In meinen Augen gibt es Fragen, auf die nur ich selber eine Antwort haben kann. Was habe ich Rotz und Wasser geheult, als ich die Autobiographie von Christoph Schlingensief gelesen habe. Ein Mensch mit dieser Lebenslust, der einfach stirbt - und hier ich, die mit dem Leben nichts anfangen kann. Und dann passierte mir etwas, das ich in meinem Roman verarbeitet habe:
"Am 9. Oktober zwitscherte Steve Ramsey im Netz eine kurze, unauffällige Meldung: "RIP Paul Hunter. Can’t believe it’s seven years ago today that we lost you." Als Belinda das sah, erinnerte sie sich, wie traurig sie damals war, dass er sich im wirklichen Leben nicht zurückkämpfen konnte, wie er es in seinen Spielen immer wieder getan hatte. Es überkam sie jetzt wieder dieses abgrundtiefe Bedauern, dass sie hier saß und mit ihrem Leben haderte, während ein Mensch so voller Lebenswillen und –freude mit Mitte Zwanzig gestorben war. Sie hatte noch das Bild vor Augen, wie der von der Chemotherapie glatzköpfige Paul mit einem strahlenden Lächeln seine neugeborene Tochter hielt und sie musste heulen. Sie fand es so himmelschreiend ungerecht. Ihr kamen diese schwülstigen Formulierungen in den Sinn – mein Leben für seins geben etc. – und dachte im nächsten Augenblick: Dein Leben ist ein so persönliches Geschenk, das du nicht einfach weiterverschenken kannst. Aber dieser Gedanke schien nicht von ihr selbst zu kommen, sie konnte damit einfach nichts anfangen. Wer also sprach da in ihrem inneren Ohr?
Am 10. Oktober wachte sie auf und Paul Hunter war bei ihr, als wäre es das Normalste auf der Welt. Sie setzte sich im Bett auf und schaute ihn an. Er lächelte, als würde er sich gerade irgendeinen Schabernack ausdenken. So hatte sie ihn immer wieder im Fernsehen und auf Fotos gesehen, lachend, scherzend. Und dann sagte er ihr klar und deutlich:
«Es hat keinen Sinn, meinen Tod oder dein Leben zu bedauern. Du bist hier, weil du hierhergehörst. Deine Aufgabe ist es, positive Energie in die Welt zu bringen und damit den Leuten zu helfen, die ich zurückgelassen habe.» Belinda war sprachlos, aber es hätte auch nichts gegeben, was sie hätte sagen wollen. Bevor er wieder verschwand, fragte er noch:
«Hast du denn eine eigene Trauer? Schau immer auf das, was du bekommen hast, was du erleben durftest und nicht auf das, was du angeblich verloren hast.» Das brachte sie wirklich zum Nachdenken. Den ganzen Tag lang stand sie unter dem Einfluss dieser Erscheinung. Jedes Mal, wenn sich ein lebensmüder Gedanke in ihr Hirn schlich, dann sah sie ihn wieder vor sich: langhaarig, lächelnd, lebensfroh. Und sie merkte, wie sie seine Ansage von Mal zu Mal ernster nahm: dass sie hier eine Aufgabe hätte. Und sie fragte sich wirklich, ob sie überhaupt eine eigene Trauer hatte. Es gab mehr und mehr Momente, in denen sie dachte: Vielleicht brauche ich einfach nur etwas ganz anderes. Vielleicht möchte ich mich einfach nur frei und unbelastet fühlen?"
Ich sage mir, das ist nicht das Leben, das mit uns spielt - das IST einfach das Leben. Jeder Mensch muss sehen, was er oder sie damit anfängt.