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Autor Thema: Schon so lange her...  (Gelesen 2499 mal)

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Hobo

  • Gast
Schon so lange her...
« am: 06 Oktober 2011, 20:13:21 »

Ich musste heute richtig rechnen. Du weißt ja, dass ich mir Termine und sowas ohnehin nicht merken kann. Ich hab immer noch diese Kalender. Immer noch aus Papier. Die neuen hast Du ja nicht mehr kennen gelernt. Elektronisch und schick. Meiner ist vom Bäcker, nicht schick, aber er reicht für die wichtigen Termine.

Genau 15 Jahre heute. Unglaublich. Wie die Zeit vergeht. Manchmal kommts mir wie gestern vor. Dieser Anruf. Aber selbst das war typisch für Dich. Du hast immer alles direkt und jetzt sofort und konsequent gemacht. Es war ein Trost, dass Du von einer Sekunde auf die andere gegangen bist. Immerhin kein Leiden und sowas alles. So möchte ich auch gehen. Und ich rücke ein Stückchen näher zu Dir, wo immer Du bist. Ich hoffe ich kriege das auch so hin.

Auch nach der langen Zeit gibt es oft Momente wo Du mir fehlst. Das offene Ohr. Vom Sprechen lernen bis zum Ende. Leider war ich nicht auf dem Friedhof. Ich komme da so schwer hin. Du weißt ja wie ich bin. Aber eine Kerze hab ich angezündet und Dein Bild mit einer Blume geschmückt. Ich denk an Dich, nicht nur heute.

...
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Hobo

  • Gast
Re:Schon so lange her...
« Antwort #1 am: 12 November 2011, 19:31:08 »

Kalender haben Vorteile. Du wärst heute 84 geworden. Als sie gestorben ist, da war es schwer. Für uns alle. Natürlich am schlimmsten für Dich. Ihr wart lange verheiratet. Ich weiß noch genau, wie traurig der erste Geburtstag war. Ich bin extra runter gefahren. Und Du, wie immer, hast mich zum Essen eingeladen und wir haben dann Karten gespielt. Keine Musik, kein Fernsehen. Wahrscheinlich werde ich deshalb diesen Tag nicht mehr vergessen. Mama war gerade mal knapp sechs Wochen tot. Und Du, Du warst es auch. Anders, klar. Aber ich habe es genau gesehen.

Aber Du warst zäh. Fast so zäh wie ich heute. Hast Dich von Nudelsuppen ernährt, weil Du ja nie kochen gelernt hattest. Nur das Essen von Mama. Und ich konnte am Wochenende auch nur das machen, was ich konnte. Wir waren uns so verdammt ähnlich. Malocht, Kohle rein bringen und endloses Vertrauen in den Rest der Welt. Du hattest Glück, ihr hattet euch gefunden und wart fast 60 Jahre zusammen. Ohne Krieg wäre es wohl länger geworden. Und ihr habt 2 Söhne aufgezogen. Und das habt ihr gut gemacht. Besser kann man es nicht.

Leider war ich nicht streng genug mit Dir. Du hättest damals noch einiges ändern können gesundheitlich. Aber ich habe Dir geglaubt, Du hast immer gesagt, Du wärst in Behandlung vom Hausarzt, gerade mal um die Ecke.

Du hast mich belogen. Als es kritisch wurde habe ich mit dem geredet. Nichts hast Du gemacht. Er hat Dir hinterher telefoniert und du warst nie da. Das ist kein Vorwurf. Auch die Lüge werfe ich Dir nicht vor. Ich verstehe es. Du wolltest nicht mehr. Hattest keine Lust mehr aufs Leben. Klar, ohne Mutti. Wie hätte das auch gehen sollen. Heute verstehe ich es besser. Damals war ich echt sauer. In diesen letzten Jahren haben wir mehr zusammen gemacht, als in unserem ganzen Leben vorher. Ich glaube, erst in diesen Jahren, leider viel zu wenigen habe ich Dich richtig kennen gelernt und ich weiß, dass es Dir genauso ging. Was wusstest Du schon von mir? War ja weg mit 17. Und dann nur noch Gast bei euch.

Ich bin froh, dass wir uns doch noch kennen lernen konnten, offen reden konnten, anders als vorher. Du hast es dann noch 5 Jahre lang geschafft. Wie ist mir ein Rätsel. Aber Du warst wirklich ein zäher Hund. Wärst Du noch da, ich würde Dir in den Hintern treten. Hast mich belogen und immer so getan als wärst Du vorbildlich gesund. Ich habe Dir geglaubt. Heute weiß ich es besser. Aber ist ok, Du wolltest es so und es ist kein Problem mehr für mich. Wahrscheinlich hätte ich es genauso gemacht.

Der Apfel fällt nicht weit...

Happy Birthday, Vadder...
« Letzte Änderung: 12 November 2011, 19:40:07 von Hobo »
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Hobo

  • Gast
Re:Schon so lange her...
« Antwort #2 am: 15 Januar 2012, 17:05:04 »

Das Leben ist nicht fair. Meine Schwägerin ist gestern gestorben. Sie ist nur 59 geworden. Sie war die erste und wohl auch letzte Freundin meines Bruders. Gleich morgen will ich hinfahren. Ich habe ihn seit der Beerdigung unseres Vaters nicht mehr gesehen. Wir hatten auch keinen Kontakt. Vielleicht bleib ich auch besser weg? Ich weiß es nicht. Ich mache mich nicht gut auf Beerdigungen. Oder will ich nur wieder kneifen?

Er hat einen Sohn und eine Tochter. Nein, sie beide natürlich. Inzwischen auch Enkel, die ich noch nie gesehen habe. Vielleicht schleiche ich mich auf den Friedhof und verstecke mich hinter den Leuten. Oder ich bleibe hier und denke an sie. Ich kann ihn nicht trösten. Sie haben geheiratet, da war sie 19 er 20. Ich hatte abgeraten und mich damals schon total vertan. Sie waren füreinander bestimmt. Eine glückliche Ehe. Richtig anachronistisch. Er das genaue Gegenteil von mir. Sie eine Heilige, er wohl ein Mensch mit Zielen und Weitblick. Das blonde Mädchen mit einem eisernen Willen. Und sie erwischt es als erste.

Das Leben ist nicht fair...

;((

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Paula

  • Gast
Re:Schon so lange her...
« Antwort #3 am: 15 Januar 2012, 17:45:42 »

och menno, mein lieber Hobobär is traurig *knuddel*

Ich wünsch dir ganz viel Kraft, für morgen die richtige Entscheidung zu treffen - die, die für dich richtig ist!

Ganz liebe Grüße von deinem Paulachen
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Adrenalinpur

  • Gast
Re:Schon so lange her...
« Antwort #4 am: 15 Januar 2012, 23:45:16 »

Also erstmal, das tut mir leid auf wenns nicht rückgängig machen kann oder helfen.

In der letzten Zeit habe ich mich wieder sehr viel mit dem Tod und dem Leben beschäftigt, es ist ein Zyklus der so ist und er hat schlimme und gute Seiten.

Die Gegenwart des Todes fühlen ist vielleicht dazu da, dass man sich des Sinnes seines Lebens besinnt, und man über bestimmte Situationen nachdenkt.

Abschied von Menschen nehmen ist schlimm aber sie wollen nicht dass man so leidet. Wir alle werden diesen Weg gehen uns was bleibt, ist wichtig.  Die gemeinsame Zeit.
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Hobo

  • Gast
Re:Schon so lange her...
« Antwort #5 am: 16 Januar 2012, 00:06:51 »

Schon seit langer Zeit ist mir die Endlichkeit der menschlichen Lebens bewusst. Auch nach langem Nachdenken ist mir die gute Seite des Lebensendes noch nicht so wirklich klar. Sie ist ein natürlicher Vorgang. Nichts weiter. Ein biologischer Körper ist verbraucht und löst sich in Atome auf. Das ist alles.

Die gute Seite kann ich nur dann erkennen, wenn ich das Leben satt habe und mir den Tod wünsche. Die schlechte werde ich ja nicht mehr kennen lernen, bin ja dann tot.

Ja, Abschied ist immer schwer. Auch wenn man Übung hat, so wie ich. Es hat mich doch schwer und unerwartet getroffen. Wieder mal eine Breitseite. Und auch wenn sie das nicht gewollt hätte, ich kann nichts für meine Gefühle. Und ich halte sie für gut und wichtig. Menschen sollen trauen können. Es wäre eine Scheißwelt, wenn wir nicht mehr um unsere Toten trauern würden.

Und ja, ich werde sie nicht vergessen. Sicher nicht. Sie war ein Teil meines Lebens, die Frau meines Bruders. Das vergisst man nicht.

lg
Hobo
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Hobo

  • Gast
Re:Schon so lange her...
« Antwort #6 am: 05 April 2012, 02:00:49 »

Wieder mal der 5. April. Heute ist es 11 Jahre her. Ich glaube es war ein Montag, bin aber nicht sicher. Ich war früh im Büro, hab Tagesplan oder sowas gemacht und dann kam der Anruf. Der Oberarzt aus der Klinik sagte mir "ihr Vater stirbt". Ich weiß noch, dass ich sehr verwirrt war. Ich dachte eigentlich entweder jemand ist tot oder er lebt noch. Auf meine Frage sagte mir der Arzt, dass er aufgrund seiner klinischen Erfahrung sagen kann, dass mein Vater diesen Tag nicht überleben wird.

Das war so gegen 7 Uhr morgens. Ich hab mir vorläufigen Urlaub genommen, bin mit der Bahn nach Hause gefahren, ins Auto gesprungen und losgedüst. Erst bin ich viel zu schnell und wie ein Irrer gefahren. Aber irgendwann hat das aufgehört. Ich glaube erst dann wurde mir klar damals, was mir der Arzt da gesagt hatte. Auf der Hälfte der Strecke gibt es eine Raststätte. Da bin ich rausgefahren und hab erst mal eine Magenpause gemacht. Ziemlich lange, bis nur noch Galle rauskam. Dann hab ich einen Kaffee geholt und bin weiter gefahren. Aber nicht mehr auf der letzten Rille, ganz normal.

Ich kam so gegen 9 Uhr an. Er lag im Bett, sie hatten Gestelle um sein Bett geschoben mit Vorhängen, dass die andere zwei Patienten nicht vom Tod belästigt werden. Ich hab mich an das Bett gesetzt und seine Hand gehalten. Wenn er wach gewesen wäre hätte er das niemals zugelassen. Da war er eigen. Aber er war schon komatös.

Gegen 17 Uhr abends wurde er wach, wollte sich aufrichten und hat aufgehört zu atmen. Es war der Tag meines 47. Geburtstags. Bei meinem Halbhirn ist das wohl ein Wink des Schicksals gewesen. Ich kann den Todestag meines Vaters nicht mehr vergessen. Außer ich vergesse meinen eigenen Geburtstag...

Elf Jahre sind eine lange Zeit. Aber auch heute noch ist es ein besonderer Tag. Es ist sein Tag. Ich kann lächeln, die Trauer ist vorbei fast, ich kann mich erinnern an seine schrulligen Eigenheiten, an seine Unfähigkeit die Wohnung in Ordnung zu halten und an seine schlimmen Versuche für sich etwas zu kochen. Er hat nie gelernt eine Waschmaschine zu bedienen, er konnte gerade mal Nudeln und Würstchen warm machen. Ja, genau wie ich...

Ich fahre nicht an sein Grab. Ich glaube nicht an diesen Kult. Ich denke heute an ihn, werd eine Kerze anzünden und mich an alte Zeiten mit ihm erinnern. An schöne, gute Zeiten, wir hatten einige. Und ich rücke ein Stückchen näher an ihn, vielleicht hält er mir ein Plätzchen frei, da wo er jetzt ist...

... Hobo
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Paula

  • Gast
Re:Schon so lange her...
« Antwort #7 am: 05 April 2012, 09:51:24 »

Schnell eine Kerze anzünden und hier her stellen, ganz still und leise ...

Es ist gut, dass du viele schöne Erinnerungen an deinen Vater hast. Genieße die Zeit mit ihm heute!

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