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Autor Thema: Langjährige Einnahme von Psychopharmaka: ein Hindernis?  (Gelesen 1381 mal)

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Ina

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Langjährige Einnahme von Psychopharmaka: ein Hindernis?
« am: 14 September 2022, 17:57:57 »

 
Seit ungefähr 17 Jahren nehme ich Psychopharmaka. Jeden Tag. Ich habe fast die ganze Palette an Medikamenten (Antidepressiva, Neuroleptika und andere) durch. In den letzten ca. zehn Jahren hat es sich auf drei Psychopharmaka „eingependelt“ und es gab nur hin und wieder etwas anderes als Bedarfsmedikation. Inzwischen habe ich einfach keine Lust mehr, meinem Körper so viele Tabletten zuzumuten und möchte davon wegkommen, da ich ohnehin nicht den Eindruck habe, dass sie wirklich helfen. Verschiedene Symptome haben in dieser langen Zeit weiterhin bestanden. 2021 habe ich ganz langsam Lamotrigin ausgeschlichen. Seit 2022 bin ich frei davon. Es gab einige Absetzerscheinungen, aber psychisch hat es mir auf lange Sicht nicht geschadet. Es hat sich nichts dadurch geändert, dass ich es nicht mehr nehme. Jedenfalls nichts, was so gravierend ist, dass ich oder die Menschen in meinem näheren Umfeld eine Veränderung wahrnehmen. Körperlich hat sich hingegen durchaus etwas geändert: Meine Kopfschmerzen sind nicht mehr so stark. Ich habe zwar nach wie vor jeden Tag Kopfschmerzen, da diese ja psychische Ursachen haben, aber das Lamotrigin hat den Schmerz offenbar enorm verstärkt. Meinen Schmerzmittelkonsum konnte ich seit Anfang 2022 ungefähr auf die Hälfte oder sogar weniger reduzieren. Dazu gehörte allerdings auch ein hohes Maß an Willensstärke und Durchhaltevermögen und manchmal ist es eine echte Quälerei. Was für mich zählt, ist aber das Ergebnis.

Psychopharmakon 2, welches ich seit über elf Jahren einnehme, habe ich in den letzten Monaten auf die Hälfte reduziert. Bei der hohen Dosis ist das schon ein echter Erfolg für mich. Dieses Medikament möchte ich auch nicht komplett absetzen, weil es mir durchaus hilft. Zwischenzeitlich (schon länger her) hatte ich es kurzfristig abgesetzt, aber damit ging es mir gar nicht gut. Heute habe ich angefangen, Medikament 3 (Risperidon) zu reduzieren. Statt einer ganzen habe ich nur eine dreiviertel Tablette genommen. Ich nehme es nun schon seit 13 Jahren und glaube nicht, dass ich es noch brauche bzw. dass es überhaupt etwas bringt. Ich werde es nun ganz langsam ausschleichen, also wirklich langsam, denn immer wenn ich es mal vergessen habe, bekam ich sehr starke Kreislaufprobleme. Daher möchte ich mir damit viel Zeit lassen. Wenn ich merke, dass es mir ohne das Medikament schlechter geht und die „alten“ Symptome verstärkt auftreten, kann ich es ja wieder nehmen.

Ich frage mich, ob Antidepressiva und andere Psychopharmaka auch ein Hindernis beim Gesundwerden darstellen können, wenn man sie über einen so langen Zeitraum einnimmt. Dass sie – je nach Medikament – in „Krisenzeiten“ eine echte Hilfe sein können, begleitend zu einer Psychotherapie unterstützend wirken können und einen in mancher Lebenslage regelrecht „retten“ können, indem man damit das Schlimmste überbrückt, stelle ich nicht infrage. Ich bin auch keineswegs ein Gegner solcher Medikamente. Aber ich halte es für wichtig, bei einer medikamentösen Langzeittherapie öfter mal zu überprüfen, ob man das jeweilige Mittel wirklich noch braucht, ob es (noch) hilft und wie der Körper (inzwischen) darauf reagiert. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte das Lamotrigin schon ein paar Jahre eher abgesetzt und seitdem weniger starke Kopfschmerzen gehabt, hätte ich eine sehr viel höhere Lebensqualität gehabt, da mich die Schmerzen oftmals stark eingeschränkt haben. Das tun sie heute auch noch, aber nicht mehr in einem solchen Ausmaß. Mir war allerdings nicht bewusst, dass das Medikament die Schmerzen verstärkt hat, da es auch nicht von Anfang an so war, sondern sich über Jahre unbemerkt so eingeschlichen hat. Ich hatte es eher auf die seelischen Belastungen in dieser Zeit zurückgeführt, was zum Teil sicher auch richtig ist. Auf die Medikamente hätte ich es nicht zurückgeführt und habe es eher durch Zufall herausgefunden, nachdem ich es abgesetzt hatte.
 
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Mira

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Re: Langjährige Einnahme von Psychopharmaka: ein Hindernis?
« Antwort #1 am: 17 Oktober 2022, 16:28:17 »

Hallo Ina,

Deine Frage ist schwer zu beantworten. Zu den Psychopharmaka gehören auch Benzodiazepine, also Valium usw. Diese sollte man auf keinen Fall langfristig einnehmen, weil man leicht in die Abhängigkeit gerät. Das bedeutet, dass deren Wirkung in relativ kurzer Zeit nachlässt, die Dosis erhöht wird und somit sich auch die Nebenwirkungen erhöhen bis hin zum Atemstillstand und derartigem. Kurzfristig werden diese Psychopharmaka auch heute noch eingesetzt in sehr schweren Krisen, darunter einem Herzinfarkt. Kenne auch jemanden, der sogar von Tegretal (Carbamazepin gegen Epilepsie) süchtig wurde.

Was Neuroleptika und Antidepressiva betrifft, besteht bei ihnen keine Gefahr einer Abhängigkeit in diesem Sinne. Dennoch gilt die Regel: "keine Wirkung ohne Nebenwirkung". Insofern verstehe ich Deine Frage sehr wohl. Es ist sicher nicht ausgeschlossen, dass sich Nebenwirkungen erst nach längerer Zeit der Anwendung bemerkbar machen. Ich selber nahm das Antidepressivum Sertralin viele Jahre ein, bis ich allmählich massive Magen-Darm-Probleme bekam. Nach Ausschleichen verschwanden diese. Sertralin wird im allgemeinen gut vertragen.

Auch ich, beruflich ein kleines Schräubchen aus dem Pharmabereich, bin dafür, möglichst gar keine Medikamente einzunehmen. Dennoch sollte ich dabei bedenken, dass Medikamente in vielen Fällen hilfreich und lebensrettend sind. Aus der Weidenrinde wurde ihr Wirkstoff extrahiert und danach chemisch hergestellt unter dem Namen Aspirin. Der Vorteil des Aspirins gegenüber dem Naturprodukt liegt darin, dass der Wirkstoff exakt festgelegt ist. Bei Naturprodukten, aus denen viele Medikamente entwickelt wurden, ist die Wirkstoffmenge nicht bekannt.

Diese Überleitung benötigte ich, um auf das "Naturprodukt" Mensch zu schalten. Denn jeder Mensch ist nicht nur vor dem Gesetz ein Individuum sondern auch von seinem gesamten "Aufbau" gleichsam ein hochkomplexes Chemie- und Physiklabor. Insofern kann die Medikation sich nur auf sehr langwierige Studien bis zur Zulassung stützen und danach eben auch auf Erfahrungswerte, die in vielem übereinstimmen, allerdings mit eher seltenen Abweichungen von der statistisch errechneten Regel.

Oberhalb der Apotheke, in der ich überwiegend arbeitete waren mehrere Arztpraxen, darunter auch eine psychiatrisch-neurologische. An deren Tür befand sich ein Aushang: "Nebenwirkungen von Schokolade" mit einer langen Liste. Dickmacher, Zahnrasur und vielen anderen. Anscheinend waren die Ärzte dieser Praxis gewohnt, dass ihre Patienten keine Medikamente mehr einnehmen wollten, denn sie fühlten sich wohl.

Genau darauf will ich heraus. Meiner Meinung nach halte ich den behandelnden Arzt für die richtige Fachkraft, um Fragen der Medikation zu besprechen. Vermutlich kennt er die persönliche Leidensgeschichte gut und kann sie einordnen. In München gibt es sehr viele Psychiater. Dennoch muss man auch hier oft sehr lange auf einen Termin warten. An Patientenmangel leiden sie hier alle nicht.

Man mag geteilter Meinung sein bezüglich der Pharmaindustrie. Zweifellos für mich ist, dass sie unser aller Leben deutlich verlängert hat. Ohne Antibiotika wäre ich schon längst nicht mehr am Leben, um nur ein Beispiel zu nennen. Die werden mir nicht laufend verordnet sondern nur nach Bedarf.

Du schreibst, dass Du Risperidon reduzierst. Es spricht nichts dagegen, solches auszuprobieren.  Du schreibst: "Ich frage mich, ob Antidepressiva und andere Psychopharmaka auch ein Hindernis beim Gesundwerden darstellen können, wenn man sie über einen so langen Zeitraum einnimmt." Genau das kann ich nach bestem Wissen und Gewissen nicht beantworten. Du wirst Dich noch erinnern können, wie es Dir ging, bevor Du in ärztliche Behandlung kamst. Vermutlich war das kein Honiglecken.

Für mich nehme ich zum Maß, dass eigentlich alle Leute völlig gesund sind. Das ist jedoch ein Trugschluß. Es gibt auch kleine Kinder, die von Geburt an krank sind aus den verschiedensten Gründen. Nur bekommt man sie meist nicht zu Gesicht. In meinem Wohnviertel gibt es ein kleines Mädchen im Kinderwagen, das ohne jeden Anlaß wie am Spieß durchdringend schreit. Denke nicht, dass das ein Erziehungsfehler seitens der Eltern ist. In der Glamourwelt wird uns vorgegaukelt und wir fallen darauf herein, wir müssten in allem, was geschauspielert wird das Wasser reichen.

Es ist auch normal, nicht völlig gesund, auf Medikamente angewiesen zu sein.

Liebe Grüße

Mira
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Mira

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Re: Langjährige Einnahme von Psychopharmaka: ein Hindernis?
« Antwort #2 am: 18 Oktober 2022, 01:18:48 »

Muss mich korrigieren, denn bei mir brechen Gedanken oft ab. Es ist natürlich nicht so, einmal depressiv immer depressiv, einmal psychotisch immer psychotisch. Habe bei Wikipedia oder so gelesen, dass viele Menschen mal einen psychotischen Schub bekommen. Ich selber war wohl mehrfach davon betroffen, allerdings jeweils von so kurzer Dauer, dass er von alleine verschwand bis ich zum Arzt kam. Dort oder irgendwo anders habe ich also gelesen, dass solch eine Veränderung der Psyche bei manchen reversibel also rückgängig ist. Insofern wäre es durchaus einer Überlegung wert, ob Du Deine Medikamente reduzieren könntest. Dies natürlich abgestimmt mit dem Dich behandelnden Arzt. Was zu tun ist, sollte es Dir nach der Reduktion wider Erwarten schlechter gehen.

Ob eine langjährige Einnahme von Psychopharmaka ein Hindernis zur Erreichung von völliger Gesundheit ist, kann am besten Dein Dich behandelnder Arzt beantworten. Es ist sein Fachgebiet, er hat Sachkenntnis und die Möglichkeit viele Patienten und deren Verlauf zu vergleichen. Er hat Dich doch auch unterstützt, als Du Lamotrigin ausschlichst. Insofern wirkt er auf mich als Außenstehende sehr vertrauenswürdig.

Das ist jetzt sehr banal, dass ich zu unserer Ernährung rüberwechsle. Aber ist es nicht so, das viele Menschen individuell manche Lebensmittel nicht vertragen? Inzwischen weiss man von vielen Intoleranzen. Lactose, Fructose, Gluten usw. Da sollten die davon betroffenen Menschen bestimmte Lebensmittel vermeiden. Auch wer zur Bildung von Nierensteinen neigt, sollte auf Nahrungsmittel, die Oxalsäure enthalten verzichten, also Rhabarber, Rote Bete usw. Also ist ein Verzicht auf gewisse Lebensmittel bei manchen gesundheitsfördernd.

Umgekehrt ersetzen viele Psychopharmaka Botenstoffe, die dem jeweiligen Körper anscheinend fehlen. Das mit dem Gesundsein ist wirklich eine Sache für sich, die bei weitem nicht auf alle zutrifft. Man sieht es nur den meisten nicht an.

Wünsche Dir, dass es mit der weiteren Reduktion der Medikamente klappt.

Grüße, Mira

 
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