Religion und kindliche Sichtweisen
Als Kind sieht man viele Dinge ganz anders als sie wirklich sind und ich dachte und sinnierte immer schon intensiv über die Dinge des Lebens nach, die in meiner kleinen Welt passierten und vieles entsprang auch meiner kindlichen Fantasie.
Der Umstand meiner Zeugung und Geburt war wohl mehr dem Zufall zuzuschreiben als einem Wunsch nach Familie, oder er war total einseitig nur auf der Seite meiner Mutter. Mein Vater hatte sie damals nur auf Druck der Familie geheiratet und da meine Mutter immer berufstätig war und auch bleiben wollte, wussten sie nicht so recht was sie mit mir überhaupt anfangen sollten. Zuerst war die Kinderkrippe aktuell, bis dann meine Großeltern den Vorschlag machten, mich zu sich zu nehmen.
Also lebte ich bis zum Kindergarten bei meiner schwarz katholischen Großmutter, abgesehen davon war es echt paradiesisch, nie ein böses Wort und ein wohlbehütetes Umfeld. Sie und meine Tanten kümmerten sich liebevoll um mich. Leider starb mein Großvater als ich 3 Jahre alt war. Wir wohnten auf einem Bauernhof und da gab es immer viel zu entdecken. Da waren Heuschober, Schweine, Kühe, Hunde und immens viele Katzen. Dem Hund hatten wir einige Kunststücke beigebracht und als er die gut konnte stellten wir Kisten im Kreis auf und luden alle zur Zirkusvorstellung ein. Leider blamierte uns Bella gänzlich, indem sie unkooperativ die Zusammenarbeit verweigerte.
Ich war immer draussen, egal bei welchem Wetter und dies barfuß bis zum ersten Frost, wo mich meine Großmutter zwingen musste Schuhe anzuziehen. Ich hasste den Tag als der Raureif auf den Blättern zum ersten Mal den Winter ankündigte.
Meist spielte ich den ganzen Tag mit den Mädchen in der Nachbarschaft, es gab keine Straßen und Autos die uns gefährlich werden konnten, wir waren wirklich grenzenlos ungezwungen und frei, spielten im Wald auf den Wiesen und in den Reben meiner Tante.
Es gab natürlich auch Jungs in der Nachbarschaft, aber mit denen verbot mir meine Großmutter zu spielen, als ich einmal fragte warum ich dies nicht dürfe, sagte sie:"Weil die reformiert sind!"
Mit Mädchen dufte ich spielen, weil diese ausnahmslos katholisch waren. Also schlussfolgerte ich lange Zeit, dass der Unterschied zwischen Mädchen und Jungs jener ist, dass Jungs reformiert und Mädchen katholisch sind.
Später als ich den wirklichen Unterschied erkannte, gesellte sich dann jedoch die Annahme dazu, dass im "Zeughaus" geheiratet wird, weil es etwas mit dem zeugen zu tun hat. Also musste man dort hin um Kinder zu zeugen, dachte ich. Als ich dann irgendwann lachend aufgeklärt wurde, dass man im Zeughaus nicht heiratet, sondern dass die Rekruten und Soldaten dort ihr "Zeug" für das Militär abholen müssen, kam ich mir ganz schön doof vor.
Bis ich 15 war verbrachte ich alle Schulferien bei meiner Großmutter und wenn ich so zurückdenke, dann lebte ich nur in diesen Ferien, nur da war ich glücklich. Doch je näher das Ende des Urlaubs rückte um so schwermütiger wurde ich und als ich dann jeweils zurück musste, hatte mich die Depression wieder fest im Griff. Im Grunde war ich mehrheitlich depressiv, nur interessierte keinen wirklich wie ich mich fühlte, es wurde über mich bestimmt, wie wenn ich ein Gegenstand wäre und kein fühlendes Wesen.
Meiner Großmutter ging es ähnlich, sie lebte nur noch für mich und die Zeit in der ich da war, war für beide immer unvergesslich schön und schon damals wusste ich wie schwer die Trennung auch für sie war. Ich war 17 als sie starb.
Als ich dann zur Kirche musste, wurde mir schnell klar, dass es auch katholische Jungs gab, meine Cousins zum Beispiel.
In der Kirche waren Frauen und Männer streng getrennt. Links die Frauen und Mädchen, rechts die Männer und Jungs.
Beim Hinausgehen stand der Pfarrer an der Türe und man musste ihm die Hand schütteln, er kannte jeden beim Namen und einmal getraute ich mich zu fragen, ob Gott denn im Altar sei, worauf er dies bejahte und ich dann wissen wollte, warum man ihn einschließen müsse und ob er sonst abhauen würde.
Dieser Gedanken hatten mich nämlich schon beschäftigt seit man mir erzählte, dass der Altar aus echtem Gold war und in ihm ein goldener Becher und ein goldener Teller für den lieben Gott bereit stand. Folglich musste er da drin sein und auch da essen. Ich hätte ihn zu gerne einmal gesehen. Also wollte ich unbedingt wissen, ob meine Annahme stimmte und warum er da drin blieb und wie er dann alles sehen konnte was ich so anstellte, wenn er doch eingeschlossen war.
Ich erhielt darauf keine Antwort, aber alle Erwachsenen die um uns standen lachten.
Später erzählte mir meine Großmutter vom heiligen Geist, der alles sehen konnte und immer über uns schwebte, was mich noch mehr verwirrte. Der Gedanke, dass er alles sehen konnte, war für mich sehr belastend, verursachte oft ein schlechtes Gewissen und Schamgefühle und war später auch der Grund, warum ich meinen Glauben an einen allmächtigen , alles sehenden und wissenden Gott verloren habe, aber dies ist eine gänzlich andere Geschichte.
Im Dorf gab es zwei Kindergärten und zwei Schulhäuser eines für die katholischen Kinder und eines für die Reformierten und natürlich auch zwei Kirchen. Sogar zwei Schwimmbäder! Diese Trennung hatte mir lange suggeriert, dass reformierte Menschen schlechter als katholische sind. Und auch in Gesprächen zwischen Erwachsenen glaubte ich öfter gehört zu haben: "Na ja kein Wunder, er ist schließlich reformiert". Natürlich waren auch alle katholischen Ausländer gute Leute und die reformierten, oder Moslems schlecht...
Erstaunlich hingegen war, dass meine Großmutter mehrere Patenkinder in Afrika finanziell unterstützte, ich nahm folglich an, dass Afrikaner katholisch sein müssen. Die Fotos dieser lachenden schwarzen Kinder habe ich mir oft angesehen und sie schickten auch Zeichnungen zum Dank für die Hilfe.
Was meine Großmutter von meiner Mutter hielt hat sie mir nie direkt gesagt, aber sie wollte keinen Kontakt mit ihr. Sie hat sie wohl abgelehnt, weil sie nicht katholisch war, allerdings war sie dennoch damals die treibende Kraft, dass mein Vater sie heiraten musste.
Es kam mir so vor als würde sie den ganzen Tag beten. Am Morgen als erstes ein Morgengebet, dann vor und nach jeder Mahlzeit ein Dankesgebet. Am Nachmittag eine lange Andacht und auch am Abend vor dem Schlafen gehen als letztes ein Gebet. Einmal in der Woche kam der Pfarrer zu Besuch und sie beichtete dann. Ich habe mich oft gefragt, was wohl eine so alte Frau noch für Sünden hat, dass sie einmal in der Woche beichten muss, darüber hatte ich die wildesten Fantasien, die aber alle nicht sein konnten, denn sie war meiner Meinung nach so brav und fromm.
Wenn es nachts einmal ein Gewitter gab, stand sie auf und zündete am "Altar", den sie im Schlafzimmer aufgebaut hatte, die Kerzen an, kniete sich davor nieder und betete ein spezielles Gebet, an dass ich mich nicht mehr genau erinnern kann, aber es handelte vom jüngsten Gericht und dem Herrn der auf den Wolken daher geritten kam. Sie hatte immer schon extreme Angst vor dem jüngsten Gericht und ich somit auch. Noch heute wache ich manchmal panikartig auf, wenn es nachts einmal richtig laut und heftig donnert, aber Angst vor Gewitter habe ich eigentlich nicht mehr.
Na ja sie war einfach ein Mensch, der mir sehr gut getan und mir die ersten Lebensjahre liebevoll beigestanden hat. Ich denke gerne an sie und an die unbeschwerte Zeit zurück und an den Halt den ich durch sie hatte.
LG
Epines