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Autor Thema: Teilzeit-Marionette  (Gelesen 1166 mal)

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Dom Cobb 77

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Teilzeit-Marionette
« am: 04 November 2019, 17:46:04 »

Irgendetwas muss sich in meinem Leben ändern.
Damit meine ich keine Karriere.
Keine Beziehung. Kein neues Auto.
Ich brauche einen Sinn. Eine Aufgabe.
Damit meine ich keinen Job.
Keine Arbeit. Keinen neuen Chef.
Irgendetwas muss sich in meinem Leben ändern.

Ich gehe durch die Stadt und fühle mich leer.
Ich habe das Gefühl beobachtet zu werden.
Bin ich paranoid?
Ich habe das Gefühl angestarrt zu werden.
Habe ich Angst? Nein.
Hat man jegliche Hoffnung verloren, lebt aber trotzdem resigniert weiter - ist auch alle Angst verloren.
Resignation schafft Freiheit. Das Fehlen jeglicher Verbindungen zu positiven Gefühlen schafft in mir eine ebene Fläche die neu benutzt werden darf. Resignation ist ein Leerlauf. Man kann alles neu betrachten. Resignation ist ein verloren gehen von Gefühlen, welches mir erlaubt frei zu sein und neu zu bewerten.

Sehe ich all diese Leute mit Ihren anonymen, entmenschlichten, unzufriedenen, verwerflichen Blicken, wäre ich gern jemand oder etwas anderes.
Ich gehe in verschiedene Geschäfte, Modeläden, Kaufhallen, Kaufhäuser, Läden, Boutiquen, Einkaufstempel.
Ich schaue mir Dinge an. Die ich mir nicht leisten kann. Dinge, die ich nicht brauche.
Parfüms, Fernseher, DVD-Player, DVD-Recorder, Laptops, Notebooks, Marken-Pullover, Designer-Hosen, Designer-Brillen, Designer-Klobrillen.
Es gibt so viel. Es gibt zu viel.
Hält man alles für nichtig, einschließlich seiner eigenen Existenz - ist man trotzdem nicht konsequent genug.
Der Überlebenstrieb ist stärker als man denkt.

Deine Eltern sterben beim Flugzeugabsturz.
Du willst Leben.
Deine Freundin verlässt Dich.
Du willst Leben.
Dein Chef entlässt Dich.
Du willst Leben.
Dir passiert alles auf einmal
Du überlegst. Du hältst inne. Du willst Leben.

Irgendetwas muss sich in meinem Leben ändern.
Vielleicht brauche ich doch wieder eine Beziehung.
Zärtlichkeit.
Abhängigkeit.
Sex.
Streit.
Sich selbst in einer Beziehung belügen, um der Illusion entgegenzuwirken, nicht einsam zu sein.
Doch Du bist immer einsam.
Auch wenn Du eine Frau hast.
Eine Geliebte. Einen Geliebten. Ein Haustier. Irgendjemanden oder irgendwas.
Denn jeder ist erst mal sich selbst der Wichtigste.
Du bist an zweiter Stelle.
Zweitrangig.
Sekundär.
Du bist immer ein abgesondertes Individuum. Oder sagen wir einfach: einsam.
Gewöhn Dich dran.
Liebe Dich selbst. Versuche es.

Eine Beziehung ist für mich nicht in realistischer Reichweite.
Ich entspreche nicht dem Schönheitsideal der Werbung.
Ich bin nicht schön genug.
Für die Werbung wäre meine Erscheinung eine Schwierigkeit, eine Problemstellung. Eine Herausforderung.
Für die Frauen ist meine Erscheinung unscheinbar. Dem Geschlechtsverkehr nicht würdig. Zumindest nicht unentgeltlich.
Ich bin die Antithese des Mannes. Die Antithese der Männlichkeit.
Was ist eigentlich männlich?
Ich fühle mich nicht männlich. Gut so.

Irgendetwas muss sich in meinem Leben ändern.
Jedoch ohne dass ich dabei auf den Weg einer Karriere komme.
Ich möchte dem Sog der allgemeinen Materialanhäufung entkommen.
Ist schwierig. Man benötigt einen starken Willen. Man muss sich gegen jeden behaupten.
Allgemeine Materialanhäufung ist gesellschaftliche Normalität.
Ist Normalität.
Wie Atmen, Fressen, Kacken und Ficken.
Arbeite. Konsumiere. Denk nicht über andere Dinge nach. Dein Leben. Deine mögliche Bestimmung. Leiste Dir endlich Deinen Plasmabildschirm! Marc hat doch auch schon längst einen, inkl. dem ein oder anderen Auswuchs am Hand- oder Hirngelenk durch die abwechslungsreiche, ausfüllende und interessante Fliessband-Nachtschichtarbeit.

Aber was will ich eigentlich werden? Wirklich machen? Welche berufliche und somit soziale Position in dieser Gesellschaft einnehmen? Leider geht der soziale Status mit dem beruflichen Hand in Hand. Ich fühle mich wie der Abteilungsleiter meines Lebens – nur in der falschen Abteilung.

Vielleicht möchte ich ja einfach nur schreiben. Aber worüber schreiben. Alles ist bereits geschrieben. Es existieren immer nur leichte Varianten des schon Vorhandenen. Alle Sätze, alle Satzkonstellationen gibt es bereits – nur in anderen Ordnungen. Mit dem Schreiben ist es ähnlich wie mit dem Schachspiel. Unzählige Kombinationen sind möglich. Im Roman sind es Wörterkombinationen. Der Roman als Schachpartie. Aber verdammt, ich will für mich schreiben, keinen Markt, der gerade die Bedürfnisse derer bedient, die zu Recht dieser Realität zu entfliehen versuchen. Schreiben - nur für mich. Als eine Art Therapie. Schreiben ist die Konfrontation mit dem Ego. Im Grunde genommen ein sehr intimer Vorgang. Andere daran teilhaben lassen, heißt einen Teil von sich freizugeben. Einen Teil von sich zu verkaufen. Die Hure verkauft nur ihren Körper. Der Schriftsteller einen Teil seiner Gefühle, Intimsphäre. Seiner Seele. Der Schriftsteller als intellektuelle Schlampe. Mein Hirn als Vagina.

Apropos Vagina: Auch meine Freundin hat sich meiner entledigt. Das passiert, wenn man im Laufe der Jahre auch mal Zeit für sich selbst beanspruchen möchte, nicht immer en vogue sein will, hipp sein, keine DSDS-Botox-Behandlung gespritzt bekommen möchte und auch keinen Blick auf abgehalfterte Z-Promis in irgendwelchen Pampa-Camps schauen will, bei denen man seinen Hirnschwund ähnlich wie bei einem Drogen- oder Betäubungsmittelcocktail verspüren kann. Wenn man das gemeinschaftliche Fernsehprogramm boykottiert, gliedert man sich auch gleich ein kleines Stück aus. Sogar aus der Lebensgemeinschaft mit seiner Partnerin. Weil sie im Laufe der Jahre erkennt, dass man den größten Teil ihrer liebsten medialen Unterhaltung als Schund angesehen hat. Das Versteckspiel klappt ein paar Jahre mit einem verschmitzen Lächeln und gespielter Anteilnahme ganz gut, wenn wieder DSDS oder Das Supertalent läuft. Ja, klingt arrogant. Ist arrogant. Es muss ja auch nicht immer Magnolia, 21 Gramm oder American Beauty sein. Es muss ja nicht immer ein Synapsensturm stattfinden. Aber gelegentlich sollte es das.

Laut Paul Watzlawick gibt es ein Metakommunikatives Axiom. Demnach ist es nicht möglich, nicht zu kommunizieren. Da es kein Gegenteil vom Verhalten gibt, kommuniziert man nämlich immer auf irgendeine weise. Es muss sich um wohl eine seiner wenigen Fehleinschätzungen handeln. Saß ich mit meiner Freundin in einem Raum, schafften wir es gelegentlich dieses Axiom zu widerlegen. Gegen Ende unserer Beziehung wurden wir Meister, fast schon Künstler dieser Widerlegung.
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