten Vermögens ausgegeben. Er hat alles bezahlt. Und von den ganzen Süßigkeiten habe mein Bruder und ich bestimmt eine Woche lang gezehrt. Ich glaube das war der Tag, als ich meinen Vater kennen lernte. Und lieben lernte...

Er war nie leicht zu verstehen. Aber wer ihn richtig kennen gelernt hatte, der hat gewusst, dass man sich immer und blind auf ihn verlassen konnte. Wir haben nie viel miteinander geredet. Aber ich konnte jeden seiner Blicke deuten, jede Bewegung seiner Augenbrauen, das war deutlicher als ein langer Vortrag. Heute weiß ich, dass ich ihm recht ähnlich bin...

Das Leben ist voller kleiner Geschichten, diese ist für meinen Vater.

lg
Hobo




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