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Autor Thema: Niemand mehr da  (Gelesen 477 mal)

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Relativ_139

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Niemand mehr da
« am: 25 Oktober 2013, 20:04:53 »

Die Geschichte beginnt auf eine besondere Weise.
Sie war ein scheinbar glückliches Mädchen, eine gute Schülerin, wunschlos glücklich. Aber das täuschte. Sie verstellte sich jeden Tag, um kein Aufsehen zu erregen. Sie wollte sein wie jede andere in ihrem Alter. Normal.
Es kam immer mehr. Jede Sekunde verbrauchte sie gegen ihren Willen, wartete nur auf den Tod. Die Menschen um sie herum merkten es nicht, lachten mit ihr und feierten. Niemand sah in das Mädchen herein, niemand besaß die Macht, in ihre Seele zu blickten. Keiner wusste, in welcher Qual sie jeden Tag lebte, was sie jeden Tag durchmachte. Minderwertigkeitsgefühle, Suizidgedanken, Angstzustände, der Drang nach Perfektion. Depression.
Niemand, selbst nicht ihre Mutter, spürten diesen Kampf in ihr. Dieses Mädchen lächelte, wenn sie weinen wollte. Und weinte, wenn sie lachte. Sie war verändert worden von all ihren Mitmenschen, alle, die zu ihr Kontakt hatten. Alle, die in ihrer Vergangenheit neben ihr gingen. Und doch nicht an sie herankamen.
Sie wollte reden, aber niemand wollte mit ihr reden. Auf einmal wollte niemand mehr was mit ihr zu tun haben, nachdem sie geweint hatte. Und das hatten nicht alle mitbekommen, nur ihre angeblich beste Freundin. Und dann galt sie als Opfer. Die Jungs riefen ihr nicht mehr „Schönheit“ hinterher, sondern „Hässlichkeit“. „Igitt, wie kannst du dich mit der abgeben?“ – Alltag. Mobbing. Cyber-Mobbing. Doch dieses Mädchen litt in sich hinein. Sie redete jetzt erst recht mit niemandem mehr, verschanzte sich, wurde zur Einzelgängerin. Sie weinte immer mehr, in der Einsamkeit ertränkt. Sie weinte um ihre Tante, um ihre drei Freundinnen, die gestorben waren, deren Verlust sie nie verkraftet hatte. Und sie galt dadurch als dumm, hässlich, naiv, und krank.
Sie schottete sich ab, so sehr, dass bald niemand mehr zu ihr Zugang hatte. Selbst ein Lehrer, dem sie zuvor alles erzählt hatte, konnte nicht mehr mit ihr reden. „Musik an, Welt aus.“ So lebte sie. Mit Ignoranz im Rücken ging sie durch die Schule, neben ihr der Tod.
Dieses Mädchen fand nie den Ausgang aus dem Schulgebäude. „Du dummes Kind!“ – „Verpiss dich von hier!“ – „Niemand will dich sehen!“ – „Wer braucht schon so was Krankes wie dich?“
Sie kam mit Fahrrad zur Schule und musste mit Bus zurückfahren. Die Reifen ihres Rades wurden aufgestochen.
Sie hatte Geld dabei, das sie für einen Klassenausflug abgeben musste. Es kam bei einem anderen Schüler an, aber nie beim Lehrer.
Sie besaß eine teure Jacke, dann musste sie im Regen stehend frieren.
Einer hatte ein neues Taschenmesser dabei, und die Klinge wurde von ihrem Blut beschmutzt.
Ihre Tasche wurde im Mülleimer entleert.
Nichts, was absurd erschien, hatte sie noch nie erlebt. In der ganzen Schule bekannt, riefen alle ihren Namen hinterher. Aber nur die Schulleitung wurde nicht eingeschaltet. Niemand ergriff Maßnahmen.
Sie kam jeden Tag zur Schule. Nur selten war sie krank, sie hatte das Gefühl, sie musste da sein. Wenn sie nicht da wäre, würden alle nur noch mehr lachen. Sie durfte keinen Fehler machen, nicht auffällig sein. Irgendwer würde es sehen und weiter erzählen.
Es war ein verregneter Morgen, an dem sie nicht zur Schule kam. Und den nächsten Tag war sie auch nicht da. Die ganze Woche fehlte sie. Am Montag wurde sie immer noch vermisst.
Die Lehrer wussten Bescheid. Das Mädchen war am Samstagabend verschwunden, ihre Leiche wurde hängend in einem Wald gefunden. Die Erwachsenen redeten in Anwesenheit von Schülern nicht darüber. Sie sollten denken, es wäre nur eine Krankheit, denn sie wussten ja vom Mobbing. Die meisten fühlten sich schuldig, nie etwas unternommen zu haben. Doch dieser Lehrer, der als letzter Mensch Zugang zu ihr hatte, hatte starke Schuldgefühle. Er wusste, was geschehen war, wie es ihr mit all dem erging. Er hatte ihr gut zugeredet,  ihr mental geholfen, wie er nur konnte. Aber nie hatte jemand etwas höheres eingeschaltet. Nie.
Da war diese Klasse. Die diesem Mädchen das Leben heftig zur Hölle gemacht hat. Ihr Ex war unter ihr. Er lachte, seine Freunde lachten. Während sie gemobbt wurde, während sie weinte. Während die Schüler erfuhren, was mit ihr geschehen war, lachten sie. „Feiges Miststück!“
Und dann kam die Begegnung zwischen dieser Klasse und diesem Lehrer. Der Mann war normal, scheinbar. Machte normalen Unterricht, bis er auf dem Zettel des Ex-Freundes ihren Namen las. Kurz hielt er inne, fuhr fort. Doch die Schüler merkten es. Natürlich wollten sie wissen, warum er bei ihrem Namen innehielt. „Ich kannte sie gut.“
„Wie gut?“
„Sehr gut.“
Der Ex-Freund wurde ruhig. „Was hatten sie mit ihr zu tun?“
„Sie hat mir ihre Geschichte erzählt. Was man mit ihr gemacht hatte.“
Jetzt wurde die ganze Klasse ruhig. Ein völlig übertrieben geschminktes Mädchen kicherte und sagte: „Was soll man ihr schon angetan haben?“
Und er erzählte. Er wiederholte alles, was sie ihm damals erzählt hatte, warum sie weinte und wie ihr Leben deswegen eine völlige Wendung nahm. Wie sie von der Schönheit zur Hässlichkeit wurde.
Noch nie hatte ein Lehrer es geschafft, eine ganze Klasse zum Schweigen zu bringen. Man hätte eine Nadel auf dem Mond fallen hören können.
Durch dieses Mädchen wurde eine Initiative ergriffen, gegen Mobbing vorzugehen. Zumindest plante die Schule eine solche. Der Lehrer verfasste aus ihrem Leben einen Text, den er auf die Homepage stellte. „Wir können Schülern dadurch vielleicht den Mut geben, sich an jemanden zu wenden und Schlimmeres verhindern.“ – „Dieses Schicksal ist schrecklich genug für alle Menschen, es muss sich nicht wiederholen!“
In der Klasse des Mädchens war es anders. Die aufgedrehten, manchmal „zurückgebliebenen“ Schüler waren ruhig, hörten auf den Lehrer. Das Mobbing ließ nach. Dann kam die Begegnung zwischen dem Lehrer und dieser Klasse.
Der Lehrer war in der Klasse bekannt und beliebt. Als er nach über zwei Jahren wieder Unterricht bei ihnen hatte, war er überrascht. „Diese Klasse schien mir umerzogen gewesen.“
Es kam dann zur Klassenliste. Ihr Name stand dort. Gebannt schauten alle nach vorn, was nun geschah. Ihre ehemalige Freundin saß vorn und flüsterte: „Niemand hier hat sie vergessen.“ Alle hörten es. Jeder sah, wie dem Mädchen eine Träne herunter lief, doch niemand lachte. Todesernst warteten alle auf etwas. Irgendwas. Noch eine Träne. Niemand lachte. Niemand bezeichnete das Mädchen als hässlich, dumm oder naiv. Krank schon gar nicht.
Der Lehrer strich ihren Namen auf der Liste durch, es gab sie nicht mehr. Es hieß, ihr Geist würde in der Schule bleiben, dort, wo sie den ihr wichtigen Menschen nah sein konnte.

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Diese Geschichte beruht bis an die Stelle vorm Suizid auf wahrer Begebenheit. Genauso ist es wahr mit der Klasse, mit dem Lehrer, der alles wusste und der hyperaktiven Klasse. Ich weiß nicht genau, warum ich diese Geschichte geschrieben habe, ich hab sie einfach aufgeschrieben. Aufgeschrieben und geheult, weil ich diese Geschichte so grässlich finde.

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Relativ_139

  • Gast
Re: Niemand mehr da
« Antwort #1 am: 25 Oktober 2013, 20:20:58 »

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Dieser Lehrer, von dem die Rede ist, wusste zwar Bescheid, und dieses Mädchen hat ihm vertraut. Es ist vielleicht ein bisschen irritierend, wenn man sagt, keiner. Aber selbst dieser Lehrer konnte nicht in ihre Seele blicken. Sie konnte zwar erzählen, er konnte alles glauben und versuchen, ihr gut zuzureden, aber in ihre Seele blicken konnte er nie.
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