Hi,
die von Fee aufgeworfene Frage "...was als krank entschuldigt werden kann und was als Charakterschwäche oder einfach nur Verzogenheit oder Frechheit zu betrachten ist ...." ist natürlich die alles entscheidende, die wir wohl in unserer Generation nicht mehr beantwortet bekommen.
betrachten wir einen härteren Fall: jemand lügt andauernd, stiehlt wo er kann, auch in der eigenen Familie, ist absolut unzuverlässig, bekommt nichts auf die Reihe, betrügt auch seine letzten Freunde. Ist das "Verzogenheit oder Frechheit" oder steckt etwas vielleicht etwas anderes dahinter. Jeder würde das nicht mehr entschuldigen wollen, bei so jemandem ist halt Hopfen und Malz verloren. Doch ist es wirklich so einfach? Die beschriebenen Symptome sind typisch für Süchtige und Alkoholismus ist als Krankheit anerkannt. Wie viele Krankheiten verändert eine Sucht das Verhalten - unseren Charakter - von Grund auf. Ein Süchtiger hat noch Glück, er hat eine "heilbare" Krankheit, die Veränderung seines Charakters ist korrigierbar. Doch es gibt auch weniger Glückliche, deren Krankheit ebenfalls auf einem "Fehler im Hirn(stoffwechsel)" beruht, den man nicht einfach so mit Training korrigieren kann, die bestenfalls durch Verhaltenstraining dahin geführt werden können, daß sie einigermaßen in unserer Gesellschaft zu Rande kommen. Wir wissen viel zu wenig über das, was alles in einem Betroffenen passiert, als daß wir uns ein Urteil über ihn, bzw. sein Verhalten erlauben können. Mit wem ich nicht zurecht komme, dem gehe ich aus dem Weg, aber ich versuche, sein Verwalten nicht zu bewerten. Ich weiß nämlich in den meisten Fällen nicht, was ihn hat so werden lassen und jemandes Verhalten zu bewerten steht mir deshalb nicht zu.
Mir sträuben sich zwar auch immer die Nackenhaare, wenn ich so typische Stammtischparolen über "...Krankheitseinsicht von Zwangsneurotikern und klassischen Borderlinern..." lese, aber so absurd sie auch sind, sie werfen doch ein deutliches Licht darauf, wie über Menschen geurteilt wird, deren Verhalten man mit der eigenen Logik nicht nachvollziehen kann. Genau das, was den "Zwangsneurotikern und klassischen Borderlinern" vorgeworfen wird, nämlich die fehlende Einsicht ist nämlich das Problem derjenigen, die solche Urteile von sich geben. "Was ich nicht verstehe, das kann nur krank oder falsch sein!" Es scheint nicht ausrottbar zu sein, dieses Vorurteil, nicht einmal unter denen, die selbst ein Problem mit sich herumtragen - von den "Normalos" ganz zu schweigen.
Zuletzt möchte ich noch ein paar Gedanken zu "Charakterfehlern" loswerden. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff "Charakter" meist so benutzt, als seien es Grundeigenschaften eines Menschen, die unveränderlich, quasi in Stein gemeißelt seien. Zuerst will ich einmal fragen, was denn der Charakter eines Menschen eigentlich ist. Verallgemeinert sind es seine Reaktionen auf seine Umwelt: wie tritt er auf, wie stellt er sich dar, wie geht er mit anderen um ..... es ist das Resultat aus Erziehung und Erfahrung. Aber das zeigt schon, daß der Charakter eines Menschen nicht festgelegt sein kann. Die Erfahrung, die ständig in unser Verhalten einfließt, verändert also auch unseren Charakter, sprich unser Verhalten. Und ich will auf das obige Beispiel mit dem dem Alkoholiker noch einmal zurückkommen. Er muß nicht als Kind schon so gewesen sein, aber die Abhängigkeit läßt ihn zum Lügner und Dieb werden. Ist er irgendwann lange genug trocken, dann wird er wieder ein völlig anderer Mensch werden, jemand der schon einmal durch die Hölle gegangen ist und das sein Leben lang nicht mehr vergißt. Wir haben in dieser Person mindestens drei total verschiedene Menschen vor uns, die sich derartig unterscheiden, daß ein Außenstehender nicht glauben würde, daß ein Mensch sich sich im Laufe seines Lebens derartig wandeln kann. Da gibt es keine Gemeinsamkeiten, keine grundlegenden, in Stein gehauenen Charaktereigenschaften mehr. Nur eine totale Umwandlung der eigenen Person läßt einen Süchtigen trocken/clean bleiben.
Die letzte Frage von Fee: "Hängt "alles" von unserer Erziehung oder unseren Genen ab oder wieviel Wahlmöglichkeit bleibt einem selber ?" ist für mich die interessanteste, aber die hier zu diskutieren würde von den Rahmen sprengen. Aber ich würde mich über einen gesonderten thread zum Thema freuen.
Grüße