Der geschlossene Kreis
Dieses eine Mal schloss sich der Stromkreis. Ich schlief noch am selben Abend oder Tags darauf in einem Doppelzimmer am Ende des Flurs, umgebettet in die Offene. Mein Zimmerkollege, ein wohlbeleibter gutmütiger Dachdecker mit kaputten Knien und schwerer Depression, ist von seinen Sägearbeiten des nachts einmal abgesehen sehr ruhig, die Station ist relativ hell und geräumig, das Personal sehr freundlich und aufmerksam, das Essen gut.
Immerhin ist es mir wie auch immer gelungen, mein Telefon anzumelden. Ein Freund ruft mich an. Wie es mir denn mittlerweile ginge. Nun, sage ich , besuch mich doch mal. Grade will ich ihm die Stationsnummer nennen, als er meint, er hätte mich doch bereits besucht und ob ich das denn vergessen hätte.
Es dauert ein Weilchen, bis bruchstückhafte Erinnerungen in meinem tauben Kopf auftauchen, auch die Zigarettenstange, die er mitgebracht hat, spricht als Indiz dafür. Wir hätten uns sehr lange und angeregt unterhalten, meint er noch. Nun denn.
Was ich wohl noch alles vergessen habe? Ist wohl das Beste so, man muss nicht alles wissen...
Sehr langsam und in kleinen Schritten wird meine Tablettendosis verringert. Die Gedanken, die in meinem Kopf auftauchen aus dichten zähen Nebelschwaden, wohl eher Höllendämpfen, sind nicht besonders angenehm, andrerseits ebenso wenig bedrohlich. Sie sind einfach da, kalt und klar, und ich betrachte sie ohne Gefühl.
Das Leben betrügt einen nicht. Es ist an sich Betrug. Ein großer abgefeimter Betrug. Wir werden geboren, ohne gefragt worden zu sein, mit Liebkosungen erdrückt oder vernachlässigt, was macht das groß für einen Unterschied? Früher oder später ereilt uns alle das Schicksal, uns als Ungewollte abgelehnt wiederzufinden, wann und wo auch immer.
Regeln hier, Maßstäbe dort, Vorschriften überall. Beurteilungen bestimmen unser Aufwachsen, beliebig geformte und festgeschriebene Normen schwachsinniger Generationen. Jede Generation ist auf ihre ganz spezielle Weise vollkommen idiotisch, und jede neue wähnt sich klüger als die alte.
Ausgüsse verengter Wahrnehmung fesseln uns, Anpassungsdruck schikaniert uns bis ins Private und Intime. Stereotypen. Abziehbilder. Visionen sind nicht erwünscht, Fragen unbeliebt, eigenes Denken ist gefährlich.
Wo zum Teufel sind die Träume unserer Kindheit geblieben? Verwaschene aufgelöste Gesichter rundum. Alle irgendwann zerbrochen. Als ihr Streben nach Glück und Erfüllung an die Grenzen derer stieß, die weder das eine gefunden noch das andere verwirklicht haben. An die Stacheldrahtzäune von Gescheiterten, die ihre Resignation hinter der Fratze des Reifens und der besseren Einsicht verstecken. Die ihr vorzeitiges Absterben zur Allgemeingültigkeit erklären, nur um ihre Erstarrung vor sich zu rechtfertigen.
Alles, was sucht, strebt, ringt und träumt wird ins Reich der Utopie verwiesen. Wie Geier warten sie darauf, dass der Schrei nach Leben in denen verstummt, die da den Tod im Gewöhnlichen nicht ertragen können. Selbstzufrieden und höhnisch verkaufen sie die kalte Asche ihrer erloschenen Flammen als Frucht der Erfahrung. Ignoranten sind sie, abgefeimte Lügner allesamt, Verräter menschlicher Größe und Schaffenskraft. Leugner des Wunders, das da Leben heißt.
Wie aber begegnet ihnen das Leben? Verwirft es sie, verstößt es sie, bestraft es sie? Was kann es bedeuten, dass sie nicht nur ungeschoren davonkommen, sondern sogar belohnt werden? Mit Erfolg, mit Wohlstand und Ansehen, mit Gesundheit und zu allem Spott einem langen Leben. Sie, die nie gelebt haben, sondern nur den Anschein erweckt. Die vorgeben, bedeutend zu sein und unersetzlich, wichtig und maßgeblich.
Obgleich sie bedeutungsloser sind als ein Gänseblümchen, dessen Blühen Jahr für Jahr die Schöpfung verherrlicht. Sie hingegen verherrlichen nur sich selbst. Die Blume blüht wahrhaftig und rein. Der Unwahrhaftige aber, voll Fäulnis und Moder, blendet. Und erntet reichen Lohn dafür.
Wie aber verfährt das Leben mit denen, die da versuchen, aufrecht und ehrlich zu sein? Die sich selbst in Frage stellen, nicht so wichtig nehmen, die leiden an ihren Unzulänglichkeiten, ihr Leben hinterfragen und Schuldbewusstsein entwickeln und in sich tragen? Die ruhelos sind in ihren Herzen, weil dieses nicht das in sich spürt, was eigentlich sein sollte, was ihnen ursprünglich versprochen ward? Die sich klein fühlen, unfähig und bedeutungslos? Ja, mitunter als Zumutung und Last?
Nun, diese wertvollen, tiefen und wahren Menschen sitzen hier mit mir im Raucherzimmer. Bei Gott, das kann doch nur Betrug sein.
Andrerseits, was bringt einem Geschäftigkeit, Tatkraft und Zielstrebigkeit? Lohnt es sich denn, in irgend einer Führungsposition seine Jahre abzuhaken?
Bei genauer Betrachtung sind die Leute hier drin wesentlich interessanter und ungewöhnlicher als die Masse draußen, die sich ziellos durchs Dasein wälzt. Hier begegnet mir der Mensch, wie er in Wahrheit ist: Hilflos, verletzlich, hoffnungslos, verloren. Nirgendwo sonst fand ich die Wirklichkeit menschlicher Natur derart deutlich und unverblümt widergespiegelt als in der Klapse.
Ich verbringe die Tage, Wochen und Monate im Gleichklang steter Wiederholung. Beschäftigungstherapie, Kunsttherapie, Ci Gong, Kegeln, Entspannungsübungen, Visitationsgespräch, therapeutisches Einzelgespräch, Gruppengespräch, Joggen, Duschen, Zigarettenkauf, Essenszeiten, Ruhephasen, Kirchgänge. Mein Alltag ist ausgefüllt, das Leben ist ein ruhiger Strom.
Zwar toben in meinem Innern unverändert Schmerz und Qual, meine müde Seele wälzt sich her und hin in steter Agonie, gedämpft durch Tavor und Neuroleptika lässt es sich hingegen ertragen. Drei ganze Wochen brauche ich, um aufzuwachen.
So lange hatte ich das Gefühl, hier völlig fehl am Platz zu sein unter all den Depressiven und Psychotikern, da ich mir ja lediglich das Leben nehmen wollte, mir aber ansonsten nichts fehlt. Meine suizidale Absicht erschien mir vollkommen normal, ja banal. Eines schönen Morgens jedoch fahre ich aus dem Schlaf hoch mit dem erschreckenden Gedanken, wirklich und tatsächlich knapp am Tod vorbeigeschlittert zu sein, sogar verdammt knapp.
Nie zuvor war ich ihm so nah.
Ich fand mich verändert. Der Mann, der hier eingefahren war vor drei Wochen, existierte nicht mehr. Mein Entschluss zum Freitod, endgültig und abgeschlossen, setzte in meiner Psyche einen Prozess in Gang, der sich trotz der Vereitlung ungehindert fortsetzte. Da ich willentlich mit dem Leben abgeschlossen hatte und die Tatsache meines Weiterlebens meiner geliebten Frau verdankte, also nicht der Konsequenz einer eigenen Entscheidung, vollzog sich in meinem Innern ein tiefgreifender Sterbeprozess.
Weil ich nun die Phase der Verdrängung, des Zorns und der Trauer bereits vor meinem gescheiterten Versuch hinter mich gebracht hatte, befand ich mich im Zustand permanenter Akzeptanz des eigenen Todes.